Forum: Interview mit Silke Hensel (Univ. Münster) zum FID Lateinamerika

Von
Silke Hensel, Universität Münster

Herzlichen Dank an Sie, Frau Hensel, für Ihre Bereitschaft zum Interview über die Fachinformationsdienste (FID). Bereits 2016 haben wir verschiedene Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach sowie aus an FID beteiligten Bibliotheken zu den im Entstehen begriffenen FID-Strukturen befragt <https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-3829>. Wir möchten nach zwei Jahren ein erstes Resümee versuchen und Sie als Professorin für die Geschichte Lateinamerikas an der Universität Münster wie auch als Beiratsmitglied des FID Lateinamerika um eine Einschätzung bitten. Welche Entwicklungen des FID begrüßen Sie und welche schätzen Sie eher kritisch ein?

Silke Hensel: Dem von der DFG ausgegebenen Ziel, Bibliotheken nicht mehr als möglichst umfassende Wissensspeicher der erscheinenden Literatur zu sehen, sondern Literaturkäufe an Interessen von WissenschaftlerInnen zu orientieren, stehe ich weiterhin kritisch gegenüber. Bibliotheken müssen meines Erachtens ähnlich wie Archive auch an mögliche künftig aufkommende Forschungsinteressen denken. Außerdem ist es gerade in solchen Fächern, wie der lateinamerikanischen Geschichte, abhängig von den jeweiligen ForscherInnen, welche Länder im Fokus der aktuellen Forschung stehen. Nicht alle Länder können aufgrund der geringeren Menge an StelleninhaberInnen behandelt werden, wenn aber NachwuchswissenschaftlerInnen ein bisher in Deutschland wenig beachtetes Land in den Blick nehmen wollen, ist es unter dem neuen System nicht gesichert, dass ältere Literatur problemlos nachbeschafft werden kann. Hinzu kommt, dass die Entwicklung von neuen Fragestellungen der Literatur bedarf, die abseits von aktuellen Forschungsprojekten liegt. Wenn diese Literatur nicht in Deutschland zur Verfügung steht, wird es für NachwuchswissenschaftlerInnen schwieriger, sich in dem Feld mit einem eigenen Fokus zu positionieren. Ich sehe also eine gewisse Gefahr der Stromlinienförmigkeit in der Forschung, die durch strukturelle Vorgaben vorangetrieben wird. Da sind die FIDs aber nur ein Baustein unter vielen, und vermutlich ein kleinerer.

Für den FID Lateinamerika kann ich allerdings sagen, dass hinter dem FID ja eine phantastische Bibliothek steht, nämlich das Iberoamerikanische Institut in Berlin, das zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört, weiterhin aus Eigenmitteln Literatur anschafft und eine der größten Bibliotheken zu Lateinamerika weltweit ist. Der FID ist ein sehr willkommener und auch notwendiger Zusatz angesichts der Fülle an Literatur, die in und zu Lateinamerika erscheint. Die projektorientierte Anschaffungspolitik hat dort Vorteile, wo beispielsweise teure Quelleneditionen schnell zur Verfügung gestellt werden können, wenn man sie für ein Forschungsprojekt braucht. Der intensivere Kontakt zwischen dem FID und den Fachcommunities ist deshalb einerseits begrüßenswert, andererseits sehe ich gewissermaßen eine Kehrseite, weil hier eine weitere Aufgabe hinzukommt und ich mich manchmal frage, wann ich eigentlich all die Bücher und Quellen einmal in Ruhe zur Hand nehmen kann. Und auch für die BibliothekarInnen bedeutet der Ausbau der Kommunikation mit den verschiedenen Fachcommunities (bei regionalspezifischen FIDs sind das unter Umständen ziemlich viele) eine zusätzliche Aufgabe, für die Personal benötigt wird. Und, darauf hat Ewald Frie in dem Interview zum FID Geschichte zu Recht hingewiesen, zusätzlich besteht die Gefahr, dass diese Arbeit nicht nachhaltig ist, insofern die Projektorientierung der FIDs durchaus dazu führen könnte, dass ein FID von einer Bibliothek zur nächsten wandert.

