Forum: EU: G. Thiemeyer: Legitimationsmuster europäischer Politik und das Problem des Demokratiedefizits

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Guido Thiemeyer, Historisches Seminar II/ Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 hat in weiten Teilen der europäischen politischen und medialen Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt. Die Rede ist von einem politischen „Beben“ in der EU, von einer „Ohrfeige“ des Bundesverfassungsgerichts für den Europäischen Gerichtshof. Es ging um die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank und das höchste deutsche Gericht gab den Klägern recht, die argumentiert hatten, dass die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag die Anleihekäufe nicht hätten zulassen dürfen, weil sie von der Europäischen Zentralbank nicht ausreichend begründet worden wären. Entscheidender als dieses Detail war aber die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht sich damit gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11. Dezember 2018 stellte, der entschieden hatte, dass die Politik der EZB im Rahmen des Staatsanleihekaufprogramms mit dem europäischen Recht zu vereinbaren sei. Das Bundesverfassungsgericht hat damit dem Europäischen Gerichtshof die Kompetenz in dieser Frage abgesprochen, sein Urteil sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und der EuGH habe seine Kompetenzen überschritten. Die Europa-Skeptiker in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten jubelten, endlich, so schien es, zeige eine wichtige nationale Institution dem vermeintlich allmächtigen EuGH die Grenzen auf.1

In der Wissenschaft hingegen wurde das Urteil nüchterner aufgenommen. Der latente Konflikt zwischen der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Europarecht ist keineswegs so neu und spektakulär, wie es von einigen Kommentatoren bewertet wurde. Bereits mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war 1952 eine supranationale europäische Organisation geschaffen worden. Das bedeutete, dass die Mitgliedstaaten Teile ihrer nationalen Kompetenzen an die EGKS abtraten, die damit in dem ihr zugewiesenen Sektor auch Recht setzen konnte. Dieses Muster wurde in den Römischen Verträgen 1958 fortgeführt und auf weitere Sektoren ausgeweitet. Damit waren zwei Rechtsordnungen entstanden: Ein europäisches Recht, das sich auf jene Politikfelder bezog, die die Mitgliedstaaten den europäischen Organisationen übertragen hatten und ein nationales Recht. Auf die Frage nach dem Primat des nationalen oder des europäischen Rechts waren die Verträge allerdings nicht eingegangen. Es war der Europäische Gerichtshof, der am 5. Februar 1963 in dem berühmten Van-Gent-&-Loos Urteil erstmals explizit den Vorrang des Europarechtes vor dem nationalen Recht postulierte. Die supranationale Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, so wurde argumentiert, habe eine neue Rechtsordnung geschaffen, innerhalb derer die Mitgliedstaaten ihre Souveränität eingeschränkt haben. Die Rechtssubjekte dieser Ordnung seien aber nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern die Individuen. Es könne daher keinen Gemeinsamen Markt in Europa geben, wenn es keine für alle Einzelpersonen verbindliche gemeinsame Rechtsauslegung gebe. Auch wenn diese Position bei den nationalen Gerichten auf Skepsis stieß, ist das Argument doch weitgehend akzeptiert worden. Gleichwohl hatten sich damit zwei Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft gebildet, eine europäische und eine nationale, die seither im potentiellen Konflikt miteinander stehen.

Diese verfassungsrechtliche Kontroverse greift jedoch weit über die juristischen Fragen hinaus. Letztlich geht es mal wieder um die Frage der Legitimation der überstaatlichen Europäischen Union. Schon oft ist der Europäischen Union vorgeworfen worden, sie habe ein Demokratiedefizit, sie sei ein Elitenprojekt, das sich dem in demokratischen Wahlen geäußerten Willen des Souveräns entziehe. Hartmut Kaelble hat – wie andere zuvor – in seinem jüngsten Buch gezeigt, dass dieser pauschale Vorwurf unzutreffend ist, dass er differenziert werden muss.2 Er kann vor allem auf der Basis von Meinungsumfragen zeigen, dass die Zustimmung zu den europäischen Organisationen und ihrer Politik keineswegs so gering war wie oft unterstellt. Und doch bleibt die Frage nach der Legitimation der supranationalen Politik im Raum.

