Forum: EU: W. Loth: EU in Gefahr? Einige Orientierungspunkte

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Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Erlebt die Europäische Union gegenwärtig die größte Krise ihrer Geschichte? Schwebt sie gar in tödlicher Gefahr? Wer die einseitigen Grenzschließungen zu Beginn der Corona-Pandemie auf sich wirken lässt, könnte auf diesen Gedanken kommen. Auch die weitgehende Einschränkung des freien Personenverkehrs, die trotz mancher Lockerungen noch lange andauern kann, die Engpässe in der Pflege und in der Erntehilfe, die empfindlichen Einschränkungen für Berufspendler und für den Alltag in den Grenzregionen, die daraus resultieren, lassen derartige Befürchtungen aufkommen, ebenso die Verzögerungen im freien Warenverkehr und das Aufflackern nationaler Ressentiments, die mit dem Unmut über all diese Zumutungen verbunden sind. Dazu kommen die Klagen der von der Pandemie besonders gebeutelten Südländer über die mangelnde Solidarität des hartherzigen Nordens und die dramatisierenden Warnungen eines Emmanuel Macron oder George Soros, dass sich mit der Antwort auf die Forderung nach Gemeinschaftsanleihen das Schicksal der EU entscheiden werde. Und schließlich sorgt auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, das den Aufkauf von Staatsanleihen krisengeschüttelter Mitgliedsstaaten durch die Europäische Zentralbank im Rahmen des PSPP-Programms für teilweise verfassungswidrig erklärte, für erhebliche Beunruhigung. Ist das der Anfang vom Ende des einheitlichen europäischen Rechtsraums? Und wird die EU daran zerbrechen?

Ein Blick in die Geschichte der europäischen Integration lehrt, dass es so dramatisch nicht kommen wird. Nicht nur und auch nicht in erster Linie, weil die EU aus Krisen geboren ist und bislang noch jede Krise überstanden hat, oft sogar (das ist manchmal eine Frage der Betrachtungsweise) gestärkt aus ihr hervorgegangen ist. Was in der Vergangenheit funktionierte, muss nicht notwendigerweise auch in der Zukunft in gleicher Weise ablaufen. Wichtiger ist, dass die EU unterdessen ein solches Maß an Vorteilen für ihre Bürgerinnen und Bürger bietet, dass sie im Grunde niemand mehr missen möchte. Gestiegene Produktivität infolge intensivster wirtschaftlicher Verflechtung, sozialstaatliche Einhegung des "freien Spiels der Kräfte", Selbstbehauptung als Wirtschaftsmacht im globalen Wettbewerb, Stabilitätsanker für die Aufrechterhaltung und Förderung der demokratischen Ordnung im Innern, größere Chancen zur politischen Selbstbehauptung gegenüber anderen Groß- und Weltmächten (auch wenn sie oft ungenügend wahrgenommen werden), dazu und mit all dem verbunden der Frieden zwischen den Nationalstaaten des alten Kontinents und die bestmögliche Einhegung einer potentiellen Hegemonie Deutschlands in Europa – wer möchte schon all das oder auch nur einen Teil davon in Frage stellen? Doch nur Nostalgiker und schlecht informierte Träumer, die von Gegnern der Demokratie und einer offenen Weltgesellschaft manipuliert werden. Was den innereuropäischen Frieden und die Sicherheit vor Deutschland betrifft, so teilt die EU ihre Funktionen aufgrund historischer Schwäche mit der NATO, doch kann auf ihre Mitwirkung nicht verzichtet werden, erst recht nicht, seit das Vertrauen in die Verlässlichkeit der amerikanischen Vormacht dramatisch gesunken ist.

