Forum: "Ausprobieren, Fehler machen, lernen und noch einmal ausprobieren..." - Digitales Lehren - Interview mit Jan Hodel (PH/FHNW Basel)

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Jan Hodel, Geschichte und Geschichtsdidaktik, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

H-Soz-Kult: Lieber Jan Hodel, vielen Dank für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview in unserer Reihe zur digitalen Lehre. Sie arbeiten an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel und haben gemeinsam mit Peter Haber Ende der 1990er-Jahre die Plattform hist.net zu Themen der Digitalen Geschichtswissenschaften gegründet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten haben Sie Erfahrungen mit digitalen Formaten und Inhalten sammeln können, vielleicht können Sie erst einmal davon berichten?

Jan Hodel: Ja, gerne. Ich unterrichte zur Zeit an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz zumeist Studierendengruppen in Seminaren zu Geschichtsdidaktik und Geschichte in der Größe von rund 20 Personen. Da die Wege recht kurz sind und die Unterrichtsbedingungen in der Präsenzlehre vergleichsweise komfortabel, schätzen die Studierenden die Möglichkeiten von Online-Lehre nicht besonders, vor allem wenn sie den Eindruck haben, Sitzungen werden nur durch selbständig zu erledigende Aufgaben ersetzt, zu denen kaum Inputs oder Rückmeldungen von Seiten der Lehrenden erfolgen. Dazu kommen technische Hindernisse (Nicht-Erreichbarkeit von Servern, komplizierte oder eingeschränkte Funktionen auf den Lehrplattformen etc.), die digital unterstütztes Lernen oft erschweren. Meine Skepsis gegenüber dem „E-Learning“, wie es zu Beginn genannt wurde, und meine Einschätzung gegenüber dessen Akzeptanz bei Lehrenden und Studierenden hat sich da in den letzten 20 Jahren eigentlich recht stabil gehalten.

Andererseits beginnen die Bildungsverwaltungen in der Schweiz (im Einklang mit der Bildungspolitik) vermehrt digitale Endgeräte für die Schulen bereitzustellen oder deren Mitnahme von den Schüler/innen zu verlangen: Auf der obligatorischen Stufe (6. bis 9. Schuljahr) werden Tablets zur Verfügung gestellt und in der nachobligatorischen Stufe (10. bis 13. Schuljahr) werden BYOD (Bring Your Own Device)-Konzepte eingeführt. Entsprechend wächst die Erwartung von Studierenden und Schulen, dass in der Lehrerbildung diesen Veränderungen Rechnung getragen wird und Anwendungsbeispiele auch in der Hochschullehre selbst zur Anwendung kommen.

Ich habe daher vor rund drei Jahren begonnen, meine Skepsis abzulegen und mich vermehrt mit den Möglichkeiten der digital unterstützten Lehre praktisch auseinander zu setzen. Meine bislang eher konventionell angelegten Lehrveranstaltungen mit wöchentlichen zweistündigen Seminarsitzungen, die von einer mehr oder minder als „Dateiablage“ benutzten Lernplattform (in unserem Falle Moodle) begleitet wurden, und von denen ich im Schnitt fünf pro Semester durchführe, habe ich schrittweise in Richtung eines Blended Learning Ansatzes weiterentwickelt. Nun führe ich alle Seminare in Variationen einer Kombination von Präsenz- und Onlinesitzungen durch, wobei die Online-Sitzungen in der Regel durch Aufgaben gekennzeichnet sind, die asynchron erledigt werden können, aber eine Deadline aufweisen. Nicht alles, was ich ausprobiere überzeugt mich (oder meine Studierenden); ich bin daher in jedem Semester am Erproben neuer Varianten und am Verbessern bestehender didaktischer Szenarien.

H-Soz-Kult: Aufgrund der derzeitigen Pandemie-Lage ist ein Blended Learning nicht möglich, wie gehen Sie in Ihrer Lehre mit der derzeitigen Situation, insbesondere angesichts des bereits laufenden Semesters in der Schweiz um? Haben sich aus Ihrer Sicht neue Möglichkeiten des Lehrens eröffnet und welche Einschnitte waren notwendig?

