Forum: Zeiterfahrung: A. Landwehr: Was war die Zukunft nach Corona? Ein Blick zurück nach vorn

Von
Achim Landwehr, Historisches Seminar VIII, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Gewesene Zukunft – kommende Vergangenheit. Ein Rückblick
An die Zukunft während der allseits sogenannten Corona-Krise kann ich mich nicht mehr recht erinnern. Sah sie nicht irgendwann genauso aus, wie alle anderen Zukünfte auch? War das nicht so ein seltsamer, diskursiv komplexer, kollektivpsychologisch aufschlussreicher und nicht zuletzt politisch motivierter Brei aus alt bekannten Fortschrittshoffnungen und Untergangsvisionen? Wurde nicht von den einen die Ausrottung der Menschheit befürchtet, von den anderen die Wiederkehr von Glanz und Gloria erhofft? Wurde nicht schon recht bald so getan, als sei die Corona-Pandemie nur ein kleiner Schluckauf, nach dessen Abklingen man sich wieder entspannt zurücklehnen und weitermachen könne, wie zuvor?

Mir ist zumindest so, als sei von den einen versucht worden, Zuversicht durch die Zusicherung zu verbreiten, alle gingen letztlich gestärkt aus dieser Krise hervor, während andere so taten, als gäbe es das Virus gar nicht. Dritte schließlich, die lautstarke Minderheit von der unvermeidlichen „Fraktion Verschwörungstheorie“, raunten (oder brüllten gar) den Untergang von fast allem herbei, und taten damit nicht sehr viel mehr als die These zu bestätigen, dass der Weltuntergang deswegen nie aus der Mode kommt, weil ein Teil der jeweils Jetztlebenden es einfach nicht ertragen kann, dass nach dem eigenen Tod noch so viel Leben kommen soll, an dem man nicht teilhaben wird. Verkraftbar ist diese Ungerechtigkeit nur durch die Gewissheit der Apokalypse.1

Aber wie gesagt, ich kann mich an die Zukünfte während der Corona-Krise nicht mehr so recht erinnern. Sie liegen schon eine ganze Weile zurück. Ein ganzes Jahrzehnt. Was man sich damals als Zukunft vorgestellt hat, ist inzwischen zu einer Gegenwart geworden, die nur bedingt etwas mit den damaligen Imaginationen zu tun hat.

Und von der Situation vor Corona weiß ich noch nicht allzu viel, wissen wir alle noch nicht allzu viel. Es ist gerade mal einige Monate her, im Frühjahr 2030, da spülte über alle medialen Verbreitungskanäle in diversen Spezialbeiträgen eine jubiläumsmäßige Rückerinnerungswelle über die globale Leser-, Hörer- und Zuschauerschaft. „10 Jahre Corona – Die Welt im Griff des Virus“. So oder so ähnlich lauteten die Titel. Es gab nicht nur die üblichen chronologisch aufbereiteten Beiträge, die mit der Logik zeitlich-linearer Kausalität vorführten, was weshalb geschehen war (Wuhan, die WHO, erst das Kleinreden des Virus, dann die Grenzsperrungen, die Unterbrechung globaler Waren- und Personenströme, das Starren auf exponentiell steigende Infektionsstatistiken, Lockdown, Corona-Frust und Corona-Leugnungen, die Normalisierung des Virus, die ersten Impfstoffe, das Verschwinden des Themas aus den Medien), es gab auch zahlreiche Zeitzeugen-Interviews, die belegen sollten, wie es damals wirklich gewesen war. Krankenpfleger, Virologinnen, Angehörige von Verstorbenen, Politikerinnen, Organisatoren von Anti-Corona-Demos – sie alle kamen zu Wort. Durch die Zusammenschau wurde uns einmal mehr der Eindruck vermittelt, wir wüssten eigentlich, was passiert ist, warum es passiert ist und mit welchen Auswirkungen es passiert ist.

Dabei sind wir jetzt, zehn Jahre nach dem Höhepunkt der Pandemie, kaum schlauer als fünf Minuten nach dem ersten Nachweis des Virus. (In Ordnung, ich übertreibe, ein wenig schlauer sind wir schon.) Es stellte sich zum Beispiel die Frage, wann man die 10-jährige Gedenkveranstaltung stattfinden lassen sollte. Ginge es nach dem ersten Nachweis des Virus, hätte das große Erinnern bereits im Winter 2029 stattfinden müssen. (Die chinesischen Staatsmedien haben sich daran orientiert.) Da die Pandemie jedoch erst im Frühjahr 2020 zu einem globalen Phänomen wurde, haben sich die meisten Länder stillschweigend auf 2030 als Corona-Jubiläumsjahr geeinigt.

