Forum: Rez: A. Corsten: Vergangenheit und Zukunft des Rezensionswesens. Möglichkeiten einer pluralen, internationalen und öffentlichkeitswirksamen Rezensionslandschaft

Von
Anna Corsten, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Rezensionen sind im Alltag von Historiker:innen überaus präsent. Sie bilden zentrale Bestandteile besonders von Online-Fachportalen wie H-Soz-Kult, Sehepunkte, Kult-Online oder H-Net. Aber auch in Tageszeitungen, wissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelbänden oder Jahrbüchern begegnen sie uns regelmäßig.1 Die Besprechungen zu wissenschaftlichen Werken gelten als Mittel der Qualitätssicherung der Forschung. Fachwissenschaftler:innen evaluieren die Forschungsperspektiven und Ergebnisse ihrer Kolleg:innen, sie legitimieren, delegitimeren und lenken Aufmerksamkeit auf deren vorgelegten Arbeiten, die Endprodukte eines oft langwierigen Projektes sind. Doch welche Rolle spiel(t)en Rezensionen in der Geschichtswissenschaft in den vergangenen 70 Jahren? (Warum) Sind sie für die Geschichtswissenschaft heute überhaupt noch relevant?2

Die Disziplin braucht Rezensionen heute nicht nur zur Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Arbeiten und zur Verbreitung der Ergebnisse im Fach, sondern auch um mit einem außeruniversitären und internationalen Publikum ins Gespräch zu kommen. Es bedarf einer pluralen, international vernetzten und interdisziplinären Rezensionslandschaft, damit diese Ansprüche erfüllt werden können. Dem Rezensionswesen muss es gelingen, eine Vielzahl unterschiedlicher Themen und Methoden zu evaluieren, den internationalen Forschungskontext zu berücksichtigen, aber auch eine breite Leserschaft aus Fachpublikum, Gesellschaft und Vermittlern zwischen beidem einzubeziehen. Nur so kann eine breitere Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hergestellt werden. Anhand eines Rückblicks auf die die Bedeutung von Rezensionen seit 1945 werde ich im Folgenden Chancen und Grenzen des Rezensionswesens aufzeigen. Dazu betrachte ich die Rezeption von Historikern, die im Zuge des Nationalsozialismus aus Deutschland und Österreich in die USA geflohen sind und dort eine wissenschaftliche Laufbahn im Bereich der Holocaust- und NS-Forschung einschlugen. Diese Fokussierung ermöglicht es, die Relevanz der Themenwahl und der eigenen Biografie für die wissenschaftliche Rezeption darzustellen. Gleichzeitig wird nicht nur die Rolle historischer Fachzeitschriften, sondern auch der Medien untersucht, die auf diesen Feldern zu wichtigen Akteuren wurden und die Rezeption emigrierter Historikern mitgestalteten.

Rezensionen im historischen Diskurs nach Kriegsende

Das Beispiel des jüdischen Germanisten, Historikers und Judaisten Adolf Leschnitzer zeigt, wie schwer es für Wissenschaftler:innen aus dem Ausland nach Kriegsende war, in den nationalen Diskurs in Deutschland einzugreifen. Dies lag auch an dem Thema, dem sich Leschnitzer gewidmet hatte. Der Wissenschaftler war 1939 mit seiner Familie aus Deutschland über England in die USA geflohen. Anfang der 1950er-Jahre kehrte er für eine Gast- und später eine Honorarprofessur an der Freien Universität Berlin in seine Heimatstadt zurück. 1954 veröffentlichte er das Buch Saul und David.3 Leschnitzer ging es darum, den Aufstiegs- und „Auflösungsprozess“ des deutschen Judentums nachzuvollziehen. Er untersuchte diesen für den Zeitraum von 1690 bis 1945 aus kultur- und sozialgeschichtlicher Perspektive, wobei er einen Ausblick auf die Jahre nach Kriegsende gab.

