Forum: Corona-Lektüre - Henning Tümmers über Susan Sontag

Von
Henning Tümmers, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen

Susan Sontag, Krankheit als Metapher. Aus dem Amerikanischen von Karin Kersten und Caroline Neubaur, München 1978

Als die US-Publizistin Susan Sontag 1977 ihren Essay „Illness as Metaphor“ veröffentlichte – 1978 erschien die deutsche Übersetzung –, konnte sie nicht ahnen, wie relevant ihr Thema schon bald sein würde. Denn Anfang der 1980er-Jahre wurde sie Augenzeugin der beginnenden Aids-Bedrohung in den USA, die das bis heute andauernde Zeitalter der „new emerging infectious diseases“ einleitete und weltweit die Angst vor „Seuchen“ reaktivierte.

„Krankheit als Metapher“ ist ein persönliches und aufklärerisches Buch. Sontag setzt sich darin einerseits mit der Tuberkulose auseinander, an der ihr Vater starb, andererseits mit Krebs, der sie selbst 2004 tötete. Ihr Essay dokumentiert die intellektuelle Auseinandersetzung einer Patientin mit ihrer Krankheit, aber auch die auf bestimmte Zuschreibungen zurückzuführende Diskriminierung von Betroffenen. Um ihrer sozialen Exklusion ein Ende zu bereiten, erläuterte sie im Vorwort: „Zeigen will ich, daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.“ Dazu nimmt Sontag ihre Leser/innen mit auf eine Zeitreise durch die Medizin- und Literaturgeschichte: Versiert diskutiert sie romantische Verklärungen der Tuberkulose im 19. Jahrhundert und jüngere Deutungen von Krebs als ein selbstverschuldetes Leid. Aber auch vormodernen Auffassungen von Epidemien, die bereits in der Antike als göttliche Bestrafung für menschliche Verfehlungen galten, gibt Sontag Raum.

Aus mehreren Gründen lohnt sich in diesen Tagen die Lektüre dieses Klassikers, der in „Aids und seine Metaphern“ (1989) seine Fortsetzung fand. Erstens verweist Sontag auf die Historizität aktueller Phänomene, den Konstruktionscharakter von Krankheit und die potenziell furchterregende Wirkung von Sprache. Demnach sind militärische Krankheitsmetaphern, die ein Virus als „unsichtbaren Gegner“ darstellen, ebenso wenig neu wie die Suche nach „Sündenböcken“, die sich derzeit in Vorschlägen spiegelt, SARS-CoV-2 „Wuhan-Virus“ zu nennen. Wer um den Gebrauch und die Funktion solcher Sprachbilder weiß, kann sich von unsachlichen Äußerungen und entsprechenden Medienberichten emanzipieren.

Zweitens laden ihre Thesen über die Verantwortung für Gesundheit und ihre Periodisierungsvorschläge zum Nachdenken über den Umgang mit Krankheit im 21. Jahrhundert ein. Wenngleich eine profunde Historisierung der jüngsten Pandemie sicherlich noch etwas auf sich warten lassen dürfte, steht schon jetzt fest: Sontags zeitgenössische Reflexionen können als Ausgangspunkt dienen, um soziale und moralische Transformationsprozesse der letzten vier Dekaden zu identifizieren und dadurch dazu beitragen, die Gegenwart im Jahr 2020 besser zu verstehen.

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