Historikertag 2018: Digitale Geschichte

Von
Maik Fiedler, Georg-Eckert-Institut - Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung

Besprochene Sektionen:

Fachinformation für die Forschung: gedruckt, digital, hybrid?

Forschungsdaten: rechtliche Herausforderungen und wissenschaftliche Reputation. Forschungsdatenmanagement als Bestandteil einer neuen Wissenschaftskultur

Quo vadis Quellenkritik? Digitale Perspektiven

Digital Humanities in der Analyse gespaltener Gesellschaften – Beispiele aus der Praxis

Für Skeptiker und Enthusiasten: Was ist und zu welchem Ende nutzt das ›Digitale‹ in den Geschichtswissenschaften?

Die Digitalen Geschichtswissenschaften präsentierten sich auf dem Historikertag 2018 in Münster in verschiedenen Formaten. Dieser Bericht fasst die wichtigsten Themen aus fünf explizit „digitalen“ Fachsektionen zusammen. Anschließend werden die wichtigsten Diskussionspunkte noch einmal benannt und gefragt, inwiefern sich digital arbeitende HistorikerInnen heute als von den „klassischen Geschichtswissenschaften“ (ab)gespaltene Gesellschaft verstehen (müssen).

Die von THOMAS MEYER (Berlin) und GREGOR HORSTKEMPER (München) geleitete Sektion widmete sich den Fachinformationsdiensten als DFG-geförderte Forschungsinfrastrukturen. Sie lösten seit 2014 sukzessive die Sondersammelgebiete (SSG) ab und hatten sich dabei auch strukturell neu auszurichten. Horstkemper stellte eingangs Ziele und Angebote des FID Geschichtswissenschaft1 vor. Dies sind insbesondere die semiautomatische Sacherschließung, die Einführung einer Vorrangstellung digitaler Publikationsformen (e-only-policy), der geplante Ausbau der Datenbankenbasis sowie die Planungen zur Erleichterung des Zugangs zu (relevanten) Volltexten und digitalisierten unikalen Quellen. Gleichzeitig betreibt der FID einen vom Medienformat unabhängigen Bestandsaufbau und will damit sowohl den Niveauabfall im Vergleich zu den früheren, für die Sammlungstätigkeit besser finanzierten SSG abbremsen und zugleich der nach wie vor starken Nachfrage nach Gedrucktem Rechnung tragen. Um spezifische Forschungsfragen auch weiterhin unterstützen zu können, wurde darüber hinaus das „Wunschbuch“ 2 ins Leben gerufen, das eine Kompensation für unzureichend bediente Bestände ermöglichen soll. Mittelfristig wird das deutlich geringere Budget aber wahrscheinlich doch zu einem deutlichen Qualitätsverlust in der Breite führen. EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) interpretierte die aktuelle Gemengelage dahingehend, dass die FIDs in erster Linie eine engere Verbindung der Informationszentren und Bibliotheken zur Fachcommunity herstellen sollen. Ihrer Ansicht nach wird derzeit die Bedeutung des (zentralen) Sammelns generell unterschätzt. Aktuell entstehende „born digital“ Quellen würden deshalb für die HistorikerInnen von morgen verloren gehen. Darüber hinaus sei eine Verschränkung des Analogen mit dem Digitalen die Idealform, da das Buch weiterhin das einzige barrierefreie Medium der Welt sei. Forschungsliteratur und Quellen sollten stärker miteinander verbunden werden, um so eine neue nutzerorientierte Wissensordnung im digitalen Raum zu etablieren. ALMUT BREITENBACH (Göttingen) stellte den FID „Anglo-American Culture“ vor, dessen größte Herausforderung die Interdisziplinarität der Zielgruppe sei. Dieser Heterogenität wird mit einer Digital Research Web-Anleitung zum richtigen Umgang mit Quellen und Forschungsdaten im digitalen Arbeitsalltag begegnet. RÜDIGER HOHLS (Berlin) lobte diese Handreichung, zumal viele Forschende vor der neuen Unübersichtlichkeit der möglichen Recherchewege kapitulierten. Er kritisierte aber die fehlende Antizipation der FIDs für die Zukunft, um selbst Impulse setzen zu können. JOHANNES FOURNIER (Bonn) sah die FIDs dagegen als Innovationstreiber und zog eine positive Bilanz der Umstrukturierung der Förderlinien. Herauszuheben ist überdies seine Aussage, dass Lizenzen nicht den Nutzerkreis definieren dürfen, da sonst interdisziplinäre Arbeit nicht mehr möglich sei. Um dies nachhaltig zu gewährleisten, kündigte DFG-Vertreter Fournier an, dass die gewünschte dauerhafte Finanzierung umgesetzt werden würde. Die abschließende Diskussion im Plenum betraf dann die Zweckmäßigkeit der FIDs im Allgemeinen und brachte erstaunlicherweise reichlich Kritik aufs Tableau. Zwar war man sich einig darüber, dass das Sammeln im Sinne der SSGs im digitalen Zeitalter nicht mehr ausreiche. Klagen über das schlechte Verhältnis von Aufwand und Ertrag, mangelhafte Bedarfsermittlung und fehlende Einbindung der Fachcommunities ließen aber Zweifel daran aufkommen, ob die FIDs die dynamischen Wandlungsprozesse der Digitalisierung auffangen und im Sinne einer Neukonfiguration des wissenschaftlichen Arbeitens umzusetzen im Stande sind.