Jan Hodel: Hier in der Schweiz ist Mitte März ja buchstäblich von einem Tag auf den anderen das Semester an der PH und an den anderen Hochschulen von Präsenzlehre auf digitalbasiertes Distant Learning umgestellt worden. Innerhalb von Tagen mussten die laufenden Veranstaltungsdesigns umformuliert werden – und zwar für das gesamte restliche Semester. Das ersparte die Illusion, eine Übergangslösung für drei bis vier Wochen zu basteln mit Lektüreaufträgen und Streichung einzelner Sitzungen. Die Planungen mussten allesamt umgebaut werden. Für reine Vorlesungen war die Lösung noch vergleichsweise einfach (wenn auch nicht trivial): Hier gab es Möglichkeiten des Streamings aus dem leeren Hörsaal, der Videoaufzeichnung aus dem Homeoffice oder des Audio-Podcasts mit Script. Bei den Seminaren, die auf Mitwirkung der Studierenden angelegt sind, um die Kreditpunkte zu erwerben, war die Umstellung herausfordernder: Die seminaristische Anlage in eine Vorlesung (allenfalls mit Beiträgen von Studierenden) umwandeln – oder interaktive Szenarien in Online-Umgebungen realisieren? Natürlich gibt es Möglichkeiten zu Online-Video-Konferenzen (mit Skype, Webex, Teams oder gerade sehr en Vogue: Zoom), doch diese zeigen sich anfällig für schlechte Netzverbindungen und technisch regulierte Gesprächsführung, die anstrengend und zeitaufwändig ist. Asynchrone Formate der Interaktion (klassisch: Forumsdiskussionen) erweisen sich hier als handhabbarer und inhaltlich ergiebiger, vor allem, wenn alle Teilnehmenden Beiträge liefern und sich diese auch aufeinander beziehen (was bei der Aufgabenstellung konkretisiert werden muss!). Eine Herausforderung sind Beiträge, die von Gruppen vorbereitet werden müssen. Denn im Gegensatz zu Präsenz- oder Blended Learning-Formaten, wo Studierende sich oft informell vor und nach der Veranstaltung noch absprechen oder sich kurz beraten können, ist die Organisation von ad-hoc-Studierenden-Gruppen bei reinem Distant Learning schwieriger und kommt zuweilen nicht ausreichend in Gang. Dort wo sie funktioniert, kommen dafür interessante und überraschende Ergebnisse (z.T. mit Tools, die den Lehrenden aber auch vielen Mit-Studierenden nicht bekannt sind) zustande.

Die erzwungene und gedrängte Form des Umbaus unserer Lehrangebote bringt die Probleme bei der Umsetzung der eigentlich banalen Prämisse, von analogen und digitalen Lehrmethoden und Mitteln jeweils die Vorteile zu nutzen und die Nachteile zu vermeiden, recht deutlich zu Tage. Oft scheitern wir bei dieser Herausforderung, weil wir gerne bekannte Formen und Ideen aus der vertrauten analogen Unterrichtsrealität in die digitale Lernumgebung zu transferieren suchen. Das klappt nämlich nicht immer (manchmal schon) und kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich die Nachteile aus beiden Welten auf ungute Art kumulieren.

Das Bedauerliche ist, dass die Kombination von Schulschließungen und Home-Office-Geboten oft dazu führt, dass die Lehrenden alleine zuhause unter Druck und in mühsam erkämpften Randstunden ihre Online-Lehre entwickeln und begleiten müssen und der Austausch, der ja unter diesen Bedingungen auch gleichsam neu kalibriert werden muss, zwar durchaus möglich und auch gepflegt wird, aber insgesamt doch etwas zu kurz kommt. Letztlich muss jede/r zunächst einmal selbst mit seinen/ihren Herausforderungen fertig werden. Es etabliert sich dabei, so empfinde ich das, bei der Umstellung eine Mischung aus Formaten und Anwendungen, die man schon kennt und erprobt hat, solchen, auf die man durch Tipps stößt und die man schnell und einfach sich selbst beibringen kann und, in geringem Maße, solchen, die aufwändiger zu erlernen sind, bei denen der Aufwand aber lohnenswert erscheint. Ich selbst finde gerade die Möglichkeiten von Video-Präsentationen mit Loom oder Prezi-Video interessant, oder auch interaktive Ideen zu Präsentationen, wie sie bei H5P http://h5p.org vorgestellt werden. Andererseits habe ich relativ schnell das Konzept von Etherpads als digitale Notizblöcke und Wandtafel, worin mehrere Personen gleichzeitig schreiben können, für viele Aufgabenformate, wo es um Sammeln von Ideen und Aussage geht, schätzen gelernt. Der Austausch mit den Kolleg/innen wird wohl in den nächsten Wochen noch bedeutsamer werden, wenn wir die Erfahrungen dieser Schnellumstellung gemeinsam verarbeiten werden. So sammeln wir aus dem Team unserer Professur beispielsweise unsere Erfahrungen in einem Etherpad, einer Art frei zugänglicher Wandtafel.

H-Soz-Kult: Und wie gehen Sie mit kommunikativen Aspekten der Lehre um? Wie könnte man eine Gruppendiskussion, die ein Seminar oder eine Übung auszeichnen, in den virtuellen Raum transferieren? Haben Sie dahingehend Empfehlungen zu didaktischen Methoden oder digitalen Werkzeugen?