In der Gründungsphase der europäischen Organisationen dominierte die so genannte Output-Legitimation, das heißt die Europäischen Organisationen galt dann als legitim, wenn sie eine bestimmte Aufgabe nach allgemeiner Auffassung zuverlässig erfüllten. Hier lässt sich zwischen politischen und wirtschaftlichen Aufgaben unterscheiden.

Eine wichtige politische Aufgabe der europäischen Organisationen seit den 1950er-Jahren war es, eine europäische Friedensordnung zu garantieren und die als potentiell übermächtig geltende Bundesrepublik Deutschland in das europäische System einzubinden ohne sie zu diskriminieren. Zudem konnten die ehemaligen Großmächte Frankreich, Deutschland und Großbritannien mit Hilfe der europäischen Organisationen zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht jene Rolle in der Welt wieder einnehmen, die sie durch die Weltkriege verloren hatten. Vor allem zur Lösung des deutschen Problems schien der supranationale Charakter der EGKS und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus französischer Sicht notwendig. Diese außenpolitischen Ziele wurden durch die europäischen Organisationen recht zuverlässig erreicht. Die Auswärtigen Ministerien insbesondere in Frankreich und den Benelux-Staaten sahen daher in den Europäischen Gemeinschaften der 1950er-Jahre vorrangig internationale Verwaltungsgemeinschaften, deren Legitimität dadurch entstand, dass sie bestimmte Aufgaben zuverlässig erfüllten. Aus diesem Grunde sah das ursprüngliche Konzept von Jean Monnet und Robert Schuman für die EGKS gar keine parlamentarische Vertretung vor. Die zunächst noch rein beratende parlamentarische Versammlung wurde nur auf Wunsch der deutschen Bundesregierung in den Vertrag als europäische Institution aufgenommen. Im Gegensatz zu den anderen Delegationen war die deutsche Europapolitik in starkem Maße vom Leitbild des Föderalismus geprägt. Insbesondere der für die konkrete Europapolitik zuständige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, dachte in diesen Kategorien. Sein Ziel waren die „Vereinigten Staaten von Europa“ als ein Föderalstaat nach US-amerikanischem Vorbild. Auch wenn die Europäischen Gemeinschaften der 1950er-Jahre Elemente des Föderalismus enthielten, konnte sich Hallstein mit seiner Vorstellung nicht vollständig durchsetzen.

In der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften gab es neben dem Bundesstaat weitere Legitimationsmuster, die alle einen gewissen Einfluss auf die europäischen Konstruktionen hatten. Aus der Sicht des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard waren die Europäischen Gemeinschaften der 1950er-Jahre viel zu dirigistisch. Er meinte damit, dass die wirtschaftlichen Entscheidungen zu stark von politischen Akteuren beeinflusst werden. Ihm schwebte hingegen ein System vor, das „ein bestimmtes Verhalten der einzelnen Länder und Volkswirtschaften gewissermaßen erzwingt“, damit diese erfolgreich sind.3 Erhard stellte sich damit in die Tradition liberalen polit-ökonomischen Denkens, das erstmals von Bernard Mandeville formuliert und von den schottischen Moralphilosophen aufgegriffen und popularisiert wurde. Dieses System führe zur optimalen Allokation und Distribution von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital in einer Volkswirtschaft. Die Rolle des Staates beschränkte sich in diesem System darauf, die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Erhard nannte in seiner Rede den „ausgeglichenen Haushalt“, den „freien Wettbewerb“ und die „geordnete Währung“. So könne der „Wohlstand für alle“ erreicht werden und dies war auch die Legitimationsgrundlage des Ordoliberalismus.

Ganz anders waren die Vorstellungen des niederländischen Landwirtschaftsministers und späteren Präsidenten der Europäischen Kommission, Sicco Mansholt. Er plädierte Mitte der 1950er-Jahre für eine starke, von den nationalen Regierungen und Parlamenten möglichst unabhängige Europäische Kommission. Auf diese Weise hoffte er den aus seiner Sicht schädlichen Einfluss von Interessenverbänden auf die Politik zurückdrängen zu können. Insbesondere die landwirtschaftlichen Interessenverbände, so Mansholt, hätten einen starken Einfluss in den nationalen Parlamenten und Parteien erlangt und versuchten so, notwendige Entscheidungen zu blockieren oder in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Kommission, so Mansholt, sollte vor allem aus unabhängigen Experten bestehen. Politiker seien hierfür ungeeignet, weil sie abhängig von der Wählermeinung handelten. Sie müssten immer an die kommenden Wahlen denken und würden erforderliche, aber unpopuläre Entscheidungen vermeiden.