Den Europa-Gegnern unterschiedlicher Couleur und Untergangspropheten wird in einer auf permanente Erregung bedachten Medienöffentlichkeit überproportional viel Aufmerksamkeit zuteil. Sie tun sich aber schwer, politikgestaltende Mehrheiten zu erringen. Nichts hat das in jüngster Zeit deutlicher gezeigt als die Vorgänge um den Brexit. Als das Referendum vom 23. Juni 2016 ein knappes Votum für den Austritt Großbritanniens aus der EU erbrachte, tönten die Europa-Gegner, dies sei der Anfang vom Ende der europäischen Gemeinschaft. „Die EU scheitert, die EU stirbt“, so Nigel Farage nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses. Tatsächlich ließ das Erschrecken über die desaströsen wirtschaftlichen Konsequenzen eines Austritts die Begeisterung für den Brexit in Großbritannien schlagartig zurückgehen. Hatten beim Referendum im Juni nur 48 Prozent für einen Verbleib in der Union gestimmt, waren es bei einer Umfrage, die die Bertelsmann-Stiftung im August durchführte, nicht weniger als 56 Prozent, die erklärten, für den Verbleib zu sein, wenn sie noch einmal abstimmen könnten. Die Zahlen gerieten in den kommenden Monaten wieder ins Schwanken, aber die Befürworter eines „harten“ Brexit blieben immer weit von der Mehrheit entfernt. Darum konnte Boris Johnson den Brexit erst durchsetzen, nachdem er in der Nordirland-Frage entscheidende Zugeständnisse an die Iren gemacht und die Brexit-Gegner in der konservativen Partei systematisch entmachtet hatte.1

Die gleiche Ernüchterung zeigte sich bei den anderen Europäern. Waren im Durchschnitt der EU 28 (die Briten eingeschlossen) bei einer Meinungsumfrage im März 2016 nur 57 Prozent für einen Verbleib in der Union, so stieg der Prozentsatz bis zum Juli 2017 auf 70 Prozent. In den Niederlanden blieb der vielfach erwartete Wahlsieg von Geert Wilders im März 2017 aus, in Frankreich siegte Emmanuel Macron im Mai mit einem dezidiert pro-europäischen Programm gegen Marine Le Pen. Bei den Europawahlen im Mai 2019 blieb der Zuwachs der europafeindlichen Populisten ebenfalls deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die AfD beispielsweise bekam weniger Stimmen als bei der Bundestagswahl 2017, und das, obwohl sich die Parteiführung nach Kräften bemüht hatte, die Forderung nach einem „Dexit“ im Nebel wolkiger Allgemeinplätze verschwinden zu lassen. Die Entscheidung der britischen Wähler vom Juni 2016 hatte die Anti-EU-Phantasien einem Praxistest ausgesetzt, und dieser Test war negativ ausgefallen. Nach der Eurobarometer-Umfrage vom Juni 2019 wünschten sich 59 Prozent der Europäer (wiederum: unter Einschluss der Briten) sogar „mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene“.2

Entsprechend gibt es in der gegenwärtigen Krise zwar einen verständlichen Reflex, sich zunächst einmal um den Schutz der eigenen Bürger und die Begrenzung der Schäden im eigenen Land zu kümmern – aber niemanden, der den Briten ihre absehbare neue Freiheit neidet, und erst recht niemanden, der der vermeintlichen Idylle einer Rückkehr zur Autarkie souveräner Nationalstaaten das Wort redet. Im Gegenteil: Die Schließung der Grenzen wird als schmerzliche Einschränkung erfahren, und die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum grenzenlosen Europa wächst. Erneut führt der drohende Verlust dazu, dass den Bürgern deutlich wird, was sie an der Europäischen Union haben. Bei allem Klagen über die angebliche Hartherzigkeit der finanzstarken Nordländer werden die Italiener die laufende Unterstützung durch das 750 Milliarden schwere Pandemie-Notkaufprogramm (PEPP) der Europäischen Zentralbank nicht missen wollen. Genauso gut wissen die Gegner von Transferleistungen, dass ihnen ein Zusammenbruch der norditalienischen Industrie nicht egal sein kann.