Das Jubiläum diente wesentlich dazu, Bilanz zu ziehen. Was war geschehen? Mit welchen Auswirkungen? Und was haben wir gelernt? Wenn ich mich recht entsinne, wurden bereits mehr oder minder unmittelbar nach Auftreten des Virus ähnliche Fragen gestellt, wurde ebenfalls beständig Bilanz gezogen, obwohl das Geschehen doch gerade erst geschah.

Dabei ist es immer schon zu früh, um Bilanz zu ziehen. Nicht nur, weil das Virus SARS-CoV-2 die Welt vor eine radikal neue Situation gestellt hat, für die noch keine durchdachten Pläne in der Schublade lagen (wie man an den unterschiedlichen Reaktionen der Staatsregierungen sehen konnte), und Bilanzen erst dann angebracht sind, wenn eine kritische Anzahl plausibler Informationen zur Auswertung vorliegt. Nein, es ist auch immer schon zu früh für Bilanzen, weil wir immer schon zu spät dran sind. Bilanzen oder Beweisaufnahmen fördern in uns mit einer nahezu gnadenlosen Notwendigkeit den Buchhalter oder die Richterin zutage. Dann muss ein Urteil gefällt werden, muss eine Summe als Endergebnis gezogen werden, und sobald das geschehen ist, darf angeblich auch die Frage gestellt werden, wer denn für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist.

Um hier nicht missverstanden zu werden: Ich bin durchaus ein Freund des Zur-Rechenschaft-Ziehens. Aber bitte auch nur dann, wenn Verantwortlichkeiten eindeutig zugeordnet werden können. Bei einer Virus-Pandemie (oder einem Erdbeben oder einem Vulkan-Ausbruch) fällt mir das schwer. Sollten wir die Fledermaus verurteilen, von der das Virus wahrscheinlich auf den Menschen übersprang? Oder den Markt in Wuhan, wo die Ausbreitung ihren Anfang nahm? Oder die chinesische Regierung, die nicht früh genug informiert hat? Oder die WHO, die anfangs nicht nachdrücklich genug gewarnt hat? Oder alle Regierungen aller betroffenen Länder, weil sie nicht die angemessenen Schutzmaßnahmen ergriffen haben? Oder sollten wir den Corona-Verschwörungstheoretiker/innen folgen und Bill Gates, die „Impfmafia“ und den deep state zur Rechenschaft ziehen? Oder sollten wir vielleicht alle Selbstgeißelung betreiben, weil unser globalisiertes Leben mit weltweiter Mobilität und einem planetarischen Handelsnetz die Ausbreitung überhaupt und in dieser Geschwindigkeit erst ermöglicht hat?

Dass sich all diese (und noch sehr viel mehr) Fragen stellen und sogar irgendwie beantworten lassen, sogar unterschiedlich und durchaus konträr beantworten lassen – zeigt das nicht bereits, dass wir immer schon zu spät dran sind, also immer schon eine Wirklichkeit, oder besser: viele Wirklichkeiten hinter uns gelassen haben, derer wir im Nachhinein nur ungenügend habhaft werden können, weil sie so zügig zu Nicht-mehr-Wirklichkeiten geworden sind? Feststellen zu wollen, was geschehen ist, muss daher schon immer zu früh dran sein, weil solche Feststellungen von der nächsten Beschreibung des Geschehenen über kurz oder lang überholt und abgelöst werden.

Deswegen weiß ich noch gar nicht, was vor und während der Corona-Pandemie geschehen ist.

Gegenwärtige Zukünfte
Kaum verwunderlich angesichts dieser Situation, dass das Tagebuchschreiben im Jahr 2020 einen Boom erlebte. Die quantitative Zunahme von Tagebüchern bei gleichzeitiger Abnahme von Zukunftsgewissheit lässt sich in verschiedenen historischen Konstellationen beobachten: Glaubenskrisen, Revolutionen, Kriege oder eben Seuchen sind förderlich für diese Textgattung.