Jan Hodel: Meine Erfahrung mit Forumsdiskussionen sind (entgegen meinen Erwartungen) recht positiv. Die Beiträge der Studierenden sind vielfältig und durchdacht; außerdem kommen viel mehr Studierende zu Wort als in den Präsenzveranstaltungen, wo meist immer die gleichen Personen (inkl. Dozent/in) sprechen. Die sehr freie Struktur von Etherpads hat sich für synchrone Formen des Brainstormings und informellen Austausch bewährt. Noch wenig einschlägige Erfahrungen habe ich mit Tools, die Visualisierungen ermöglichen (Mindmaps, Concept Maps u.ä.). Hier gibt es mit Coggle https://coggle.it/ oder Padlet https://de.padlet.com durchaus interessante Tools, um als Seminar schnell Ideen oder Konzepte zu sammeln und zu ordnen.

H-Soz-Kult: Wenn Sie digitale Lehrformate vorbereiten, wie gehen Sie dabei vor? Wie strukturieren Sie Lernziele und Inhalte der einzelnen Sitzungen?

Jan Hodel: Grundsätzlich plane ich schon weit voraus, mit konkreten Aufgaben und Erwartungen schon zu Beginn des Semesters für das ganze Semester. Dabei nutze ich die bei Moodle (und anderen entsprechenden Plattformen) eingebaute Assignment-Tool (Aufgaben). Es gibt zuhanden der Studierenden klar die Termine an und ermöglicht mir die Übersicht, wer in welchem Seminar was schon gemacht hat – den Studierenden übrigens auch. Ich versuche Aufträge zu erteilen, die passend zum Inhalt der jeweiligen Sitzung diskursive oder analytische Verfahren, unterschiedliche Sozialformen, Präsentationsformen und Medientypen berücksichtigen.

Idealtypisch ist z.B. die Lektüre eines wissenschaftlichen Texts, worauf ein Eintrag in das Forum mit Überlegungen zu einer konkreten Fragestellung und dann ein Kommentar zu einem Eintrag einer Kollegin / eines Kollegen erwartet werden. Als Dozent fasse ich dann die Beiträge in einem abschließenden Beitrag zusammen.

Es gibt aber auch etwas komplexere Aufgabenformate: Auf der Basis eines Textes zu Aufträgen im Geschichtsunterricht, die Schüler/innen zum Erstellen von Geschichtstexten anleiten sollen, sollen die Studierenden selbst einen solchen Auftrag formulieren (unter Angabe des Unterrichtskontextes) und im Forum platzieren. Dann sollen Sie eine Aufgabe eines Mitstudierenden bearbeiten und zu lösen versuchen (also einen passenden Text gemäß Aufgabe schreiben) und einen entsprechenden Antwortbeitrag im Forum platzieren. Dann werden immer Paare gebildet („Aufgabenformulierende“ und „Aufgabenlösende“) die in einem Etherpad in einem freien schriftlichen Austausch sich darüber verständigen, wie die Aufgabe gelöst wurde und was für Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können.

Nebst anderen gibt es dann auch Unterrichtsanlagen, wo beispielsweise die Studierenden Fotografien „mitbringen“ und in einem Padlet platzieren und wir dann in einer Live-Video-Konferenz (also synchron) diese Bilder gemeinsam besprechen und analysieren.

H-Soz-Kult: Welche Rolle spielt in Ihrer Lehre der kritische Umgang mit digitalen Quellen? Beschäftigen Sie sich auch mit Erweiterungen einer klassischen Quellenkritik hin zu einer Digitalen Quellenkritik?

Jan Hodel: Quellenarbeit hat in meinem Ausbildungsbereich nicht die gleiche Bedeutung wie in der geschichtswissenschaftlichen Lehre und Forschung. Am ehesten wird bei mir die Bedeutung der externen Quellenkritik, die Frage nach Überlieferung und Überprüfung der Authentizität von Informationen zum Gegenstand der Lehre. Hier verweise ich gerne auf die ernüchternden Forschungsergebnisse, die Sam Wineburg vor zwei Jahren vorgestellt hat. Kurz gesagt: Um im Internet-Zeitalter gegen Fake News bestehen zu können, müssen wir von den FactCheckern lernen – die eigentlich genau das machen, was Historiker/innen seit fast geraumer Zeit externe Quellenkritik nennen.1

H-Soz-Kult: Welche Anregungen möchten Sie abschließend den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digital gestützter Lehre mit auf den Weg geben?

Jan Hodel: Ich fand die Bedingungen für den Aufbruch in die vollumfängliche Digitalisierung der Lehre (denn sie ist bei uns im Moment mehr als nur digital gestützt) nicht gerade ideal. Aber ich darf feststellen, dass die Kolleg/innen viel Einfallsreichtum und Enthusiasmus zeigen und die Studierenden diese Umstellung durch hohe und verlässliche Beteiligung mittragen. Darum heißt digitale Lehre für mich: Ausprobieren, Fehler machen, lernen und es noch einmal und noch einmal und immer etwas anders und (hoffentlich) besser ausprobieren.

H-Soz-Kult: Lieber Jan Hodel, herzlichen Dank für das Gespräch!

Jan Hodel: Gerne!

Anmerkung:
1 Sam Wineburg, Why Learn History (When It’s Already on Your Phone), Chicago 2018, S. 139ff.