Rezensionen und die Marginalisierung von Forschungsthemen

Die Rezeption seiner Arbeit blieb in westdeutschen Fachkreisen gering, obwohl es sich um einen untererforschten Bereich handelte. Als einziger Historiker besprach Heinrich Schnee das Werk Leschnitzers in einer Fachzeitschrift, dem Historisch Politischen Buch (HPB). Schnee galt als einer der wenigen noch im Wissenschaftsbetrieb arbeitenden Experten zur jüdischen Geschichte in Deutschland. Er hatte sich seit Anfang der 1940er-Jahre mit der Geschichte der Hofjuden beschäftigt und dabei antisemitische Bilder des von Walter Frank geleiteten „Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschland“ reproduziert. Schnee zufolge beruhe Antisemitismus stets auf dem „Anderssein von Majorität und Minderheit“. Da Leschnitzer diesen Aspekt nicht berücksichtige, könne er Antisemitismus nicht vollständig erklären, argumentierte Schnee. Er widersprach Leschnitzer darin, dass „jüdische Dozenten und Professoren an deutschen Universitäten vor 1933 zurückgesetzt worden sind, sie haben im Gegenteil […] eine geradezu glänzende Karriere gemacht“. Trotzdem schloss er: „Das Werk ist ein wesentlicher Beitrag zur Problematik der deutsch-jüdischen Beziehungen und zur allgemeinen Geschichte, in vornehmer Haltung und sachlichen Ton geschrieben.“4

Tages- und Wochenzeitungen setzten sich intensiver mit Leschnitzers Buch auseinander als die schweigenden Fachkollegen, sodass es öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Der Berliner Telegraph urteilte: „Leschnitzer […] hat in einer bibliographisch hervorragend ausgerüsteten Soziologie die Geschichte der deutsch-jüdischen Kultur- und Lebensgemeinschaft im Wesentlichen aus den politischen und ideologischen Momenten aufgezeigt.“ Das Werk sah der Rezensent als „tragischen Bericht über den Niedergang des deutschen Bürgertums“.5 Der Holocaust-Überlebende und Schriftsteller H. G. Adler schrieb im Merkur, dass Leschnitzer es als erster wage „die rund 150 Jahre deutsch-jüdischer Lebensgemeinschaft mit unerbittlicher Kritik und Selbstkritik als eine geschichtlich abgeschlossene Epoche zu untersuchen“.6 Der Tagesspiegel sah Leschnitzers Werk ebenfalls als Pionierstudie, denn Leschnitzer betrachte „die Ideologie der Ausrottung […] vielleicht zum ersten Male in vollendeter Deutung von innen her“.7

Wie ist die Diskrepanz zwischen Rezeption in Feuilletons und Fachzeitschriften zu bewerten? Die weitestgehend ausbleibenden wissenschaftlichen Besprechungen zu Leschnitzers Werk müssen in dem Kontext der deutschen Geschichtsschreibung über das Judentum nach 1945 betrachtet werden. Besonders ältere westdeutsche Historiker, die vor 1933 promoviert und habilitiert worden waren, ignorierten oder kritisierten Werke emigrierter jüdischer Historiker zur Geschichte des deutschen Judentums und des Antisemitismus. Dabei war Leschnitzer unter westdeutschen Historikern durchaus bekannt und galt als „einer der besten Kenner des deutschen Judentums unmittelbar vor seinem Untergang“8, wie der damalige Generalsekretär des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Paul Kluke, 1957 an Hans Rothfels schrieb. Die Rezensionen zu „Saul und David“ verdeutlichen damit, welche Bedeutung das Werk und seine Thematik innerhalb des wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses um die NS-Vergangenheit zukam. Während durchaus ein mediales Interesse existierte, mieden Historiker die Thematik.9

In diesem Kontext liefern die quantitative Zahl der Rezensionen, aber auch die inhaltlichen Einschätzungen Schnees Einblicke in den Forschungsstand zur deutsch-jüdischen Geschichte im Westdeutschland der 1950er-Jahre. In dieser Zeit blieb die Reichweite von Leschnitzers Ergebnissen in der Geschichtswissenschaft gering. Die Frage nach Antisemitismus und dem Verhältnis zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen erhielt im wissenschaftlichen Diskurs kaum Beachtung. Damit wird deutlich, dass die Funktion eines Rezensionswesens nicht nur in der Qualitätssicherung liegt, sondern auch in der Verbreitung oder Marginalisierung von Forschungsergebnissen. Dies ist besonders wichtig, da es für einzelne Wissenschaftler:innen kaum möglich ist, alle erscheinenden Studien zu konsumieren und zu bewerten.