Die von KATRIN MOELLER (Halle-Wittenberg) geleitete Sektion bot dem Auditorium zwei Vorträge und eine Podiumsdiskussion. Der Ausfall des Beitrages zu Lizenzmodellen und rechtlichen Herausforderungen von Forschungsdaten beraubte die Sektion einer wichtigen Facette der Forschungsdatendebatte. Im Zuge ihrer allgemeinen Einleitung forderte MARINA LEMAIRE (Trier) die Etablierung einer neuen Forschungsdatenkultur und gab der Sektion damit eine deutliche Richtung vor. Sie verwies dabei vor allem auf die immer gleichen Diskussionen um das Zeitmanagement bei der Dokumentation von Forschungsdaten. Diese würden (bislang) zu kleinteilig geführt und hätten kaum Handlungsempfehlungen nach sich gezogen. Überdies monierte Lemaire die Fixierung der Debatte auf die Bedenken der klassisch arbeitenden HistorikerInnen bezüglich Mehrwertes und -aufwands des Forschungsdatenmanagements. Sie forderte eine Loslösung von dieser Skepsis, um endlich Fortschritte machen zu können. PATRICK SAHLE (Köln) knüpfte in seinem Beitrag hier an und versuchte Forschungsdaten in den Geschichtswissenschaften stärker zu differenzieren. Eine Anpassung an den Medienwandel sei zwingend. Sahles grundlegende Botschaft war, dass ein verändertes Fundament der Arbeitsweisen auch ein neues Wissenschaftssystem nach sich ziehen müsse. Dieses System müsse Daten als genuine Forschungsleistungen anerkennen, Maßnahmenkataloge und Standards zur Qualitätssicherung bereitstellen, eine fortlaufende Kuration der Daten festschreiben sowie die Nachnutzung der Daten als Dialog ausgestalten. Die derzeit ungelösten Herausforderungen im Umgang mit Forschungsdaten ließen sich nur durch resolutes Vorantreiben von Formierungsprozessen, die Durchsetzung der FAIR-Prinzipien3, einer aktiven Ausgestaltung der geplanten „Nationalen Forschungsdateninfrastruktur“ (NFDI)4 und institutioneller Datensouveränität erreichen. Moeller versuchte in ihrem Beitrag, das – im DH-Bereich vor dem Hintergrund der Interdisziplinarität bereits weitestgehend etablierte – Verfahren des gemeinschaftlichen Publizierens auf die Geschichtswissenschaften zu übertragen. Sie vertrat die Idee – vorausgesetzt, dass das Publizieren von Daten wie das Veröffentlichen von Texten allgemeine Gültigkeit erlange – eine funktional getrennte Datenautorenschaft zur Formung einer facheigenen Forschungsdatenkultur zu etablieren. Die zugehörige Diskussionsrunde machte aber schnell deutlich, dass die digitalen Geschichtswissenschaften noch zu sehr in einer Findungsphase sind, als dass zielgerichtete Vorschläge wie der Moellers, zeitnah breitenwirksam zur Entfaltung kommen könnten. Das wohl größte Problem bei der Sensibilisierung für das Forschungsdatenmanagement innerhalb der Geschichtswissenschaften scheint allerdings in der fehlenden Wertschätzung des Nutzens von Forschungsdaten begründet zu sein. Große Teile der Forschung haben kein Interesse am Management von Daten, da dies einen vermeintlich ungerechtfertigten Mehraufwand bedeutet. Digital arbeitende Geschichtswissenschaften benötigen jedoch möglichst komplette, repräsentative sowie saubere Daten und haben somit ein genuin stärkeres Interesse am Forschungsdatenmanagement. Ein automatisches Dokumentationstool für Forschungsdaten, wie es einzelne Diskutanten aus dem Auditorium wünschten, würde die Etablierung im Arbeitsprozess aller HistorikerInnen gewiss leichter machen, doch meint Dokumentation von Forschungsdaten in erster Linie die Etablierung von stets geltenden Prozessen und Standards. Dafür ist nicht zuletzt auch ein Wandel der Denkweisen weg von einer ergebnisorientierten und hin zu einer prozessorientierten Historiographie zwingend notwendig.