Ähnlich argumentierten in den 1990er-Jahren vor allem deutsche liberale Ökonomen, als sie für die europäische Währungsunion eine von anderen politischen Gremien unabhängige, ausschließlich dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtete Europäische Zentralbank forderten. Geldpolitik sollte autonom und unabhängig von anderen politischen Erwägungen gestaltet werden können. Nur eine unabhängige Zentralbank, so die Argumentation, könne eine an der Preisniveaustabilität orientierte Geldpolitik betreiben. Alle diese Konzepte liefen darauf hinaus, dass die politischen Entscheidungen in weitgehend unabhängigen, ausschließlich von Experten besetzten Gremien fallen, die allein nach wissenschaftlich ermittelten Kriterien entscheiden. Wirtschaftliche Entscheidungen sollten so von der politischen Willensbildung in Parlamenten und der medialen Öffentlichkeit abgekoppelt werden, weil nur so im wirtschaftlichen Sinne optimale Ergebnisse erzielt werden können.

Hinter diesen Auffassungen stand eine politische Auffassung, die die Legitimität politischen Handelns in der Expertise der Entscheidenden sieht. Nur Experten können aus dieser Sicht im ökonomischen Sinne richtige Entscheidungen fällen. Ihre Wurzel hat diese Vorstellung in der platonischen Staatsphilosophie. Die Könige sollen Philosophen sein, Macht wird durch Expertise gerechtfertigt. Das war auch die Legitimation bei Mansholt: Die Europäische Kommission soll Entscheidungen auf der Basis der Expertise fällen, ähnlich soll es bei der Europäischen Zentralbank sein. Zentralbankrat und Direktorium entscheiden auf der Basis geldwirtschaftlicher Expertise und nicht auf der Basis von Mehrheitsmeinungen.

Der vom deutschen Verfassungsgericht vom Zaun gebrochene Streit mit dem Europäischen Gerichtshof verweist daher auf einen schon lange bestehenden Konflikt zwischen zwei verschiedenen Rechtsordnungen. Hieraus allerdings die Konsequenz zu ziehen, dass die europäische Rechtsordnung aufgrund ihrer Output-Legitimation undemokratisch sei, während die nationalen Rechtsordnungen wegen ihrer Input-Legitimation mit dem Demokratieprinzip vereinbar sind, greift aus verschiedenen Gründen zu kurz.

Zum einen ist auch die nationalstaatliche Politik keineswegs durchgehend Input-legitimiert. Ein Beispiel aus Deutschland ist die Deutsche Bundesbank, die seit dem Bundesbankgesetz von 1957 immer auf ihrer Unabhängigkeit von Bundesregierung und Bundestag bestanden hat. Auch sie ist ausschließlich durch das Ergebnis ihrer Politik legitimiert, das von der großen Mehrheit der politischen Akteure in der Bundesrepublik akzeptiert wird. Es war in den 1990er-Jahren die Bundesregierung, die darauf drängte, dass die Zentralbanken anderer europäischer Staaten, die traditionell den Weisungen des jeweiligen Finanzministeriums unterstanden (z.B. Großbritannien, Frankreich) und damit demokratisch legitimiert waren, ebenfalls unabhängig von politischen Weisungen agieren können. Dieses Modell wurde nicht zuletzt auf massiven deutschen Druck auch für die Europäische Zentralbank verbindlich. Es gibt also auch auf nationaler Ebene wichtige Ausnahmen von der klassischen Input-Legitimation.

