Forum: Zeiterfahrung: S. Patzold: Covid-19 und die Folgen für die Mittelalterforschung

Von
Steffen Patzold, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Ich bin Historiker, kein Prophet. Die Schlagzahl wissenschaftlichen Publizierens ist in der Geschichtswissenschaft viel niedriger als etwa in der Virologie oder der Medizin. Wichtige mediävistische Zeitschriften erscheinen halbjährlich, manche gar nur einmal pro Jahr; und ein Fachbuch braucht eine noch längere Vorbereitung. Zurzeit lässt sich daher noch nicht beobachten (geschweige denn seriös messen), in welcher Weise die Corona-Pandemie unseren wissenschaftlichen Blick auf diejenige Epoche verändern wird, die wir traditionell als „Mittelalter“ bezeichnen. Zu dieser Frage kann ich vorerst nur munter spekulieren. In den kommenden Jahren werden wir es dann rückschauend besser wissen.

Dass die Pandemie auch für die Geschichtsbilder, die die Mediävistik entwirft, nicht folgenlos bleiben wird, ist immerhin einigermaßen wahrscheinlich. Die Geschichtswissenschaft ist – auch und gerade in ihren älteren Epochen – eine Gegenwartsdisziplin. Es ist deshalb keine Hexenkunst zu erraten, dass in den kommenden Monaten und Jahren eine kleine Flut von Artikeln und Büchern erscheinen wird, die sich mit Seuchen im Mittelalter befassen. Sie werden sicher von den beiden großen Epidemien erzählen, also von der Justinianischen Pest des 6. bis 8. Jahrhunderts und dem sogenannten Schwarzen Tod seit den 1340er-Jahren. Wahrscheinlich werden aber auch kleinere Phänomene neue Aufmerksamkeit finden – wie etwa jene Tierseuche, die im Jahr 810 in Westeuropa so viele Rinder sterben ließ, dass die militärische Schlagkraft des Karolingerreichs beeinträchtigt war und Menschen in der Erzdiözese Lyon anfingen, Verschwörungsmythen über Spione in Benevent zu glauben. (Man bezichtigte Leute, im Auftrag des Herzogs Grimoald das Vieh im Frankenreich zu vergiften; etliche der vermeintlichen Täter wurden gelyncht.)1

Außerdem wird man einigermaßen sicher prognostizieren dürfen, dass der Begriff der „Krise“ künftig in der Mittelalterforschung noch inflationärer gebraucht werden wird, als es heute schon der Fall ist. Wahrscheinlich werden in dieser Diskussion Situationen des Umbruchs, des kurzfristigen sozialen und wirtschaftlichen Wandels, der unter hohem Druck stattfindet, genauer in den Blick der Forschung geraten. Der Tübinger SFB 923 würde solche Situationen konzeptuell als „Bedrohte Ordnungen“ erfassen.2

Wissenschaftsgeschichtlich noch interessanter als derlei Seuchen- und Krisen-Studien könnten allerdings diejenigen Verschiebungen und Neuakzentuierungen werden, die andere, eher klassische Felder mediävistischer Forschung betreffen. Mein Auftrag für dieses Forum lautet denn auch, „etwas aus der Perspektive des Mittelalters und der Frage von ‚Staatlichkeit‘“ beizutragen.3 Dieses Forschungsfeld ist nun in der Tat alt, riesig und unübersichtlich. Entsprechend kompliziert und unsicher wird in diesem Bereich mein akademisches Ratespiel. Ich soll es dennoch wagen: Wird die Covid-19-Pandemie die mediävistische Forschung zur Geschichte des Staates im Mittelalter beeinflussen? Und wenn ja, wie?

