Forum: Digitales Lehren: L. Eberle: Adsenz statt Präsenz. Erfahrungsbericht einer Historikerin aus dem digitalen Semester

Von
Lisa Pilar Eberle, Eberhard Karls Universität Tübingen

Während Coronaviren mit dem Auge nicht sichtbar sind, führte ihre Verbreitung in den letzten Monaten doch dazu, dass soziale Probleme und Verwerfungen im Rampenlicht standen, die zuvor lange ignoriert wurden. Die chronische Unterbezahlung von Pflegeberufen, der menschenunwürdige Umgang mit EU-Bürgern aus Osteuropa, welche in der Spargelernte und in der Fleischproduktion in Deutschland arbeiten, und der strukturelle Rassismus in der Gesundheitsversorgung in den USA sind nur einige Beispiele dieser Dynamik. Als Konsequenz der Pandemie hatte die digitale Lehre für mich auf der pädagogisch-didaktischen Ebene einen vergleichbaren Effekt. Online zu unterrichten war für mich nicht etwas grundlegend Neues oder essentiell Anderes. Stattdessen erlebte ich einen Perspektivwechsel. Das digitale Semester eröffnete mir einen neuen Blickwinkel auf die Bedingungen und Möglichkeiten der universitären Lehre in Deutschland, welche im Kontext der Präsenzlehre oft im Verborgenen bleiben. Als solches waren die letzten drei Monate für mich zunächst einmal ein ethnographisches Abenteuer mit Ergebnissen, die nicht auf die digitale Lehre beschränkt bleiben.

Seminarräume und Videokonferenzen als fremde Länder
Zunächst ein wenig zu meiner eigenen Lern- und Lehrbiographie. Die beiden Veranstaltungen, die ich in den letzten drei Monaten unterrichtet habe – ein Proseminar zu Sklaverei im Mittelmeerraum in der Antike und eine Übung zu Inschriften als Quellen für Historiker/innen – sind meine erste Erfahrung mit digitaler Lehre, jedoch nicht mit digitalem Lernen. Vor einigen Jahren habe ich ein Grundlagenstudium in Jura im Fernunterricht absolviert. Unter anderem habe ich durch diese Erfahrung gelernt, dass es genau wie in der Präsenz bessere und weniger gute digitale Lehre gibt. Als Ende März dann klar wurde, dass zumindest die ersten Wochen des Sommersemesters online stattfinden würden, ging ich mit der entsprechenden Einstellung an diese Herausforderung heran: Das Ziel war, zumindest zu versuchen, eine möglichst gute Form des digitalen Lernens für meine Studierenden zu ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund habe ich in den zwölf Wochen des Sommersemesters 2020 wohl so intensiv über die Lernziele und Lehrmethoden in meinen Veranstaltungen nachgedacht wie selten zuvor. Was sollen die Studierenden aus meinen Veranstaltungen mitnehmen? Welche althistorischen Inhalte? Welche Aspekte des historischen Denkens? Welche Kompetenzen? Und wie ermögliche ich ihnen Lernerfolge auf diesen verschiedenen Ebenen? Gleichzeitig stellte sich damit auch eine Frage dringlicher, die mich seit dem Beginn meiner Zeit in Tübingen umtreibt: Was heißt es, an deutschen Hochschulen gute historische Lehre zu betreiben, was heißt es, Lernprozesse anzustoßen, die die Studierende dabei unterstützen, ihr Studium erfolgreich abzuschließen? Diese Fragen beschäftigen mich in eben dieser Form, weil ich selbst nie im deutschsprachigen Raum studiert habe und auch die Anfänge meiner Lehrtätigkeit mit Berkeley und Oxford im Ausland lagen. In einen Seminarraum in Deutschland zu gehen, fühlt sich manchmal immer noch so an, als würde ich ein fremdes Land betreten. Somit war die Onlinelernumgebung oder die Videokonferenz einfach ein weiterer Zugang in dieses „fremde“ Land – ein Zugang, der mir geholfen hat, dieses Land noch einmal anders zu sehen und, so meine ich, besser zu verstehen.