Nun ist wechselseitige Solidarität allerdings ein seltenes Gut, das gepflegt werden muss, wenn die EU nicht an Effektivität und Zustimmung verlieren soll. Die Betonung liegt hier auf „wechselseitig“; deswegen kann man verstehen, dass das lautstarke Einfordern von Solidarität durch die italienische Regierung bei manchen nicht gut ankam, nachdem die Vorgängerregierung mit dem gleichen Guiseppe Conte an der Spitze erst vor kurzem (im Herbst 2018) mit einer vertragswidrigen Steigerung des Haushaltsdefizits die Gefahr einer neuen Euro-Krise heraufbeschworen hatte. Auf der anderen Seite sind die italienischen Hilferufe aber auch gut begründet: Das Land ist so hoch verschuldet (mit 135 Prozent des BIP schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise), dass es die Wirtschaft, die Arbeitnehmer und alle anderen, die von dem Einbruch der Wirtschaftsaktivitäten betroffen sind, nicht in dem Maße unterstützen kann wie etwa Deutschland, dem es nach der Finanzkrise von 2008 gelungen war, den Verschuldungsgrad wieder unter die 60 Prozent-Marge des Maastricht-Vertrags zu drücken. Weitere Kredite aufnehmen kann Italien selbst dann kaum, wenn sie als Gemeinschaftskredite zu günstigeren Konditionen zu haben sind: Die Märkte könnten dann sehr schnell mit höheren Zinsen auf die Altschulden reagieren, und dann wäre eine Staatsschuldenkrise nicht mehr weit – mit all den dramatischen Folgen, die das für die gesamte Eurozone haben könnte. Aufgrund der unterschiedlichen Förderungsmöglichkeiten droht ein innereuropäischer Verdrängungswettbewerb, dem die ohnehin schon stärker betroffenen Länder zum Opfer fallen.

Die deutsche Bundeskanzlerin war daher gut beraten, dass sie ihren Widerstand gegen gemeinschaftliche Anleihen aufgab und auch zustimmte, dass die so mobilisierten Gelder nicht als Kredite vergeben werden sollen, sondern als Zuwendungen aus dem EU-Haushalt. Dadurch werden sie nach den Vorstellungen des deutsch-französischen Vorschlags vom 18. Mai 2020 zu ganz normalen Haushaltsmitteln wie die Mittel für den Gemeinsamen Agrarmarkt oder den Regionalfonds, die nach gemeinschaftlichen Regeln vergeben werden und den Schuldenstand der finanzschwachen Länder nicht weiter erhöhen. Der Vorschlag war nicht ganz so neu, wie er wahrgenommen wurde: Im Frühjahr 2017 war Angela Merkel schon einmal nahe daran gewesen, Macrons Forderung nach einer Wirtschaftsregierung der Eurozone zuzustimmen, die gemeinsame Schulden auf europäischer Ebene aufnehmen konnte. Angesichts der Schwächung ihrer Stellung durch die Flüchtlingskrise hatte sie es dann aber nicht mehr gewagt, vor der Bundestagswahl einen weiteren Kurswechsel öffentlichkeitswirksam zu inszenieren.3 Künftige Historikerinnen und Historiker werden herausfinden, was sie bewogen hat, jetzt den großen Wurf zu wagen. Nicht zuletzt dürfte die Stärkung ihrer Position infolge des erfolgreichen Krisenmanagements in der Corona-Pandemie sie ermutigt haben, jetzt nachzuholen, was sie 2017 versäumt hatte. Das sichert ihr einen Platz in den Geschichtsbüchern. Die Ausweitung der Gemeinschaftsaufgaben auf die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie wird in gleicher Weise mit ihrem Namen verbunden bleiben wie die Einführung der Gemeinschaftswährung mit dem Namen von Helmut Kohl.