Beim Versuch, meinen Auftrag zu erfüllen und diese Fragen zu beantworten, werde ich in zwei Schritten vorgehen: Zunächst muss ich, in aller Kürze, einen Überblick über die bisherige wissenschaftliche Debatte zum Thema geben – von den älteren Diskussionen im 19. Jahrhundert, über den Paradigmenwechsel der 1930er-/1940er-Jahre bis hin zu den jüngsten Entwicklungen seit etwa 1990. Erst auf dieser Basis kann ich dann halbwegs begründet spekulieren, wie die gegenwärtige Pandemie dieses gesamte große Forschungsfeld beeinflussen könnte. Ich hoffe, es ist keine Zumutung, dass ich mich bei alledem auf die Diskussion zum Staat im frühen und hohen Mittelalter konzentriere, die ich etwas besser überblicke als die Debatten über die einschlägigen Entwicklungen im Spätmittelalter.

I. Immer schon eine Gegenwartsdebatte: Die ältere Diskussion über den Staat im Mittelalter
Die Diskussion über den Staat im Mittelalter reicht bis in die Anfänge meiner Teildisziplin zurück – jedenfalls in Deutschland. Als sich die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert ausbildete und im Zuge dessen auch die Mittelalterforschung zur Wissenschaft wurde, war die Frage des Staates hierzulande politisch hochaktuell. Der wissenschaftliche Blick zurück ins Mittelalter war dabei von Beginn an mit der Politik der Gegenwart verflochten: Gerade in der frühen Zeit, am besten sogar bei den „Germanen“, suchte man Vorbilder für eine deutsche Verfassung, über die damals im Zusammenhang mit den Reichseinigungsdebatten politisch zäh und intensiv diskutiert wurde. Georg Waitz4, Paul Roth5, Heinrich von Sybel6 und viele andere mehr debattierten in ihrer Erforschung des „deutschen“ Mittelalters und seiner politischen Ordnung im Grunde stets auch ihre eigene Gegenwart mit.

Eine Kernfrage dieser Debatte lautete zugespitzt: Übte der König eine spezifische, nämlich öffentliche Gewalt über einen Verband freier Untertanen aus? Oder war seine Herrschaft privatrechtlich ausgestaltet und nicht grundsätzlich von derjenigen anderer Herren unterschieden, weil sie etwa im Wesentlichen auf lehnrechtlichen Bindungen beruhte? Um 1900 herum hatten sich tonangebende Historiker wie Georg von Below7 in dieser Diskussion klar positioniert: Der König hatte – zumindest in der Frühzeit – durchaus eine besondere, öffentliche Gewalt über die Freien ausgeübt; es gab also einen deutschen Staat. Allerdings war diese öffentliche Gewalt im Laufe der Zeit, spätestens aber seit dem 10. Jahrhundert, immer weiter von lehnrechtlichen (und damit privatrechtlichen) Bindungen zersetzt worden, die ganz andere, konkurrierende Loyalitäten und Verpflichtungen begründeten. Von hier aus meinte man dann auch eine Entwicklungslinie hin zur Schwächung der Zentralgewalt durch den Adel und zur Ausbildung des Alten Reiches ziehen zu können (mit dem die weitaus meisten Mittelalterhistoriker damals haderten, weil es die Entstehung eines deutschen Nationalstaates verhindert habe).

Gegen diese Position trat in den 1930er- und 1940er-Jahren die sogenannte Neue deutsche Verfassungsgeschichte an: Otto Brunner, Walter Schlesinger, auch Theodor Mayer, Heinrich Dannenbauer und andere mehr warfen ihren Vorgängern des 19. Jahrhunderts vor, allzu schlicht die Begriffe ihrer eigenen Zeit dem Mittelalter übergestülpt zu haben. Brunner hielt die fundamentale, die gesamte Diskussion strukturierende Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privat-rechtlichen Herrschaftsformen für anachronistisch: Die Zeitgenossen des Spätmittelalters hätten zwischen beidem gar nicht differenziert – und mithin auch nicht zwischen Gesellschaft und Staat oder zwischen Macht und Recht. Damit hatte Brunner im Grunde die gesamte fein verästelte Debatte des 19. Jahrhunderts für obsolet erklärt. Stattdessen wollte er im Spätmittelalter nur eine einzige, ihrem „Wesen“ nach gleichförmige Art von Herrschaft erkennen – die erwachsen sei aus der Herrschaft des Hausherrn über sein Haus und wesentlich darauf beruhte, dass der „Herr“ Schutz zu gewähren vermochte, dafür aber von seinen „Holden“ Treue einforderte. Die Herrschaft des Grundherrn über seine Hörigen, auch die Herrschaft des Landesherrn über sein Land hätten sich in ihrem „Wesen“ nicht von dieser Herrschaft über das Haus unterschieden.8