Es ist mir noch erinnerlich, während des Jahres 2020 ganz froh gewesen zu sein, einem unmittelbaren Impuls nicht gefolgt zu sein und auf ein Corona-Tagebuch (gar auf dessen Veröffentlichung) verzichtet zu haben. Denn von diesen Diarien gab es sehr schnell sehr viele. Unübersichtlich viele. Sie schossen wie Pilze aus dem Boden. Das entsprechende Corona-Archiv wurde auch zügig angelegt.2 Ein Blick in dessen Bestände würde sich lohnen, um die Frage zu beantworten, wie die Zukunft damals denn aussah, die für uns heute inzwischen Gegenwart (oder eher Vergangenheit?) ist.

Eine eingehende Untersuchung dieser vergangenen Zukunft3 habe ich zwar nicht unternommen, sie würde aber vermutlich nicht gar so Überraschendes offenbaren. Es wäre wohl eine eher erwartbare Mixtur aus Unsicherheit, Verzweiflung und Aufbruchshoffnung, aus den Zutaten also, aus denen westliche Zukunftsmodelle schon so lange gebacken werden. Wenn auch diesmal mit einer spezifischen Corona-Glasur.

Nachdem der erste Schock verdaut war, schien es allenthalben darum zu gehen, wieder Normalität einzufordern. Alles sollte wieder so sein, wie es vermeintlich immer schon war. Auch die Zukunft. Die Politik versprach Normalisierung und für das kommende Jahr den Aufschwung, die Wirtschaft forderte finanzielle Unterstützung und politische Rahmenbedingungen, die ein baldiges ökonomisches Wachstum wieder möglich machen sollten, die Wissenschaft versprach einen Impfstoff und damit das Ende der Pandemie, und die Bevölkerung forderte wieder normale Lebensbedingungen. Alle wollten also die gleiche Zukunft zurückhaben, die sie vor der Pandemie gekannt hatten. Es war die Bestätigung einer Sentenz, die Mark Fisher bekannt gemacht hat, dass nämlich eher ein Ende der Welt vorstellbar ist, als ein Ende des Kapitalismus (und damit ein Ende etablierter Lebensweisen).4 Der Kapitalismus braucht die Zukunft. Denn Zeit ist eine der wenigen Ressourcen, die sich nicht maximieren lassen, und das Wetten auf die Zukunft stellt nicht nur für den Börsenhandel ein unabdingbares Lebenselixier dar.5

Deswegen ja auch das Interesse an vergangenen Zukünften, die unter den Voraussetzungen anderer Pandemien entworfen worden waren. Deswegen war zwischenzeitlich Albert Camus‘ „Die Pest“ im Buchhandel nicht mehr lieferbar, deswegen haben einige den Dachboden durchstöbert, weil dort noch ein Exemplar von Boccaccios „Decamerone“ zu finden sein musste, und deswegen erlebte Steven Soderberghs Film „Contagion“ auf Streaming-Plattformen eine erhöhte Nachfrage, weil man hoffte, über den Umweg der Vergangenheit eine mögliche Zukunft zu begreifen.

Eine Trivialität lohnt, an dieser Stelle festgehalten zu werden: Wie allgemein bekannt, werden all die Zukünfte, die jetzt gerade imaginiert werden, so nie eintreten. Sonst wären es ja keine Zukünfte mehr, die wir per definitionem jetzt noch gar nicht kennen können, weil sie noch nicht existieren, sondern es handelte sich bereits um Gegenwarten. Zeigen lässt sich die fragile, gleichwohl unumgängliche Fundierung von Zukünften in einer Gegenwart anhand all der Prognosen, die 2019 für das Jahr 2020 erstellt worden waren – nur um ein paar Wochen später pulverisiert zu werden, weil darin das Virus noch nicht vorgekommen war. (Und deswegen meinten manche ja auch, mit der Pandemie „Geschichte“ erlebt zu haben, also diese Geschichte mit großem G, diesen Kollektivsingular, diesen hegelianischen Pflug, der sich ab und an für einige Zentimeter vorwärtsbewegt und dabei die Verhältnisse durchfurcht und umwendet, denn diese „Geschichte“ schien sich mit der Pandemie bemerkbar gemacht zu haben, weil das Unvorhergesehene, das Unberechenbare in das Leben Einzug gehalten hatte.) Wenn wir von Zukünften reden, reden wir also immer nur von gegenwärtigen Zukünften, bei denen wir davon ausgehen müssen, dass sie nie genau so eintreffen werden wie prognostiziert. Die Abweichungen sind in vielen Fällen nicht sonderlich signifikant, teils marginal, weil wir es in der Kunst der Modellierung von Zukünften zumindest in manchen Bereichen schon recht weit gebracht haben. Aber der Anteil von Unbekannten ist doch immer groß genug, um Varianz zu ermöglichen. Und in manchen Lebensbereichen ist die Anzahl der Variablen so hoch, dass sich für Wahrsagerei und Astrologie weiterhin lukrative Geschäftsfelder eröffnen.