Ein Wort zu Beschaffungswegen scheint mir in diesem Zusammenhang auch noch angesagt: die Digitalisierung führt dazu, dass sich die Vorstellung findet, man könne Literatur heute ausschließlich über das Internet beschaffen. Für Lateinamerika ist das mitnichten der Fall. Beschaffungsreisen und der persönliche Kontakt mit Buchhändlern sind dort gerade für die sogenannte graue Literatur und für antiquarische Bestände notwendig.

H-Soz-Kult: Welche Rolle spielt für Sie in Forschung und Lehre das digitale Publizieren? Hat sich vor dem Hintergrund Ihrer Beiratsmitgliedschaft Ihr Nutzungsverhalten in Bezug auf elektronische Ressourcen (Literatur und Fachdatenbanken) geändert?

Silke Hensel: Das digitale Publizieren wird immer wichtiger. In Lateinamerika entstehen viele Zeitschriften als reine online-Zeitschriften, andere altehrwürdige, wie etwa die Historia Mexicana (vergleichbar der HZ) stellen mittlerweile nicht nur ihre aktuellen, sondern auch die rückwärtigen Jahrgänge im open access digital zu Verfügung. Auch für mich selbst ist digitales Publizieren mittlerweile schon fast Alltag. Seit zwei Jahren habe ich die Schriftleitung beim Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas inne. Die Zeitschrift erscheint seit 2017 ausschließlich digital im open access.

Das digitale Publizieren und open access sind stark miteinander verbunden. Ich sehe allerdings hier nicht nur die schöne neue Welt des unbegrenzten Zugangs zu wissenschaftlichen Studien. Kürzlich kursierte in der Presse die Kritik an sogenannten Raubverlagen. Auch wenn mir diese Kritik teilweise etwas aufgebauscht erschien – wobei ich anmerken möchte, dass solche Verlage in der Geschichtswissenschaft vielleicht eine geringere Rolle spielen –, so hängt diese Entwicklung m.E. auch mit der Digitalisierung zusammen. Ein online-Magazin ist eben schneller gemacht. Natürlich spielen weitere wissenschaftspolitische Aspekte eine Rolle. Etwa der Zwang zu publizieren, schon für DoktorandInnen; eine Entwicklung, die ich ebenfalls mit Sorge betrachte, weil es den Druck auf NachwuchswissenschaftlerInnen stark erhöht, Zeit zum Nachdenken ist mittlerweile das höchste und vor allem knappste Gut. Aber die Publikationsmenge spielt ja für alle eine wichtige Rolle – da hat die Initiative der DFG vor einigen Jahren nicht viel ändern können. Wenn nun die AutorInnen für die Veröffentlichung zahlen müssen und nicht mehr die LeserInnen für die Zeitschriften, dann liegt es nahe, dass die Zahl der Publikationen ansteigt. Ich kenne natürlich das Argument, dass Wissenschaft von den SteuerzahlerInnen finanziert wird, und deren Ergebnisse deshalb allen zugänglich sein müssen. Das finde ich auch, es war aber schon früher der Fall, wenngleich mit etwas mehr Umständen – nämlich einem Bibliotheksbesuch verbunden. Bei der Debatte um open access wird außerdem häufig vergessen, dass irgendjemand die Arbeit machen muss, und dass es auch Geld braucht für die Infrastruktur einer digital publizierten Zeitschrift.

Im Hinblick auf die Internationalität der Forschungslandschaft ist es außerdem nicht erstrebenswert, die Publikation von Forschungsergebnissen zu berechnen. Das können sich WissenschaftlerInnen aus ärmeren Ländern nicht bzw. nur in geringerem Maße leisten, so dass ihre Stimme durch open access nicht unbedingt ein größeres Gewicht erhält, jedenfalls nicht in den Medien, die in den USA und Europa als relevant angesehen werden.

Mein eigenes Nutzungsverhalten im Hinblick auf elektronische Ressourcen hat sich sicherlich in den letzten Jahren auch durch die Beschäftigung mit dem FID geändert, weil ich dabei einiges gelernt habe über neue Möglichkeiten der Literatur- und Quellenrecherche bzw. den Volltextzugang. Der Kontakt mit den BibliothekarInnen am IAI ist immer wieder sehr hilfreich.