Walter Schlesinger schrieb in seiner 1941 publizierten Habilitationsschrift zur Entstehung der Landesherrschaft in Sachsen dieses Modell zurück bis in das Frühmittelalter. Er ergänzte es im Zuge dessen allerdings auch um einen zweiten Ursprung mittelalterlicher Herrschaft: Neben der Hausherrschaft sah er auch in der Herrschaft frühmittelalterlicher Könige über ihre kriegerische Gefolgschaft eine „Wurzel“ mittelalterlicher Herrschaft. Das Lehnswesen betrachtete Schlesinger für die Zeit seit dem 10. Jahrhundert zwar ebenfalls als einen wichtigen historischen Faktor; seine historische Bedeutung und Wirkung beurteilte er nun allerdings ganz anders als die Forschung des 19. Jahrhunderts: Es habe nämlich in einer Welt, in der viele einzelne Herrschaftskreise des Adels und des Königs zunächst gar nicht institutionell zusammengeschlossen gewesen seien, überhaupt erst eine feste, rechtlich fundierte Bindungsform institutionalisiert. Statt einen Staat aufzulösen, trug es aus Schlesingers Sicht kräftig zur Integration vieler einzelner Herrschaftskreise zu einem Gesamtverband bei.9

Heinrich Dannenbauer wiederum wollte dementsprechend auch schon in der Frühzeit keine freien Germanen als Untertanenverband unter gewählten politischen Führern mehr sehen: Stattdessen zeichnete er eine spätantike und frühmittelalterliche „germanische“ Welt, die strukturiert war von Adel, Burg und Herrschaft.10 Theodor Mayer schließlich prägte den Begriff des „Personenverbandsstaats“, dem in der Nachkriegszeit ein erstaunlicher Erfolg beschieden war: Er verwies eigentlich nur darauf, dass die Herrschaft eines Königs (aber auch eines Herzogs oder Grafen) bis ins Hochmittelalter hinein eben nicht alle diejenigen Freien erfasst habe, die auf einer bestimmten Fläche lebten, sondern im Wesentlichen auf den persönlichen Bindungen zwischen dem König und den einzelnen Adligen beruht habe.11

Selbstverständlich ist all dies nur ein Holzschnitt: Die Diskussionen, die Mediävisten führten, waren im 19. Jahrhundert wie auch in den 1930er- und 1940er-Jahren feiner ausdifferenziert, die Modelle komplexer. Worauf es mir mit dieser Skizze ankommt, ist aber erst einmal nur dies: Die mediävistischen Debatten über den Staat spiegelten im 19. Jahrhundert wie auch im Zuge der „Neuen Verfassungsgeschichte“ (die in der deutschen Mittelalterforschung noch bis in die 1980er-Jahre hinein das vorherrschende Modell bleiben sollte) erstaunlich ungebrochen die jeweilige Gegenwart und deren Befindlichkeiten wider: Längst haben Mediävisten selbst, aber auch unsere Kolleg/innen aus der Neuen Geschichte die Zeitgebundenheit der mediävistischen Staatsdebatten im 19. und 20. Jahrhundert nachgewiesen.12 Interessanterweise kleidete sich diese Zeitgebundenheit in beiden Fällen allerdings argumentativ in das Gewand der Alterität: Im 19. Jahrhundert diente das Mittelalter (und vor allem dessen Frühzeit) lange Jahrzehnte hindurch als Vorbild für eine zukünftige politische Ordnung Deutschlands, die man sich ganz anders wünschte als die real existierende der Gegenwart. Und in den 1930er-Jahren haben dann die Vertreter der „Neuen Verfassungsgeschichte“ die fundamentale Andersartigkeit der Zeit vor der Moderne sogar explizit als wissenschaftlichen Ausgangspunkt gewählt: Sie verwarfen ja die „modernen“ Unterscheidungen öffentlich/privat, Staat/Gesellschaft, Macht/Recht gerade deshalb, weil sie unangemessen seien, um das ferne, andersartige Mittelalter zu erforschen.