Moment des Innehaltens
Dabei hatte doch die Pandemie, zumindest für eine kurze Zeitspanne, das Fenster zu einer anderen Möglichkeit des Zukünftigen geöffnet. Es gab ihn, diesen Moment des Innehaltens, es gab diesen Augenblick, in dem die Welt den Atem anzuhalten schien (obwohl diese Zeitspanne gerade für die temporalen Dimensionen eines kapitalistischen Systems überhaupt nicht kurz waren). Es gab diese Wochen im Frühjahr 2020, in denen das öffentliche Leben stillstand. Neben all den Ängsten und Unsicherheiten, die allenthalben existierten, vor allem auch neben all den Tragödien, die sich vielerorts abspielten, den zahlreichen Toten, die das Virus gefordert hatte, gab es auch für einen kurzen historischen Augenblick die Aussicht auf eine andere Version des Zukünftigen.

Durch den sogenannten Lockdown schien das bisherige Leben mit einem Mal abgestellt. Plötzlich war eine Zukunft wirklich geworden, mit der noch kurz zuvor niemand hatte rechnen können. Schulen, Restaurants und Geschäfte wurden geschlossen, Firmen schickten die Mitarbeitenden ins Home-Office, die Straßen waren leer und die Züge im Fernverkehr nahezu ausgestorben. Das symbolische Bild dieser Wochen war für mich der Himmel über Düsseldorf, der Stadt, in der ich damals lebte und immer noch lebe. Wo ansonsten an einem schönen Frühlingsabend das Himmelblau zerfurcht war von Kondensstreifen, die kreuz und quer laufende Muster bildeten und einem Plan zu gehorchen schienen, der nur schwer zu entschlüsseln war, sah man nun einfach – nichts. Respektive, man sah das Himmelblau in seiner ganzen strahlenden Makellosigkeit. So kann das also auch aussehen, durfte man für einen Moment denken.

Dieser leere Himmel könnte stellvertretend stehen für die Möglichkeit, neu und anders über Zukünftiges nachzudenken. Nota bene: Ich meine damit nicht einfach eine alternative Zukunft, nicht eine andere Version unseres zukünftigen Seins, nicht eine erst noch kommende Welt, sondern ich meine, viel grundlegender, die Relationen, die wir gegenwärtig mit dem Zukünftigen eingehen wollen. Nicht nur zeittheoretische Erwägungen legen diesen Gedanken nahe, sondern auch die lang andauernde Diskussion um Nachhaltigkeit und Technikfolgenabschätzung weiß, dass Zukunft ja immer schon jetzt geschieht, vor allem über Pfadabhängigkeiten, die bereits heute ausgelegt werden, deren Auswirkungen aber erst (oder immer noch) in künftigen Zusammenhängen zu bemerken sein werden. Naturzerstörungen, Schuldenberge, radioaktive Abfälle – sie alle werden ebenso wie zahlreiche andere Phänomene bereits heute hervorgebracht und machen damit eine abwesende Zukunft anwesend und gegenwärtig, von der wir üblicherweise zu denken geneigt sind, dass sie erst noch voller Verheißungen und Möglichkeiten kommen werde. Dabei ist diese Zukunft vielfach bereits geschehen.

Der leere Corona-Himmel hätte mehr als nur ein Symbol sein können, um den Umgang mit der anwesenden Abwesenheit einer Zukunft zu überdenken6, für die wir heute schon Verantwortung tragen, weil wir heute bereits für die Noch-nicht-Geborenen sprechen müssen, die noch nicht für sich selbst sprechen können. Das Corona-Virus und die dadurch ausgelöste Pandemie hätten in einem noch viel umfänglicheren Maß zu einem Ereignis werden können (und sogar werden müssen), als es tatsächlich geschehen ist.