Hinzu kommt auch hier wieder, dass in Lateinamerika viele Institutionen (Archive, Bibliotheken und Universitäten) Quellenbestände digitalisiert haben und im open access zur Verfügung stellen. Auch von US-Institutionen werden viele Quellenbestände digitalisiert ins Netz gestellt, leider sind die aber nicht immer von Deutschland aus zugänglich.

In der Lehre helfen solche Angebote, weil viele Studierende im Netz unterwegs sind und dort auch Literatur und Quellen recherchieren – aber hier taucht dann wieder das Problem der Beurteilung der herangezogenen Literatur auf, weil eben vieles im Netz kursiert, das keine Qualitätskontrolle durchlaufen hat. Leider sind Bibliotheken ein wenig aus der Mode gekommen. Da ist es dann gut, wenn viele spezialisierte, gute Angebote bestehen. Gerade für Studierende bietet sich über die Digitalisierung von Quellenbeständen die Möglichkeit, forschend zu lernen. Das ist ja angesichts der Entfernungen und Kosten einer Lateinamerikareise nicht so einfach. Ich frage mich allerdings, inwiefern die digitalen Angebote unser Verständnis von Archiv und der Fülle von Überlieferungen verändern, weil keine Findbücher mehr gewälzt werden müssen. Das ist zwar mühselig, gibt einem aber doch auch einen Überblick über den Bestand eines Archivs über die eigenen Interessen hinaus und kann manchmal interessante Wege eröffnen. Die Digitalisierung von Archivbeständen erfordert darüber hinaus auch eine intensive Beschäftigung mit der Frage, wie nach Material zu suchen ist. Und die Suche in digitalisierten Archivbeständen oder Repositorien empfinde ich ebenfalls als manchmal mühselig, weil es nicht immer einfach herauszufinden ist, ob man wirklich richtig gesucht hat, oder die wichtigsten Dinge zum Thema zwar irgendwo sind, man aber den Weg dorthin nicht entdeckt hat.

H-Soz-Kult: Eine der großen Befürchtungen im Vorfeld des Umstiegs von den SSG auf die FID war, dass die „umfassende Erwerbung von Literatur“ zum Erliegen kommen würde. Nun steht allerdings in Lateinamerika ein weitaus höherer Anteil der Forschungsliteratur im Open Access zu Verfügung; wie stellt sich für Sie derzeit die Zugänglichkeit zu Forschungsliteratur dar?

Silke Hensel: Für Zeitschriften trifft dies sicher auch für die Geschichtswissenschaft zu, bei Büchern sieht es hingegen anders aus. Die meisten Bücher werden in Lateinamerika jedenfalls in der Geschichtswissenschaft noch analog veröffentlicht. Außerdem erscheint auch immer noch viel so genannte „graue Literatur“, die für bestimmte Fragestellungen relevant werden kann. Den Zugang zur Forschungsliteratur würde ich für mich selbst als sehr gut bezeichnen. Das liegt daran, dass es wie ausgeführt das IAI in Deutschland gibt und auch daran, dass ich vorwiegend zu Mexiko und Argentinien forsche – beide Länder verfügen über eine gute Forschungs- und Verlagslandschaft und der FID hat bisher zu beiden schwerpunktmäßig Literatur beschafft. Ohne das IAI wäre der Forschungsalltag sehr viel schwieriger. Trotzdem kommt es vor, dass ich Spezialliteratur brauche, die in Deutschland nicht erhältlich ist. Dann kann ich zwar eine Bitte um Anschaffung an den FID richten, aber das dauert natürlich, bis das Buch tatsächlich da ist.

H-Soz-Kult: Eine weitere, oft geäußerte Kritik an den FID bezieht sich auf das Risiko überhöhter Preise bei den FID-Lizenzen für Fachdatenbanken oder elektronisch verfügbare Literatur und damit verknüpft der Einengung des Nutzerkreises auf ausschließlich die "Spitzenforschung" – was in einem Ausschluss von z.B. Studierenden münden würde; welche Erfahrungen haben Sie in der Lehre im Umgang mit digitalen, kostenpflichtigen Angeboten gemacht?