Zum anderen sind auch die europäischen Institutionen keineswegs nur Output-legitimiert. Die Entwicklung der Beratenden Versammlung der EWG und der EGKS bis hin zum heutigen Europäischen Parlament, das eine gleichberechtigte Rolle mit dem Rat und der Kommission einnimmt, kann hierfür angeführt werden. Auch Ministerrat und Europäischer Rat sind durch die nationalen Parlamente oder direkte Wahlen auf nationaler Ebene legitimiert. Es ist also zu einfach, der nationalstaatlichen Ebene die Input-Legitimation und der europäischen Ebene die Output-Legitimation zuzuschreiben. Typisch ist vielmehr eine hybride Legitimationsstruktur, wobei je nach Politikfeld mal die eine, mal die andere dominiert.

Hinzu kommt, dass die Europäische Union in der Debatte um die demokratische Legitimation mit den Nationalstaaten gleichgesetzt wird, das heißt, an die EU werden die gleichen Kriterien der Input-Legitimation angelegt, wie an den klassischen Nationalstaat. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil den klugen Begriff des Staatenverbundes gewählt, um die EU zu charakterisieren und damit deutlich gemacht, dass die EU eben kein Staat im klassischen Sinne ist. Vielmehr hat die EU in bestimmten Feldern durchaus Staatscharakter, in anderen Politikfeldern agiert sie wie eine klassische intergouvernementale Organisation. In den Politikwissenschaften spricht man daher seit den 1980er-Jahren von einem „Mehrebenensystem“ des Regierens in der EG/EU. Auch in dieser Hinsicht ist das europäische System also ein hybrides Gebilde.

Schließlich muss auch der Begriff der Demokratie diskutiert werden. Dies ist ein Aspekt, der in der Debatte um das demokratische Defizit der EU bislang nicht berücksichtigt wurde. Das demokratische Europa spielte in den Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt standen andere Werte wie vor allem der Frieden und der wirtschaftliche Wohlstand. Daher gab es auch keine Ansprüche an eine demokratische Europäische Gemeinschaft, die Demokratie war auf der nationalen Ebene verankert. In den 1970er-Jahren setzte ein Wandel ein. Einerseits förderte die EG die Durchsetzung demokratischer Systeme in Spanien, Portugal und Griechenland (ab 1990 auch in Osteuropa) massiv. Andererseits trat ab den 1970er-Jahren die EG/EU selbst mit dem Anspruch auf, die Demokratie zu repräsentieren.4 Demokratie ist eben kein feststehender Begriff, sondern ihre Bedeutung wandelt sich in Zeit und Raum. Er wird daher immer wieder neu ausgehandelt zwischen den europäischen Institutionen, den nationalen Regierungen und der politischen Öffentlichkeit in Europa.

Dies weiß man auch in Karlsruhe. Hier ist auch nicht entschieden worden, dass die Anleihekäufe der EZB grundsätzlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Vielmehr wurde bemängelt, dass die EZB keine Folgeabschätzung ihrer Entscheidung vorgelegt habe. Dies ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, kann aber leicht behoben werden durch eine nachträgliche Begründung. Insofern ist das Karlsruher Urteil in der Sache wesentlich zurückhaltender als es in den meisten Medien wahrgenommen wurde. Es zeigt vielmehr, dass in der EU verschiedene politische, rechtliche, kulturelle und ökonomische Systeme nebeneinander existieren können, ohne dass sie sich wechselseitig zerstören. Zwar wird die so entstandene Widersprüchlichkeit des politischen Systems oft als Schwäche der EU gesehen. Es könnte aber auch ihre Stärke sein.

Anmerkungen:
1 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 05. Mai 2020 – 2 BvR 859/15-, Rn. 1-237, http://www.bverfg.de/e/rs20200505_2bvr085915.html (13.06.2020).
2 Hartmut Kaelble, Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt am Main 2019.
3 Ludwig Erhard, Europäische Einigung durch funktionale Integration. Rede vor dem Club „Les Echos“ am 7.12.1954, in: Ders., Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf 1992, S. 253-259, hier S. 254.
4 Z.B. Leo Tindemans, Bericht über die Europäische Union vom 29.12.1975, online zugänglich unter:
https://www.cvce.eu/de/recherche/unit-content/-/unit/02bb76df-d066-4c08-a58a-d4686a3e68ff/63f5fca7-54ec-4792-8723-1e626324f9e3/Resources#284c9784-9bd2-472b-b704-ba4bb1f3122d_de&overlayrlay (13.06.2020).

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