Zu den Charakteristika, die man einem Ereignis zugestehen mag, zumal einem Ereignis, dem das Eigenschaftswort „historisch“ beigestellt wird, gehören unter anderem die Irregularität und die Temporalität. Irregularität lässt sich mit Blick auf die Corona-Pandemie unschwer ausmachen. Denn mit SARS-CoV-2 sprang etwas aus der Reihe, um die Ereignis-Bestimmung Robert Musils zu bemühen7, geschah also etwas, das sich nicht ohne Weiteres in etablierte Muster einordnen ließ. Die Temporalität eines Ereignisses geht wiederum deutlich darüber hinaus, ein Geschehen mit einem bestimmten Datum zu versehen. Die Frage ist nämlich durchaus erlaubt, wann ein Ereignis denn überhaupt stattfindet. Wann hat sich der Beginn der Corona-Pandemie ereignet? Bei seinem ersten Auftreten auf dem Tiermarkt in Wuhan? Ja und nein. Denn niemand konnte zum Zeitpunkt des Sich-Ereignens wissen, dass aus diesem Geschehen ein Ereignis mit weitreichenden Folgen werden würde. Strenggenommen finden (historische) Ereignisse also immer erst statt, nachdem sie (kalendarisch) stattgefunden haben.8 Abgesehen natürlich von den Ereignissen, die diesen Status schon zugesprochen bekommen, noch bevor sie stattgefunden haben, weil ihnen bereits im Vorfeld historische Bedeutung zugemessen wird. (Davor kommt noch – danach war schon, um Thomas Kapielski zu zitieren.9)

Wenn nicht eindeutig zu bestimmen ist, wann ein Ereignis eigentlich stattfindet, dann weil es solchen Ereignissen im erfolgreichen Fall gelingt, das Verhältnis der Zeiten zueinander neu zu justieren. Kollektive schreiten dann nicht nur in eine andere Zukunft, sondern auch in eine andere Vergangenheit, weil sich nun, nach dem Ereignis, mit einem Mal andere Dinge in der Vergangenheit als bedeutsam erweisen und somit im eigentlichen Sinn erst stattfinden können. Zumindest eröffnet das Ereignis die Möglichkeit, das Verhältnis der Zeiten in diesem Sinn anders auszugestalten. Aber diese Möglichkeit muss auch ergriffen werden.

Die seit 2020 allfällige Rede von der „Corona-Krise“ ist daher durchaus treffend, nicht nur, weil die Pandemie zu erheblichen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen geführt hat, sondern weil sie im ursprünglichen Wortsinn des griechischen krísis ein Scheidepunkt war, an dem sich herausstellen musste, ob die Entwicklung in die eine oder in die andere Richtung geht. Der leere Corona-Himmel war die Folie, vor der sich diese Krise abspielte. Ergreifen wir als Kollektiv, und zwar – dieser hyperbolische Ausdruck muss erlaubt sein – als globales Kollektiv diese krisenhafte Möglichkeit, Zukünftiges neu zu denken, oder lassen wir sie vorüberziehen?

Ins Zukünftige
Offensichtlich fällt uns die Vorstellung einer anderen Welt und damit auch anderer Weltverhältnisse schwer. Es hat eine Weile gedauert. Die Krise zog sich hin, wie wir wissen. Aber das Verlangen nach Normalität, nach einem Umgang mit Gegenwart und Zukunft, der nicht anders sein sollte, als er in der Vergangenheit schon gewesen war, geriet so übermächtig, dass Alternativen nicht mehr ernsthaft in Frage kamen. Die Himmel über den Städten sehen schon längst wieder so aus wie vor der Corona-Krise.

Die Corona-Pandemie hat die Zukunft verändert, das ist unbestritten. Viele Lebensbereiche sähen heute anders aus, wenn das Virus nicht aufgetreten wäre. Videokonferenzen sind auch unterhalb von Chefetagen selbstverständlicher. Mund-Nase-Bedeckungen lösen kein Befremden mehr aus, sind vor allem während der winterlichen Grippesaison weiterhin im Alltag zu sehen. Die ökonomische Delle globalen Ausmaßes macht sich auch noch zehn Jahre später bemerkbar.

Die möglichen Zukünfte, die sich im Jahr 2020 aus der Corona-Pandemie heraus ergaben und die unterschiedliche Bereiche betrafen, aber auch durchaus differente Reichweiten hatten, changierten zumeist zwischen den nächsten 24 Stunden und dem kommenden Jahrzehnt. Gebunden waren diese möglichen Zukünfte zumeist an konkrete Fragen: Wie werden sich die Fallzahlen entwickeln, morgen oder in der kommenden Woche? Wir wird die wirtschaftliche Entwicklung aussehen? Wann wird es einen Impfstoff geben?