Die Sektionsleiter des gut besuchten Panels Zur Quellenkritik, FRANK BISCHOFF (Duisburg) und KIRAN PATEL (Maastricht), nahmen in ihrer Einführung insbesondere drei Themen in den Blick: den Umgang mit und den Zugang zu digitalen Quellen in Archiven, die Stellung der historischen Hilfswissenschaften und den mangelnden Dialog zwischen Datensammlern und -auswertern. ANDREAS FICKERS (Luxemburg) regte anhand des Beispiels der geleakten E-Mails von Hilary Clinton eine neue digitale Quellenkritik an, welche die Feststellung der Integrität (statt Authentizität) von Quellen vor dem Hintergrund ihrer medienwandelbedingten Mutation ermöglichen soll. NICOLA WURTHMANN (Wiesbaden) pflichtete Fickers in ihrem Beitrag bei. Sie forderte von Archiven die Entwicklung einer digitalen Grundwissenschaft, um quellenkritische Analysen von born digitals zu gewährlisten. Auch CLEMENS REHM (Stuttgart) bemängelte die geringe Verknüpfung von Forschung und Archivwesen. Es gälte die historischen Grundwissenschaften zu erweitern und deren Vermittlung in Praxis und Ausbildung wieder zu intensivieren. CHRISTOPH SCHMIDT (Münster) beschrieb die archivarischen Herausforderungen im Umgang mit digitalen Verwaltungsquellen. Der technische Fortschritt gefährde in Form von Document Management Systems die Lesbarkeit alter Datenbestände. Archivarische Strategien umfassen daher die Bestandserhaltung, die Dokumentation der Datenkonvertierung sowie die Sicherstellung der Datenintegrität. Auch ANDREA HÄNGER (Koblenz) sprach sich dafür aus, den Dialog zwischen NutzerInnen und Archiv zu intensivieren. Bestände seien bislang bestenfalls schaufensterartig durchsuchbar. Die Forschung liefe durch einen eindimensionalen digitalen Zugang Gefahr, nur noch fragmentarisch geltende Ergebnisse auf Grundlage ausgewählter volltexterschlossener Digitalbestände zu produzieren. FRANK ENGHAUSEN (Heidelberg) forderte kollaborativ entwickelte Digitalisierungsstrategien, um Synergieeffekte zu erzielen und die Digitalisate breitenwirksam nachnutzbar zu machen. Die anschließende Diskussion thematisierte weitere archivarische Herausforderungen wie Urheber- und Persönlichkeitsrechte im Zuge zeithistorischer Forschung, die Zusammenarbeit mit Unternehmen, Datenarchäologie sowie Authentizitätsfeststellung, spartenübergreifende Standardisierungsinitiativen und immer komplexer werdende XML-Strukturen. Tatsächlich ist die Tendenz kritisch zu sehen, aufgrund von finanziellen und personellen Engstellen analoge Bestände nicht in voller Breite, sondern nur mit thematischen Schwerpunkten zu digitalisieren. Es besteht zwar kaum Gefahr, dass eine thematische Engstellung der digitalen nationalen Bestände die Geschichtsschreibung stärker zurück zu einer ungewollten Nationalgeschichtsschreibung schieben könnte. Letztlich sollte die Forschung aber weniger durch Archive gesteuert, sondern vom Forschenden ausgehen und nicht durch die „googlebaren“ Bestände getrieben werden.