Digitale Lehre und Diagnostik
Im April habe ich mich dazu entschieden, meine Veranstaltungen als eine Form des „blended learning“ zu gestalten – konkret durch eine Mischung aus Videokonferenzen (im Plenum und in Kleingruppen) und schriftlichen Arbeitsaufträgen (individuell und als Gruppenarbeit). Meine Veranstaltungen habe ich in Lernmodule bzw. -abschnitte geteilt, die sich jeweils über mehrere Wochen hinzogen und aus einer mir sinnvoll erscheinenden Kombination dieser Formate aufgebaut waren. In meinen Routinen in der Präsenzlehre, die ich mir teils von deutschen Kolleg/innen abgeschaut habe, teils aus meinen eigenen Erfahrungen aufgebaut habe, bin ich vor allem mit Ergebnissen konfrontiert, die am Ende von langen und komplexen Lern- und Arbeitsprozessen stehen: mit Diskussionsbeiträgen, Essays, Referaten und Seminararbeiten. Im Kontext der digitalen Lehre bekam ich nun aber Einblicke in die verschiedenen Arbeitsschritte und Arbeitstechniken, welche die Studierenden für das Erstellen von solchen Endprodukten benötigen: von der Benutzung von Lexika und Fachwörterbüchern angefangen über das Lokalisieren von Quellen und Forschungsliteratur in der Bibliothek bis hin zur kritischen Analyse und Lektüre dieser Quellen und von Forschungsliteratur. Schriftliche Arbeitsaufträge hatten hier für mich eine wichtige diagnostische Funktion.

Ich erkannte zum Beispiel, dass eine große Anzahl meiner Studierenden nicht verstand, dass ein (lateinisches) Wörterbuch und ein Fachlexikon zur Antike ganz unterschiedliche Zwecke erfüllen, wenn es darum geht, das römische Konzept der familia zu erläutern, welches zentral für das Verständnis von Sklaverei im antiken Rom ist. Da es sich hier um ganz grundsätzliche Kompetenzen handelte, entschied ich mich dann auch, diese Punkte explizit zu thematisieren und entsprechende Folgeaufträge zu entwickeln, um den Lernerfolg zu überprüfen. Interessant war auch, dass die Studierenden von sich aus anfingen, die Herausforderungen bestimmter Arbeitstechniken zu reflektieren. In einem Lernmodul fertigten sie zunächst Exzerpte und Mindmaps zu einer Reihe von Beiträgen zu einer Forschungsdebatte an. Nachdem ich ihnen Feedback auf ihre Arbeiten gegeben hatte, war geplant, die Forschungsdebatte in einer Videokonferenz in der darauffolgenden Woche kritisch zu erörtern. Einen Teil dieser Videokonferenz verbrachten wir aber auch damit, über die Herausforderungen des Lesens von Forschungsliteratur zu diskutieren – ein Thema, welches einige der Studierenden von sich aus zur Sprache brachten – und verschiedene Herangehensweisen (für das nächste Mal) herauszuarbeiten.

Die Struktur der digitalen Lehre ermöglichte mir also ein umfassenderes Verständnis der Herausforderungen, mit denen sich meine Studierenden konfrontiert sahen. Wer ein Problem mit dem Benutzen von Fachlexika hat, wird kaum in der Lage sein, eine gute Seminararbeit zu verfassen. Wem ein grundlegendes Verständnis davon fehlt, wie Forschungsliteratur funktioniert, der wird ähnlich scheitern; nicht zuletzt, weil Seminararbeiten historisches Forschen in Miniatur sind. Jenseits dieser diagnostischen Funktion bot mir die digitale Lehre aber auch Möglichkeiten, die Studierenden beim Meistern dieser Herausforderungen zu unterstützen, und zwar nicht nur als Gruppe, sondern auch individuell.

Digitale Lehre und Differenz
Ein Aspekt des universitären Lehrens an deutschen Universitäten, der mir nicht erst im Kontext der digitalen Lehre bewusst wurde, waren die großen Unterschiede zwischen Studierenden – die Unterschiede hinsichtlich ihres historischen Wissens, ihres historischen Verständnisses und ihrer fachlichen Kompetenzen. Seit Beginn meiner Zeit in Tübingen sehe ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben als Dozentin an, diesen Unterschieden in der Lehre gerecht zu werden. Die Formate der digitalen Lehre boten mir noch einmal ganz andere Möglichkeiten als die Präsenzlehre, mich dieser Aufgabe anzunehmen. Schriftliches Feedback auf Arbeitsaufträge stellte hier eine Möglichkeit dar. Viel ertragreicher und interessanter waren jedoch Videokonferenzen in Kleingruppen. Dort war es auch noch einmal viel besser möglich, die Studierenden darin zu unterstützen, was es jenseits aller handwerklichen Kompetenzen wahrscheinlich ausmacht, Historiker/in zu werden: (historisch) denken zu lernen.