Prognostiker/innen unterschiedlicher Couleur und mit durchaus unterschiedlich ausgestalteten Expertisen fühlten sich dazu berufen, diese Fragen zu beantworten.10 Sie waren sich recht schnell einig, dass entweder alles zügig vorbeigehen oder die Welt nie mehr so sein würde wie bisher – oder irgendetwas dazwischen.

Aber was die Pandemie nicht geschafft hat, ist unser Verhältnis zum Zukünftigen zu ändern. Dabei hat sie uns in der kurzen Zeit des sogenannten Lockdowns doch im Guten wie im Schlechten vor Augen geführt, wie eine Zukunft aussehen könnte, wenn wir unser Verhältnis zum Zukünftigen ändern würden.

Die Corona-Pandemie hätte eine Art Generalprobe sein können für die viel größeren Probleme planetarischen Ausmaßes, die unter Schlagworten wie „Klimawandel“ oder „Anthropozän“ verhandelt werden. Mit dem feinen Unterschied allerdings, dass wir den Umgang mit einem Virus noch halbwegs selbst in der Hand haben, noch selbst Kontrolle ausüben können, während uns genau diese Handlungsmöglichkeiten bei Fragen des Klimawandels zu größeren Teilen nicht mehr gegeben sind. Es ist ja schon längst gehandelt worden, nämlich in einer Vergangenheit, die irgendwann auch trotz besseren Wissens nicht darauf verzichten konnte, eine Zukunft zu verbrauchen, die sie selbst nicht mehr erleben sollte (oder die noch so weit entfernt war, dass man die drängenden Probleme erst einmal verschieben konnte; in dieser Vergangenheit wurde gehandelt nach dem Motto: Wir wollen Prokrastination – und zwar jetzt!).

Die Pandemie samt Lockdown, Todesstatistiken, Maskenpflicht und Wirtschaftskrise gab uns einen Vorgeschmack auf das Schlimmste – wohl nicht auf den Untergang der Welt, aber auf den Untergang etablierter Weltverhältnisse, weil sich Selbstverständlichkeiten über Nacht in Luft auflösten (ablesbar an vermeintlichen Kleinigkeiten, als Menschen aufhörten, einander zur Begrüßung die Hand zu geben). Die Pandemie gab uns aber auch einen Vorgeschmack auf das Beste – wohl nicht auf das Paradies auf Erden, aber auf die Möglichkeiten, die uns an die Hand gegeben waren, und auch heute, zehn Jahre später, immer noch an die Hand gegeben sind, weil man die (aufgezwungene, unfreiwillige) Erfahrung machen durfte, dass sich die Welt doch ändern ließ und dass angebliche Alternativlosigkeiten gar nicht so alternativlos waren. Andere Lebensweisen sind möglich. Das war die Botschaft, die uns der kondensstreifenfreie Himmel mitteilen wollte. Aber offensichtlich haben wir nicht genau genug hingesehen.

Stattdessen wurde wieder einmal eine gegenwärtige Veränderung des Zukünftigen gegen eine vergangene Zukunft ausgespielt. Der Ruf nach Normalisierung erschallte nicht nur aus Reihen der Corona-Leugnungsbewegung, sondern wurde auch geäußert von Regierungsverantwortlichen, die sich aus Angst vor den nächsten Wahlergebnissen zu der Vergewisserung hinreißen ließen, dass sich nach der Durchschreitung des Jammertals wieder alle und alles auf „Los“ befinden würden und das gleiche Spiel von vorne beginnen könnte.

Die Zukünfte nach Corona
Die Corona-Pandemie löste unmittelbar hektische Betriebsamkeit bei allen Zeichendeuter/innen und Bedeutungsanalytiker/innen aus, also auch und gerade in den Wissenschaften, die aus zahlreichen disziplinären Richtungen kommend mit Angeboten aufwarteten, was das denn nun alles zu bedeuten habe.