II. Immer noch eine Gegenwartsdebatte: Die jüngeren mediävistischen Diskussionen über den Staat
Im Prinzip wissen wir selbstverständlich alle, dass auch unsere eigenen Perspektiven auf das Mittelalter von den Befindlichkeiten der Gegenwart mitgeprägt sind: Das ist Proseminar-Stoff. Und doch fällt es uns genauso selbstverständlich schwer, diese Zusammenhänge im Einzelnen in den eigenen Arbeiten zu sehen. Wie also wird man in 50 oder 100 Jahren über die mediävistischen Perspektiven auf den Staat aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert denken, über die Forschung aus der Zeit noch vor der Covid-19-Pandemie?

Man kann in der deutschen mediävistischen Forschung zum „Staat“ mittlerweile recht deutlich mehrere Trends erkennen, die um 1990 herum ihren Anfang genommen haben und ähnlich beispielsweise auch in der britischen, US-amerikanischen und französischen Forschung nachzuweisen sind. Die Könige und Kaiser des Karolingerreiches und ihre Nachfolger in Europa sind seither tendenziell schwächer geworden: Was dem 19. und früheren 20. Jahrhundert noch als Periode kaiserlicher Herrlichkeit und Machtvollkommenheit gegolten hatte, als Glanzzeit vor dem Niedergang des Spätmittelalters mit seinem ungeliebten Monstrum von Altem Reich, das nimmt sich heute weit weniger strahlend aus. Die Hierarchien zwischen Herrscher und Adel gelten mittlerweile als ziemlich flach. Die Karolinger, Ottonen, Salier, Staufer kommen in jüngeren Darstellungen auch nicht mehr als visionäre Politiker daher, die danach trachteten, mit starker Hand langfristige Strukturvorhaben zur Kräftigung der Zentralgewalt um- und geopolitische Interessen durchzusetzen (ein Vorhaben, an dem spätestens die Staufer dann aber um 1200 grandios gescheitert wären). Ihre Fähigkeit, politische Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, kannte Grenzen – vor allem im Konsens der Großen. Politik unter den Bedingungen „konsensualer Herrschaft“ gilt als angeleitet und eingehegt von ungeschriebenen Spielregeln; königliches und adliges Handeln in der Öffentlichkeit erscheint als Abfolge von Gesten und Ritualen, die den Grundkonsens, das Ranggefüge der Großen und den Status quo zu erhalten helfen sollten. Könige und Kaiser wirken wie Moderatoren, die in langen Verhandlungen auf kleinen und großen Versammlungen immer wieder neu die Mächtigen des Reiches von sich überzeugen und die Rangordnung im Adel in einem Gleichgewicht halten müssen, das im Grunde doch immer fragil bleibt. Und sie wirken wie Regisseure, die nicht zuletzt mit fein ausgewogenen und bis ins Detail ausgearbeiteten Inszenierungen in der Öffentlichkeit Konflikte begrenzen, Konsens herstellen und damit das erzeugen, was die Zeitgenossen formelhaft als „Frieden und Recht“ bezeichneten. Auch dieses neuere Bild aber ist interessanterweise gerahmt von einer Alteritätsbehauptung: Die früh- und hochmittelalterliche Welt der konsensualen Herrschaft, der Spielregeln, Rituale, Gesten, Inszenierungen, ohne Gesetze, ohne politische Langfristvorhaben, ohne bürokratischen Apparat – sie sei ganz anders gewesen als unsere eigene.13