Silke Hensel: In der Lehre tatsächlich keine, weil ich bisher das Glück hatte, dass für die kostenpflichtigen Fachdatenbanken, die ich genutzt und den Studierenden für bestimmte Fragestellungen empfohlen habe, Nationallizenzen bestehen. Ich weiß auch von keinen Fällen, wo jemand nicht an Literatur kam, weil die Lizenz auf wenige LeserInnen beschränkt war. Die Problematik der Lizenzgebühren ist allerdings meines Wissens noch keineswegs geklärt.

Die Kommerzialisierung des Marktes wissenschaftlicher Fachinformationen scheint mir ein problematischer Trend zu sein, bei dem sich unter anderem die Frage nach internationalen Ungleichheiten stellt. Die Konzentration von Verlagen und deren Versuch, mit dem Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen möglichst viel Geld zu verdienen, vermittelt sich ja gerade in der Auseinandersetzung zwischen deutschen Universitäten und Elsevier. Diese Kommerzialisierung schränkt die potentiellen Möglichkeiten des digitalen Zugangs zu Fachinformationen wieder ein, indem die rechtlichen Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass sie den Verwertungsinteressen der Verlage entgegenkommen und nicht unbedingt den Interessen aus Forschung und Lehre.

H-Soz-Kult: Als Beiratsmitglied kommt Ihnen natürlich die Aufgabe zu, den Nutzerbedarf der "Community" zu formulieren - Wie bringen Sie Ihre Expertise konkret ein? Sehen Sie spezifische Anforderungen an einzelne FIDs (z.B. Geschichte vs. Lateinamerika) und gegenüber anderen Online-Angeboten in den Geschichtswissenschaften, und welche Wünsche und Vorschläge knüpfen Sie an die Weiterentwicklung der FIDs?

Silke Hensel: Der FID Lateinamerika, Karibik und Latino Studies hat mehrere interdisziplinäre Workshops veranstaltet. Dies ist eine gute Möglichkeit über die Wünsche aus den Fachcommunities zu diskutieren. Und als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats bin ich auf den jährlichen Sitzungen ebenfalls in die Diskussionen involviert. Allerdings gilt es da, die eigene Rolle etwas zu relativieren, denn letztlich spreche ich zwar als Vertreterin der Geschichtswissenschaft, bringe aber immer auch eine persönliche Perspektive ein. Da ist dann vielleicht schon ein Webfehler der Anforderung an die FIDs identifiziert: nämlich die Problematik, wer soll und kann für eine ganze Fachcommunity sprechen und wer entscheidet dies?

Es hat im Vorfeld einige Auseinandersetzungen um den Zuschnitt der FIDs gegeben und ein Vorschlag sah vor, keine auf Regionen bezogenen FIDs einzurichten. Ein Bedenken war, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dass ein regionaler Zuschnitt eher landeskundlich orientiert wäre, und nicht die Spitzenforschung im Blick haben könnte. Diese Argumentation ist allerdings zum Glück nicht akzeptiert worden. Es kommt ja letztlich keine historische Forschung ohne konkrete Orte aus. Ich bin deshalb froh, dass dies nicht umgesetzt wurde. Denn so bleibt das IAI Ansprechpartner und gerade angesichts der zunehmenden Inter- bzw. Transdisziplinarität ist dies begrüßenswert. Hinzu kommt, dass BibliothekarInnen für die einzelnen Weltregionen auch bestimmte Kompetenzen mitbringen müssen, um eine sinnvolle Anschaffungspolitik zu betreiben – die Sprachkompetenz steht da ganz vorne. Aber auch persönliche Kontakte zu Lieferanten in der jeweiligen Region dürften einen nicht zu unterschätzenden Aspekt darstellen. Angesichts der Digitalisierung vergisst man manchmal, wie gut und fruchtbar die direkte Kommunikation mit Menschen sein kann.

Für die unterschiedlichen FIDs besteht sicher die Herausforderung, etwaige Überschneidungen zu identifizieren und entsprechend damit umzugehen. Meines Wissens geschieht dies aber auch. Das ist allerdings auch wieder eine zusätzliche Aufgabe für die Bibliotheken, für die Zeit – und das heißt letztlich Personal notwendig ist.