Die von TORSTEN HILTMANN (Münster) und MAREIKE KÖNIG (Paris) geleitete Sektion stellte Anwendungsbeispiele aus der Praxis in den Mittelpunkt. Katrin Moeller stellte ihre Vergleichsuntersuchung zu frühneuzeitlichen Erwerbsbiografien vor und arbeitete den Nutzen der „Ontologie historischer, deutschsprachiger Berufs- und Amtsbezeichnungen“ für die Analyse heraus. Moeller konnte so unter anderem nachweisen, dass komplexe Tätigkeiten gesamtgesellschaftlich im Zeitverlauf kontinuierlich in einfachere Hilfskrafttätigkeiten aufgesplittet wurden. JENNIFER BLANKE (Wolfenbüttel) und THOMAS RIECHERT (Leipzig) untersuchten mithilfe von Semantic-Web-Technologie und Ontologie-Abfragen die Relevanz gesellschaftlichen Einflusses auf Gelehrtenkarrieren in der Frühen Neuzeit. Das laufende Projekt erlaube inhaltlich zwar erst Tendenzaussagen, die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen HistorikerInnen und InformatikerInnen könne jedoch bereits als beispielhaft gelten. Auch KAREN BRUHN (Kiel) nutzte Semantic-Web-Technologie, um den gesellschaftlichen Stand in die Analyse von Kieler Professorenkarrieren in der NS- und Nachkriegszeit mit einzubeziehen. Bruhns Beispiel zeigt zudem Probleme der aktuellen Reputationsökonomie auf, denn eine Dokumentation des methodischen Vorgehens ist zwar obligatorisch, doch technische Erläuterungen und Forschungsdaten sind kein Bestandteil einer Qualifikationsschrift. CHRISTOPH RASS (Osnabrück) brachte in seiner Präsentation klassische Datenbanken und das Potenzial von „Geographic Information Systems“ (GIS) zusammen. Mithilfe von zeiträumlichen Analysen von Flucht- und Gewaltmigration werden Bewegungsmuster sichtbar. Um GIS-Darstellungen in der Fachcommunity als Analysewerkzeug zu etablieren, fehle es aber noch an einer ausgearbeiteten historischen Methodik. KERSTIN SCHWEDES (Braunschweig) stellte anhand eines Schulbuchkorpus Erinnerungskulturen aus verschiedenen nationalen Blickwinkeln auf weltgeschichtliche Ereignisse vor. Die für das Projekt Worldviews5 entwickelte Editionsinfrastruktur ermöglicht es, Forschungsdaten strukturiert und nachnutzbar zu veröffentlichen. TORBEN IBS (Leipzig) lieferte einen methodischen Werkstattbericht zur Historischen Diskursanalyse mit CAQDAS sowie AtlasTI und zeigte so, dass eine autodidaktische Herangehensweise automatisch eine starke Methodenreflexion nach sich zieht. Die übergreifende Diskussion hob wiederholt das Problem der prozessualen Dokumentation hervor. Im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis sollten zumindest die genutzten Tools und Algorithmen als Teil der Forschungsarbeit dokumentiert werden, um ein Mindestmaß an Transparenz zu gewährleisten. Eine detaillierte Prozessdokumentation sei nach Aussagen von FachdidaktikerInnen und PädagogInnen jedoch nicht durchführbar, da der historische Denkprozess nicht abstrahierbar ist. Nicht zuletzt wurde der Stand der Rückführungen angereicherter digitaler Quellen und Daten an Repositorien oder Archive bemängelt.