Die „frugalen Vier“ Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden, die sich gegenwärtig unter der Führung von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz als Hüter finanzpolitischer Orthodoxie inszenieren, werden diese Ausweitung der Gemeinschaftsaufgaben nicht verhindern können. Dazu sind die gemeinsamen Interessen aller EU-Mitglieder zu stark, die mit dem „Mercron“-Vorschlag befriedigt werden können: Verhinderung einer neuen Euro-Krise, Beschleunigung des Aufschwungs, Stärkung des Euro als internationaler Anlage- und Reservewährung und nicht zuletzt Verhinderung einer Entfremdung zwischen Nord- und Südländern. Dem haben die Vier nichts entgegenzusetzen, noch nicht einmal politisches Gewicht. Die Kredite, die sie als Ausweis von Solidarität anpreisen (wohlweislich ohne dabei eine Summe zu benennen), stellen keine Hilfe dar. Nach dem Vorschlag, den die Kommission nach Rücksprachen mit allen 27 Regierungen am 27. Mai veröffentlicht hat, wird das Ergebnis der Auseinandersetzung wohl darin bestehen, dass ein Kreditprogramm in Höhe von 250 Milliarden Euro zusätzlich zu dem deutsch-französischen Zuwendungsprogramm in Höhe von 500 Milliarden Euro aufgelegt werden wird. Über Einzelheiten wird noch bis zur Ratstagung am 19. Juni gerungen werden; und ob, von wem und in welcher Höhe Kredite dann tatsächlich in Anspruch genommen werden, kann vorerst offenbleiben. So oder so wird die EU aber am Ende turbulenter Auseinandersetzungen einmal mehr ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.

Bleibt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das bezieht sich nicht auf das aktuelle Kaufprogramm der EZB, und der Vorschlag für ein Wiederaufbauprogramm, das im gemeinschaftlichen Rahmen angesiedelt ist, wird durch dieses Urteil auch nicht infrage gestellt. Das Brisante an dem Urteil ist auch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht ein bestimmtes Aufkaufprogramm für in Teilen verfassungswidrig hält. Die EZB muss Entscheidungen für Mitgliedsländer mit unterschiedlichen finanz- und wirtschaftspolitischen Agenden treffen; da kann es leicht zu unterschiedlichen Auffassungen über die Verhältnismäßigkeit solcher Entscheidungen kommen. Problematisch ist nur, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil explizit über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hinwegsetzt. „Unser Urteil sagt, der Europäische Gerichtshof sollte mehr und intensiver kontrollieren“, so BVG-Präsident Andreas Voßkuhle in einem Interview mit der ZEIT.4 Der Auffassung kann man sein. Nur: Steht dem Bundesverfassungsgericht ein solches Urteil über die Praxis des Europäischen Gerichtshofs überhaupt zu? Der EuGH sagt dazu ganz klar Nein: „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt“, erklärte er drei Tage nach der Karlsruher Urteilsverkündung.5

Tatsächlich steht im Lissabon-Vertrag nichts von Einspruchsmöglichkeiten einzelstaatlicher Gerichte gegen Urteile des Europäischen Gerichtshof. Sie sind offensichtlich nicht im Sinn des Vertragswerks, damit aber auch nicht explizit ausgeschlossen. Juristisch gesehen hat allerdings der Europäische Gerichtshof in dieser Auseinandersetzung die besseren Karten: Er entscheidet nach Artikel 267 „über die Auslegung der Verträge“ und „über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union.“ Man wird abwarten müssen, ob es ihm gelingt, dieses Recht auch politisch durchzusetzen. Für die Aseinandersetzung mit den Rechtsverletzungen in Polen und Ungarn wäre dies hilfreich. Im Hinblick auf die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie ist es jetzt aber nicht dringend.

Anmerkungen:
1 Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis auf die erweiterte Neuausgabe meiner Geschichte der europäischen Einigung, die Ende Juni 2020 bei Campus erscheinen wird: Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 2020. Hier wird das Brexit-Drama umfassend analysiert.
2 Standard-Eurobarometer Frühjahr 2019 91. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, 2019, S. 174-178, http://ec.europa.eu/.
3 Auch dazu mehr in der erweiterten Neuausgabe meiner Einigungsgeschichte.
4 „Erfolg ist eher kalt“. Interview mit Andreas Voßkuhle, in: Die Zeit 21/2020, 14.5.2020, S. 6f, https://www.zeit.de/2020/21/andreas-vosskuhle-ezb-anleihenkaeufe-corona-krise (12.06.2020).
5 EuGH weist Karlsruhe in die Schranken, in: Süddeutsche Zeitung 8.5.2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/eugh-bundesverfassungsgericht-ezb-1.4902222 (12.06.2020).

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