Forum: Corona-Lektüre - Anna Karla über Thukydides

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Anna Karla, Historisches Institut, Universität zu Köln

Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Griechisch-deutsch. Übers. und mit einer Einf. und Erl. vers. von Georg Peter Landmann, München 1993.

Die Krankheit, die Athen im Jahr 430 vor Christus heimsuchte, ist als ‚Thucydides Syndrome‘ ins Langzeitgedächtnis der Seuchenforschung eingegangen. Medizinhistorisch kursieren unterschiedliche Hypothesen über das Krankheitsbild und darüber, ob der Erreger aus Äthiopien kommend über Piräus nach Griechenland eingeschleppt worden sei. Im zweiten Buch des monumentalen Geschichtswerks geht es außer um Herkunft und Symptomatik aber auch um den sozialen Ausnahmezustand, den die Seuche auslöste (Thuk II, 47–54).

Thukydides zufolge war nichts mehr wie zuvor. Das Vertrauen in Medizin und Glauben war erschüttert. Heilmittel fanden sich nicht und die Anrufung der Götter blieb vergebens. Die Gesundheitsversorgung und jedwede Solidarität brachen zusammen. Ärzte und Pflegende raffte es dahin, und aus Angst vor Ansteckung hielten sich sogar Familienmitglieder von den Erkrankten fern. Gewohnte Bestattungsrituale entfielen; auf den Straßen und in den Tempelanlagen türmten sich Leichen. Die strukturelle Ungleichheit der Stadtgesellschaft trat umso schärfer zutage, denn Mittellose und Zugezogene erkrankten häufiger als die Wohlhabenden. Gerüchte über vergiftete Brunnen kursierten. Einsamkeit griff um sich, aber auch Sittenlosigkeit. Das Zeitempfinden veränderte sich, alle Zukunftspläne waren aufgeschoben.

Die „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ handelt von der Verschiebung der politischen Großwetterlage in der westlich-antiken Welt von der Demokratie Athen hin zur Militärmacht Sparta. Das Seuchen-Kapitel nimmt in dieser Geschichte eine Scharnierfunktion ein. Denn Athen erwies sich bei Thukydides gegenüber den Spartanern nicht nur militärisch als unterlegen, sondern höhlte sich zusehends auch im Innern aus. Direktvor dem Seuchen-Kapitel lässt Thukydides den Staatsmann und Strategen Perikles eine Rede halten, in der dieser die Stadtbürger auf den Zusammenhalt und die Tugenden Athens einschwor. Vor dem Hintergrund der berühmt gewordenen Gefallenenrede darf man die Seuche als eine Pandemie im eigentlichen Wortsinnverstehen. Sie betraf nicht nur ausnahmslos alle Menschen in Athen –Perikles war nur eines ihrer prominentesten Opfer –, sondern sie infizierte auch den demos als politische Einheit.

Thukydides selbst überstand die Krankheit und stieg danach zum Strategen auf. Erst als er aus politischen Gründen aus Athen verbannt worden war, schrieb er Zeitgeschichte, wobei man sich das erzwungene Home-Office des wohlhabenden Thrakers als komfortabel vorstellen darf. Die militärische Niederlage Athens und den Untergang seiner Lebenswelt konnte er nicht aufhalten. Systemrelevant war er fortan nur noch für die Nachwelt, der er auftrug, „das Gewesene klar [zu] erkennen“ und „damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird“ (Thuk I, 22).

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