Noch vor dem Semester hatte ich mich von der Idee verabschiedet, dass alle Studierenden in meinen Veranstaltungen inhaltlich genau dasselbe mitnehmen sollten. Unter anderem erlaubte mir das, die Studierenden in Zweier- und Dreiergruppen einzuteilen und die einzelnen Gruppen unterschiedliche Quellen im Hinblick auf dieselbe Problemstellung analysieren zu lassen. Nachdem die Gruppen ihre Ergebnisse verschriftlicht hatten, benutzte ich die zwei Stunden Seminarzeit, um mich mit den einzelnen Kleingruppen in Videokonferenzen für jeweils 20 Minuten zu treffen, um ihre Ergebnisse zu besprechen. Nach diesen Besprechungen trugen wir die Ergebnisse aller Gruppen in einem Wiki zusammen. Im Kontext dieser Videokonferenzen bin ich in einen Lehrmodus verfallen, der mir persönlich wahrscheinlich am nächsten liegt: Oxbridge-style Tutorials. Konkret heißt das, bei den Ergebnissen der Studierenden, bei ihren Ideen anzufangen und sie dabei zu unterstützen, diese Ideen weiterzudenken und zu hinterfragen. Das findet in offenen Gesprächen statt, in denen mein Ziel nicht ist, Wissen zu vermitteln. Stattdessen behandle ich die Studierenden als ebenbürtige Diskussionspartner und versuche sie zum historischen Denken anzuregen, u.a. auch indem ich dies selber modelliere. Dieses Format gab mir also die Möglichkeit, Studierende dort abzuholen, wo sie in ihrem Denken waren, und zu versuchen, ihnen die nächsten möglichen Schritte aufzuzeigen.

In Diskussionen mit größeren Gruppen ist diese Dynamik natürlich auch möglich, sowohl online als auch in der Präsenzlehre. Im Kontext der digitalen Lehre fand ich die Diskussion in Kleingruppen aber besonders hilfreich, nicht zuletzt weil sie eine Möglichkeit darstellte, auch auf eine größere Anzahl von Studierenden einzugehen und somit auch mit einer größeren Anzahl von Studierenden eine gewisse Verbindlichkeit und eine gewisse Vertrautheit herzustellen. Die Bedeutung dieser Verbindlichkeit und der Arbeit, die nötig ist, um sie herzustellen, waren mit die eindrücklichsten Aspekte der universitären Lehre, welche für mich im Kontext der digitalen Seminare sichtbar wurden.

Digitale Lehre und Emotionale Arbeit
Wahrscheinlich habe ich noch nie so viel emotionale Arbeit geleistet, wie in diesem Semester. In Sprechstunden und per E-Mail habe ich mit Studierenden darüber geredet, wie schwierig es sein kann, an den Leistungen für das Studium zu arbeiten, wenn man gleichzeitig persönliche Probleme hat. Wir haben über den Umgang mit dem Tod und mit psychologischen Problemen gesprochen. In der Präsenzlehre war mir das so noch nie passiert. Der Umstand, dass ich weiblich bin, jung ausschaue, und in der Tendenz versuche, den Studierenden gegenüber offen und freundlich zu sein – alles Eigenschaften, die es für mich einfacher als für andere machen dürften, emotionale Arbeit zu leisten – kann diese Erfahrung also nur bedingt erklären. In der Tat habe ich meine Studierenden zu Beginn von Videokonferenzen und Sprechstunden oft gefragt, wie es ihnen gehe und manchmal auch ein wenig von meinen Schwierigkeiten mit der ungewöhnlichen Situation erzählt. Aber auch das mache ich so in der Präsenzlehre. Letztlich meine ich, dass sich diese Erfahrungen auf Bedürfnisse der Studierenden in Zeiten von COVID-19 zurückführen lassen, aber eben auch auf die Bedingungen der digitalen Lehre. Denn wenn ich mit Studierenden sprach, saßen sie in ihren Kinder- und WG-Zimmern, auf ihren Balkonen und in ihren Küchen. Der Gang zur Universität, während dessen man die quasi-professionelle Identität des Studierenden einnehmen konnte, fehlte in diesem Semester einfach oft.

Das eigentlich Interessante an dieser Erfahrung war aber, welche Auswirkungen diese emotionale Arbeit auf die Lernprozesse der Studierenden hatte. Diejenigen, mit denen ich solche Gespräche hatte, haben sich danach mehr angestrengt und haben durchwegs gute Beiträge geliefert – oft trotz schwieriger Umstände. Und auch allgemein hatte ich den Eindruck, dass die Studierenden mehr auf persönlichen Kontakt reagierten als dies in der Präsenzlehre oft der Fall ist. Gewiss, Studierende sind erwachsene und mündige Menschen, die sich freiwillig für ein Studium entschieden haben. Ein Kollege von mir, der diesen Text dankenswerterweise vorab gelesen hat, meinte, dass es schon etwas Mut brauche, um von solchen Erfahrungen zu erzählen, dass sich hier auch Kolleg/innen über mich lustig machen könnten. Meiner Ansicht nach lässt es sich aber kaum bestreiten, dass auch für Erwachsene Beziehungen zu anderen Menschen ihre Motivation durchwegs beeinflussen. Personalentwickler/innen kennen diese Dynamik nur zu gut. Ich würde meinen, dass wir als Dozierende diese Dimension unserer Tätigkeit, vor allem im Kontext von COVID-19, auf eigene Gefahr hin ignorieren, nicht zuletzt weil diese emotionale Arbeit, egal in welcher Form, auch uns zu Gute kommt.