In der Sektion „Für Skeptiker und Enthusiasten: Was ist und zu welchem Ende nutzt das ›Digitale‹ in den Geschichtswissenschaften?“ wurden die Themen Methodenreflexion, historische Evidenzproduktion, Leistungsfähigkeit digitaler Methoden und das Forschungsdatenmanagement näher diskutiert. 6 Im Vergleich zu den vorangegangenen schwerpunktmäßig mit Digitalität befassten Sektionen wurde der aktuelle und zukünftige Einfluss des Digitalen auf die Geschichtswissenschaften noch stärker seziert beziehungsweise antizipiert. Markant war die These, dass ein striktes, formal explizites und präzises digitales Arbeiten und der Zwang, den Analyseprozess beschreiben zu müssen, automatisch zu neuen Einsichten führe. Diese Entwicklung bezeichnete Hiltmann als den eigentlichen Wandel in der Evidenzproduktion. Überdies wurden diverse Lösungsvorschläge in die Diskussion eingebracht und auf ihre Tauglichkeit geprüft. Zur besseren Durchsetzung des Forschungsdatenmanagements zur Unterstützung der Dokumentationspflicht im Rahmen der geplanten NFDI wurde beispielsweise ein Vier-Säulen-Modell7 durch CHRISTIAN THOMAS (Berlin) zur gemeinsamen, fachwissenschaftlich informierten Arbeit an und mit Forschungsdaten vorgeschlagen. Andreas Fickers propagierte wiederum die Anreicherung der klassischen historischen Hermeneutik durch eine digitale Hermeneutik (Algorithmus-, Daten-, Werkzeug-, Interface- und Simulationskritik). In der Sektion wurde nicht zuletzt deutlich, dass die Zunft der HistorikerInnen sich endlich als geschlossene Einheit den diffizilen Herausforderungen des digitalen Wandels stellen muss: aktive Anpassung des Methodenkanons und der Forschungsinfrastrukturen, Etablierung transdisziplinärer Standards und Forschungsdatenmanagement.

Neben diesen fünf Sektionen fanden sich im Rahmenprogramm des Historikertags 2018 eine Reihe weiterer Veranstaltungen mit digitaler Ausrichtung, und zwar in deutlich größerem Ausmaß als 2016. So gab es eine Twitter Lounge und eine Veranstaltung zum wissenschaftlichen Bloggen. Während „Europeanas Transcribathon“ auf großen DH-Konferenzen bereits zum Standard gehört, konnten HistorikerInnen in Münster nun erstmals kollaborativ an der virtuellen Bibliothek arbeiten. Elementare Einstiegsmöglichkeiten in die DH wurden auch in einem Workshop zum Programmieren für HistorikerInnen, vier Spotlight-Sessions8 sowie sieben kompakten Hands-On-Workshops offeriert9. Das Praxislabor bot wie gewohnt Raum zur Vorstellung digitaler Projekte in Form von Postersessions. Überdies wurde regionalen Archiv- und Internetportalen Nordrhein-Westfalens in einer eigenen Sektion Raum zur Vorstellung gegeben.

Anders die nicht explizit als „digital“ ausgewiesenen Sektionen des Historikertages 2018. Meiner Einschätzung und stichprobenhaften Überprüfung nach boten sie dem Fachpublikum kaum Hinweise auf möglicherweise eingesetzte digitale Methoden. Entweder arbeiten alle anderen HistorikerInnen also tatsächlich nur auf klassisch-etablierte Weise oder sie scheuten sich ihre Vorgehensweise zu thematisieren. Mögliche Gründe hierfür könnten Unverständnis im Auditorium, allgemein fehlende Akzeptanz in der Community oder das vermeintliche Unvermögen zur Herstellung von methodischer Transparenz beim Hörer sein. Die Sektion „Rechtfertigungen und Anfechtungen des Kapitalismus 1850-2008“ beispielsweise wäre aufgrund der Nähe von Wirtschaftsgeschichte und statistischer Erschließung geradezu prädestiniert für die Anwendung digitaler Tools gewesen. Manch eine/r mag einwerfen, dass es in diesem Panel um Analysen von Biographien mit wirtschaftshistorischem Stellenwert ging. Doch wie das Panel zu Praxisbeispielen aus der DH zeigte, sind biographische Lebenswege auch hier expliziter Gegenstand des Interesses. Dies soll keine Bewertung der verschiedenen Vorgehensweisen sein, aber doch als Appell für mehr Mut zur Nutzung und Thematisierung digitaler Ansätze in allen Bereichen der Geschichtswissenschaften verstanden werden.