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich persönlich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass das hier nur sehr grob skizzierte Modell uns im Moment weit besser hilft, mittelalterliche Texte interpretierend zu erschließen und das Handeln von Königen und Adligen zu erklären, als die Modelle des 19. Jahrhunderts oder gar der „Neuen Verfassungsgeschichte“ der 1930er- und 1940er-Jahre. Aber selbstverständlich kann man sich fragen, wie sehr auch das gegenwärtige Modell unsere eigenen Erfahrungen mit politischer Entscheidungsfindung widerspiegelt. Vielleicht wird man in 50 oder 100 Jahren darüber staunen, wie sehr sich postmoderne Überzeugungen von der Dezentrierung des Subjekts auch in den Mittelalterbildern der Jahrtausendwende niedergeschlagen haben?14 Vielleicht wird man darüber staunen, wie sehr die fundamentalen Rahmenbedingungen politischen Handelns im Reich der Ottonen und Salier denen der Entscheidungsfindung in deutschen Universitäten der Jahrzehnte um das Jahr 2000 ähnlich wurden? Vielleicht wird ein künftiges Forschungsprojekt einmal vergleichend Entscheidungsprozesse in Geschichtsentwürfen zur Staatlichkeit des Früh- und Hochmittelalters einerseits und in Gremien und Ausschüssen in den Universitäten des endenden 20. Jahrhunderts andererseits untersuchen? Es ließen sich wohl erstaunliche Parallelen konstatieren: hier wie da informelle Vorgespräche und Vorklärungen, hier wie da aufwendig inszenierte konsensuale Beschlussfassungen, hier wie da flache Hierarchien, hier wie da eine hohe Bedeutung der persönlichen Nähe und des Zugangs zur Zentralgewalt, hier wie da ein Akzent auf dem Streben nach Rang (statt nach Macht oder ökonomischem Gewinn), hier wie da Konflikte nicht als Ereignisse, sondern als Struktur, ausgetragen und beigelegt in ritualisierter Form, geleitet von ungeschriebenen Spielregeln, mit der Notwendigkeit, das Gesicht aller Beteiligten zu wahren.

Man könnte so noch ein Weilchen fortfahren, die wenigen Punkte mögen hier genügen. Ich bin – ich wiederhole es – kein Prophet. Aber es scheint mir immerhin gut denkbar, dass im Rückblick die Debatten der deutschen Mediävistik über die politische Ordnung und Praxis im Karolingerreich und seinen Nachfolgern merkwürdig stark durch den Erfahrungsraum westlicher Universitäten um die Jahrtausendwende geprägt erscheinen könnten.

III. Was ändert Covid-19?
Was wird die Covid-19-Pandemie seit März dieses Jahres an alledem ändern? Meine Antwort kann nur vorsichtig tastend ausfallen. Ich persönlich habe mit Staunen (und auch einiger Besorgnis) in den vergangenen Monaten zweierlei zur Kenntnis genommen: Zum einen habe ich gelernt, wie schnell, wie tief und wie wirkungsvoll der Staat in der Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts in mein Leben einzugreifen vermag – jedenfalls in einer Situation bedrohter Ordnung, als Reaktion auf eine Katastrophe. „Kontaktverbote“, „Ausgangssperren“, „Ladenschließungen“, „Einschränkungen der Reisefreizügigkeit“, „Quarantänevorschriften“, „Maskenpflicht“, „Schulschließungen“ – die Liste der Schlagwörter, die Veränderungen des Lebens im Jahr 2020 bezeichnen, ist lang. Ich habe in den vergangenen Monaten sehr konkret erfahren: Der Staat kann erschreckend viel! Er kann mich 14 Tage lang in Quarantäne stecken; er kann mir verbieten, mich außerhalb meiner vier Wände oder meines Wohnblocks aufzuhalten; er kann Kinos, Konzerthallen, Museen ebenso schließen wie Schulen, Universitäten und nationale Grenzen.