Im Laufe der letzten Monate habe ich mich immer wieder mit Kolleg/innen an verschiedenen deutschen Universitäten über ihre Erfahrung in der digitalen Lehre ausgetauscht. Viele Überlegungen, die ich hier darlege, sind im Kontext solcher wertvollen und bereichernden Gespräche entstanden. Besonders eindrücklich fand ich die Erzählungen eines Kollegen, der seine Veranstaltungen ausschließlich mit schriftlichen Arbeitsaufträgen gestaltete. Er erzählte von seinem zunehmenden Frust mit der Lehre. Ihm fehle die nötige Empathie für die Studierenden gerade angesichts häufig mangelhafter Leistungen. Vor diesem Hintergrund traue ich mich zu sagen, dass meine emotionale Arbeit dieses Semester auch für mich eine schützende und motivierende Funktion hatte. Die letzten drei Monate waren herausfordernd und anstrengend. Meine Lernkurve war steil. Frustriert war ich aber nie. Die Empathie für meine Studierenden, die unter anderem auch als Resultat meiner emotionalen Arbeit entstand, hat mich, so meine ich, vor so mancher Frustration bewahrt.

Und Gründe für Frustration gab es genug: Manche Unterrichtsformate, wie z.B. Forumsdiskussionen, funktionierten in meinen Veranstaltungen einfach nicht; in Videokonferenzen streikten manchmal die Internetverbindungen meiner Studierenden, vor allem wenn sie versuchten, ihre Kamera zu aktivieren um Diskussionsbeiträge im Plenum zu leisten; Bibliotheken waren nicht in der Lage, für diese Studierenden Arbeitsplätze für die Teilnahme an Videokonferenzen zur Verfügung zu stellen; und für die Mehrarbeit, die in meiner Wahrnehmung unvermeidbar mit der digitalen Lehre einhergeht, gibt es bis heute keine adäquate Kompensation. Und dennoch, mein digitales Semester war eine durchwegs spannende und lehrreiche Erfahrung. Auch ohne Präsenz kann man Lernprozesse bei den Studierenden anregen und unterstützen. Als Althistorikerin mit philologischen Tendenzen habe ich für diese Dynamik einen Begriff gefunden: Adsenz.

Adsenz statt Präsenz
Das deutsche Wort „Präsenz“ stammt von dem lateinischen praesens, einem Kompositum aus dem Präfix prae(s) und dem Verb esse. Wörtlich heißt dies zunächst einmal „gegenwärtig sein“, „da sein“. Im Lateinischen gibt es aber noch eine andere, parallele Konstruktion, welche Formen von Gegenwärtigkeit ausdrücken kann: die Kombination aus dem Präfix ad und dem Verb esse. Wenn Menschen und Götter in lateinischen Texten „adsent“ sind, wird oft nicht nur über ihre Anwesenheit geredet; die jeweiligen Menschen und Götter sind aktiv an den jeweiligen Situationen beteiligt. Oft übersetzen wir ihre Tätigkeit als eine Form von Beistand, als Hilfestellung und Unterstützung. Und eben genau diese Form des Gegenwärtig-Seins ist nach meiner Erfahrung in der digitalen Lehre nicht nur möglich: Oft bieten die unterschiedlichen Formate neue und bessere Möglichkeiten, die Studierenden bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu unterstützen und ihnen zu helfen, eben „adsent“ zu sein.

Das Semester ist nun zu einem Ende gekommen, und jetzt werden für eine gewisse Zeit andere Dinge im Vordergrund stehen. Gleichzeitig bin ich schon gespannt auf die Seminararbeiten meiner Studierenden. Im Moment vermute ich, dass sie so ausfallen werden, dass ich verschiedene Praktiken der Adsenz, die ich im digitalen Semester entdeckt habe, nicht nur im digitalen Wintersemester weiterentwickeln werde, sondern sie eben auch in meine Präsenzlehre, wenn es sie denn wieder gibt, integrieren werde.