Der „Mut zur Veränderung“ wäre auch als Überschrift einer Zusammenschau der sich 2018 in Münster manifestierten Entwicklungstendenzen der (deutschen) digitalen Geschichtswissenschaften zu wählen. Die Disziplin kann nur in der Breite gewinnen, wenn digitale Analysekomponenten im Arbeitsprozess nicht rundheraus abgelehnt, sondern adaptiert und eingesetzt werden. Neue Publikationsformate würden die sich stärker ausdifferenzierenden Ansprüche an historische Forschungsprozesse und -ergebnisse besser abdecken. Eine größere Wertschätzung für Forschungsdatenmanagement und Methodendokumentation, die sich auch in Dauerstellen und Reputationsgewinn manifestiert, würde nicht nur mehr Nachhaltigkeit und Grundlagen für neue Forschungsfragen generieren, sondern auch den „wissenschaftlichen Nachwuchs“ hinsichtlich des Einsatzes von digitalen Methoden motivieren. Die Erweiterung des Methodenkoffers durch eine digitale Hermeneutik kann nur zu mehr Transparenz führen. Kollaborative und interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe kann nicht nur neue Wege des Erkenntnisgewinns aufzeigen, sondern auch dabei helfen, die seit längerem bestehende Rückständigkeit der deutschen (digitalen) Geschichtswissenschaften im internationalen Vergleich zu beseitigen. Archive, Bibliotheken und Museen sind zwar Vorreiter der Digitalisierung. Sie gehen, meiner Ansicht nach, aber noch nicht weit genug. Die Bereitstellung digitalisierter Bestände muss insgesamt stärker standardisiert und auf ein gemeinsames Level gehoben werden, um digital unterstützte Analysen zu erleichtern und nicht zu behindern. Es ist zu hoffen, dass die NFDI ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist.

Insgesamt ist innerhalb der immer noch überschaubaren Gruppe deutschsprachiger „Digital Historians“ nach einer Konsolidierungsphase der fachlichen Selbstfindung nun eine deutliche Tendenz weg vom Experimentieren und hin zu echter empirischer Forschung spürbar. Dies ist etwa daran festzumachen, dass im Gegensatz zum Historikertag 2016, bei dem noch die Methoden im Vordergrund standen, 2018 die Praxis und die Umsetzung der Methoden wichtiger waren. Dennoch, obwohl die meisten „digitalen“ Veranstaltungen recht gut besucht waren, musste aufmerksamen BesucherInnen doch auffallen, dass sich Podium und Auditorium mehrheitlich immer wieder aus demselben Personenkreis zusammensetzten, was immer noch auf eine – insbesondere inhaltlich – vom historiographischen Mainstream abgespaltene „digitale Wissenschaftsgesellschaft“ hinweist. Um diese Spaltung zu beenden und die Sichtbarkeit und Akzeptanz digitalhistoriographischer Forschung in den Geschichtswissenschaften zu erhöhen, schlage ich abschließend für den Historikertag 2020 in München eine Aufteilung der „digitalen“ Praxisbeiträge auf inhaltliche Fachsektionen vor.

Anmerkungen:
1 Vgl. https://beta.historicum.net/home/ (28.11.2018)
2 Vgl. https://beta.historicum.net/services/wunschbuch/ (28.11.2018)
3 Vgl. http://www.forschungsdaten.org/index.php/FAIR_data_principles (28.11.2018)
4 Vgl. https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Pressemitteilungen/pm2018-13.pdf (28.11.2018)
5 Vgl. http://worldviews.gei.de/ (28.11.2018)
6 Siehe auch: Tagungsbericht: HT 2018: Für Skeptiker und Enthusiasten: Was ist und zu welchem Ende nutzt das ›Digitale‹ in den Geschichtswissenschaften?, 25.09.2018 – 28.09.2018 Münster, in: H-Soz-Kult, 16.11.2018, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7960>. (28.11.2018)
7 Diese sind Bibliotheken und Archive, Infrastruktureinrichtungen, Fachwissenschaft und Rechenzentren.
8 „Semantic Web in den Geschichtswissenschaften“; „Text Mining in den Geschichtswissenschaften“; „Visualisierung von Daten in den Geschichtswissenschaften“ sowie „Neue Publikationswege für die Mittelalterforschung – Das Projekt AMAD“.
9 „historicum.net: Rechercheangebote und digitale Services des Fachinformationsdienstes Geschichtswissenschaft“; „Deutsche Historische Bibliografie: Recherche, Mitwirkung, Weiterentwicklung“; „Qualitative Inhaltsanalyse mit MAXQDA: Ein Einblick in die Anwendung qualitativer Methoden in den Digital Humanities“; „Daten säubern, aufbereiten und georeferenzieren mit OpenRefine“; „Texterkennung mit OCRopus“; „Textmining und Visualisierung mit Open Semantic Search“ und „Textvergleich mit eComparatio“.

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