Zum anderen habe ich aber auch gelernt, wie schnell der Wohlstand ganzer Gruppen verloren gehen kann, die nicht das Privileg der Beamtenbezüge oder eines Gehalts des öffentlichen Dienstes genießen. Die Ökonomie und ihre hohe Bedeutung für staatliches Handeln werden in der Covid-19-Pandemie für mich jedenfalls in neuer Weise anschaulich. Reichtum und ökonomische Strukturen beeinflussen maßgeblich den Weg durch die Pandemie (und generieren erhebliche Unterschiede für die verschiedenen betroffenen Gruppen).

Da die mediävistische Debatte über den Staat bisher immer auch ein Dialog mit der Gegenwart war, spricht viel dafür, dass sich auch jetzt die Diskussion über den Staat im Mittelalter neu akzentuieren wird. Die ungewohnte Erfahrung der Handlungsmacht und Effizienz des Staates und die gegenwärtig so augenfällige Bedeutung der Ökonomie für staatliches Handeln könnten die mediävistischen Perspektiven auf die politische Praxis im Europa des frühen und hohen Mittelalters verändern. Möglicherweise führt die Erfahrung effizienten und weitreichenden staatlichen Handelns heute dazu, dass sich auch unsere Vorstellungen von den Handlungsspielräumen von Aristokraten und Königen im früheren Mittelalter verschieben: Aus unserer Gegenwart heraus geraten Quellenaussagen wieder stärker in den Blick der Mediävistik, die Könige und ihre Großen als Menschen mit großer Macht und weitreichenden Durchgriffsmöglichkeiten gegenüber anderen zeigen. Kein Zweifel: Konsens war ein wichtiges Schlagwort des politischen Diskurses im europäischen Mittelalter. Aber Kaiser, Könige und andere hohe Herren vermochten ihre Gegner im Einzelfall auch hart anzugehen, ins Exil zu treiben, zu inhaftieren oder töten zu lassen. Möglicherweise führen die gegenwärtigen Erfahrungen dazu, diese dunkle Seite der Macht (die an deutschen Universitäten eher selten zu erfahren ist) wieder stärker zu betonen.

Wichtig scheint mir: Einschlägige Quellenuntersuchungen hierzu werden die aktuellen wissenschaftlichen Modelle politischer Ordnung im frühen und hohen Mittelalter nicht ganz und gar falsifizieren können. Zentrales wird bleiben: Die Erfahrungen der Gegenwart beziehen sich ja gerade auf eine spezifische Situation, eine bedrohte Ordnung, auf die der Staat reagiert. Diese Erfahrungen werden deshalb vermutlich nichts daran ändern, dass wir das Handeln von Mächtigen im Mittelalter eher nicht von langfristigen Planungen getragen sehen, sondern von dem Zwang, immer wieder neu und kurzfristig auf konkrete Herausforderungen zu reagieren. Die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie könnten unser Bild nur insofern neu akzentuieren, als die Hierarchien steiler und die Handlungsspielräume der Mächtigen größer werden. Schon das allerdings brächte interessante neue Akzente in die alte Debatte!