Auch mein Beitrag ist ein Teil dieser Betriebsamkeit, selbst wenn er mit zehn Jahren Verspätung kommt. (Eine Verspätung, die vielleicht dann etwas weniger schwer wiegt, wenn man sich, wie bereits gesagt, vor Augen hält, dass wir noch kaum etwas wissen von dem, was während der Corona-Pandemie geschehen ist, und wir immer viel zu wenig wissen werden. Nachträgliche Vorläufigkeit – ist es nicht das, was historisches Arbeiten ausmacht?) In der schier unüberschaubaren Masse der Äußerungen zu Corona werden meine Worte untergehen, so wie die meisten Worte, die zu diesem Phänomen geäußert wurden, untergehen (müssen). Das ist auch kaum bedauerlich. Es mutet mir schon nahezu peinlich an, dass ich mich nun doch, gegen meine ursprüngliche Intention, dazu habe hinreißen lassen, überhaupt etwas zum Jubiläumstrubel „10 Jahre Corona“ beigetragen zu haben.

Wenn es eine Rechtfertigung für diesen Beitrag gibt, dann ist es die Unterscheidung von Zukunft und Zukünftigem. Ich spreche deswegen lieber vom Zukünftigen, weil dieses substantivierte Adjektiv Offenheit gewährt. Als damals, vor einem Jahrzehnt, von „der Zukunft“ nach Corona gesprochen wurde, hätte eigentlich die Frage folgen müssen, welche der vielen Zukünfte denn damit gemeint sei. Denn es wurde und wird bis zum heutigen Tag so getan, als wäre diese Zukunft für alle dieselbe, nur weil man sich an einen gemeinsamen Kalender hält. Und nur weil das Virus keine Unterschiede bei seiner Ausbreitung gemacht hat, bedeutet das nicht, dass die Folgewirkungen auch keine Unterschiede machten.

Für das kapitalistische Wirtschaftssystem war Corona eine Katastrophe. Die lebensnotwendige Beschleunigung funktionierte nicht mehr. Für zahlreiche Einzelne war Corona nicht minder katastrophal, weil ihnen der Lebensunterhalt von jetzt auf gleich wegbrach. Für Eltern war Corona mehr als nur eine Herausforderung. Für alle Beschäftigten im Logistik- und Transportwesen war es reiner Stress. Andere hingegen konnten mit der Verlangsamung auch die Erfahrung machen, wie sehr ihr Leben vom Zeitregime des Wachstumsimperativs bestimmt war, und wie dieses Leben aussehen könnte, wenn es sich von diesem Regime löste. Die Erfahrung des Wartenkönnens oder Wartendürfens trat neben die existentielle Not des Wartenmüssens, die Sinnerfülltheit fand sich unmittelbar neben der Sinnleere, das Genießen eines neuen Lebensrhythmus lebte Tür an Tür mit der Zunahme häuslicher Gewalt.

Corona machte deutlich, wie unterschiedlich sich herrschende Zeitregime auf mögliche Zukünfte auswirken können. „Die Zukunft“ nach Corona hat es nie gegeben. Es gibt aber weiterhin die Möglichkeit, sich für eine andere Form des Zukünftigen zu entscheiden und schon heute andere Chronoferenzen mit dem einzugehen, was erst noch kommen wird.11 Aber die Entscheidung für eine andere Form des Zukünftigen liegt in unser aller Hand. So wie sich die Mehrheit einer Bevölkerung impfen lassen muss, um ein Virus besiegen zu können, muss sich auch die Mehrheit einer Bevölkerung, und in diesem Fall der planetarischen Bevölkerung, dazu entschließen, Zukünftiges anders auszugestalten, um dann auf eine andere Zukunft, nein: auf andere Zukünfte hoffen zu dürfen.

Anmerkungen:
1 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 2001, S. 78.
2 Zum Beispiel das Corona-Archiv Hamburg: https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de (10.10.2020).
3 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989.
4 Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, Hamburg 2020, S. 7.
5 Elena Esposito, Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, Heidelberg 2010.
6 Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt am Main 2016.
7 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Gesamtausgabe Bd. 1, Salzburg/Wien 2016, S. 11.
8 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003.
9 Thomas Kapielski, Davor kommt noch. Gottesbeweise IX-XIII, Berlin 1998; Thomas Kapielski, Danach war schon. Gottesbeweise I-VIII, Berlin 1999.
10 Ein prominenter Vertreter war der selbst ernannte Zukunftsforscher Matthias Horx, unter anderem mit seinem Buch: Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert, Berlin 2020.
11 Zum Begriff der Chronoferenz vgl. Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020, S. 239-265.

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