Und vielleicht wird die gegenwärtige Erfahrung ja auch das Interesse der Mediävistik an den harten ökonomischen Grundlagen herrschaftlichen Handelns stärken? Mit der Wirtschaftsgeschichte des Früh- und Hochmittelalters beschäftigt sich heute, nach dem cultural turn, weltweit nur noch eine ziemlich überschaubare Zahl an Mediävist/innen. Im aktuellen Modell früh- und hochmittelalterlicher Staatlichkeit kommt die Ökonomie so gut wie gar nicht mehr vor. Sie wieder stärker in das Forschungsfeld zu integrieren wäre nicht nur aus den Erfahrungen mit Covid-19 heraus ein wichtiges Unterfangen – und ein lohnenswertes noch dazu!

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Agobard von Lyon, De grandine et tonitruis, ed. L. van Acker (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 52), Turnhout 1981, S. 3–15. hier c. XVI, S. 14 f.
2 Vgl. Ewald Frie/Boris Nieswand, »Bedrohte Ordnungen« als Thema der Kulturwissenschaften. Zwölf Thesen zur Begründung eines Forschungsbereichs, in: Journal of Modern European History 15 (2017), S. 5–15.
3 So in der Einladung zur Mitarbeit von Daniel Menning (E-Mail vom 4. Juni 2020).
4 Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 8 Bde., Kiel/Berlin 1844–1878; vgl. dazu Jürgen Weitzel, Georg Waitz (1813–1886). Deutsche Verfassungsgeschichte, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hg. v. Volker Reinhardt, Stuttgart 1997, S. 707–710.
5 Paul von Roth, Geschichte des Beneficialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert, Erlangen 1850.
6 Heinrich von Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, Frankfurt/Main 1844.
7 Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Bd. 1: Die allgemeinen Fragen, Leipzig 1914, S. 38–190.
8 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 1973 (= Neudruck der 5. Auflage, Wien 1965, zuerst 1939; die Ausgaben der Nachkriegszeit sind deutlich gegenüber den Ausgaben von 1939 und 1941 verändert).
9 Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen (Sächsische Forschungen zur Geschichte 1), Dresden 1941 [ND. Darmstadt 1964].
10 Heinrich Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen, in: Historisches Jahrbuch 61 (1941), S. 1–50.
11 Theodor Mayer, Die Entstehung des »modernen« Staates im Mittelalter und die freien Bauern, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 57 (1937), S. 210–288, hier bes. S. 210–214; ders., Adel und Bauern im Staat des deutschen Mittelalters, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hg. v. dems., Leipzig 1943, S. 1–21, hier S. 7.
12 Vgl. (aus der überreichen Literatur) z.B. Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte 1), Berlin 1961; Gadi Algazi, Otto Brunner – „konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit. In: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, hg. v. Peter Schöttler (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1333), Frankfurt am Main 1997, S. 166–203; weiteres bei Steffen Patzold, Der König als Alleinherrscher? Ein Versuch über die Möglichkeit der Monarchie im Frühmittelalter, in: Monarchische Herrschaft im Altertum, hg. v. Stefan Rebenich unter Mitarbeit von Johannes Wienand (Schriften des Historischen Kollegs 94), Berlin/Boston 2016, S. 605–633.
13 Ich nenne hier – stellvertretend für viele weitere einschlägige Beiträge – nur exemplarisch: Hagen Keller, Reichsorganisation, Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen im Regnum Teutonicum, in: Il secolo di ferro: mito e realtà del secolo X, 19–25 aprile (Settimane di studio del Centro italiano di studi sul’alto medioevo 38), Spoleto 1991, S. 159–203; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ders., Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003; Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig u.a. Historische Forschungen 67). Berlin 2000, S. 53–87; Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Timothy Reuter, Assembly politics in western Europe from the eighth century to the twelfth, in: ders., Medieval polities and modern mentalities, Cambridge 2006, S. 193–216; sowie die drei Bände: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen, München 2005, S. 83–89; Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Denkschriften. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 334. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006; Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl/Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 386. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009.
14 Vgl. Michael Borgolte, Biographie ohne Subjekt, oder wie man durch quellenfixierte Arbeit Opfer des Zeitgeistes werden kann, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 249 (1997), S. 128–141.

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