Rezensionen und die Legitimierung von Forschungsansätzen

Andere Beispiele belegen, wie Forschungsansätze durch Besprechungen Legitimation erfuhren und in den wissenschaftlichen Kanon aufgenommen wurden. Gut zwanzig Jahre nach Leschnitzer veröffentlichte der 1926 geborene jüdische Historiker Georg Iggers sein Werk New Directions in European Historiography (1975, dt.: Neue Geschichtswissenschaft, 1978).10 Iggers war 1938 aus Deutschland geflohen und lehrte an der University at Buffalo.

Iggers forderte, dass die Geschichtswissenschaft sozialwissenschaftliche Methoden einführen müsse.11 Sein Untersuchungsschwerpunkt und auch seine Methodik unterschieden sich von der Leschnitzers. Iggers untersuchte, wie auch schon in früheren Arbeiten, die spezifische Verantwortung deutscher Historiker und anderer Geisteswissenschaftler für das Scheitern der Weimarer Republik. Er interessierte sich für die Geisteshaltung, die den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt hatte. Außerdem zeigte er anhand der Vergleiche zu anderen Ländern auf, wo es innerhalb der Geschichtswissenschaft an Reformen bedurfte. Besonders übte er Kritik an der methodischen Festgefahrenheit der westdeutschen Geschichtswissenschaft.

Wie im Fall Leschnitzers erschien lediglich eine Rezension zu dem Werk in einer geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift. Der 1930 geborene Neuzeithistoriker Helmut Berding besprach das Buch in der Historischen Zeitschrift im Jahr 1980. Berding hoffte als Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft, dass es eine Debatte über die historiographischen Tendenzen im eigenen Lande auslösen werde.12 Er erkannte in Iggers’ Werk ein Legitimierungspotenzial für die sich etablierende Historische Sozialwissenschaft. Sozialhistoriker wie Berding schätzten Iggers Arbeiten, da sie einen Methodenwechsel forderten. Die Bielefelder Schule griff ab den späten 1960er-Jahren stärker auf sozial- und wirtschaftshistorische Ansätze zurück. Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka wollten den Mangel an Theorien in der Geschichtswissenschaft durch die Übernahme von Methoden und Konzepten aus den Sozialwissenschaften kompensieren.13

Die positive Besprechung Berdings verweist darauf, dass der Rezensent neben Lob oder Kritik an einem Werk weitere Ziele verfolgen konnte. In diesem Fall sollte die Rezension zu einer für die Fachwelt sichtbaren Legitimierung der Methodik der Historischen Sozialwissenschaft beitragen, die das Buch des Kollegen aus den USA den Sozialhistorikern zusprach. Besonders der Kontakt zu den USA war dabei für die Bielefelder Schule wichtig, da sie Ansätze von amerikanischen Wissenschaftlern zum Vorbild erklärt hatten. Der Austausch in die USA verstärkte sich, sodass vermehrt englischsprachige Bücher besprochen wurden.

Entwicklungen ab den 1980er-Jahren

Ab den 1980er-Jahren stieg das Interesse an der NS-Vergangenheit in der westdeutschen Öffentlichkeit, nachdem 1979 die Mini-Serie Holocaust ausgestrahlt worden war.14 Aufgrund der damit wachsenden Reichweite für die historische Forschung erschienen Buchbesprechungen vermehrt in der Tagespresse. Dabei entstand eine Diskrepanz zwischen der fachwissenschaftlichen Bewertung und der für den öffentlichen Raum verfassten Rezension, worauf bereits das Beispiel von Adolf Leschnitzer hingedeutet hat.

Unterschiede zwischen Rezensionen in der Tagespresse und Rezensionen in Fachzeitschriften

Der 1926 in Wien geborene und 1939 emigrierte Raul Hilberg gilt heute als Pionier der Holocaust-Forschung. Sein Werk The Destruction of the European Jews (1961) wurde jedoch über zwanzig Jahre lang nicht ins Deutsche übersetzt. In Fachzeitschriften erschienen drei Rezensionen in Kritische Justiz, Politische Vierteljahresschrift (PVS)-Literatur und HPB. Der Soziologe Sebastian Scheerer und der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl lobten das Werk als voluminös, material- und gedankenreich und erhofften sich davon eine weitere Aufklärung über die Zeit der Shoa.15 Kühnl hielt es für wünschenswert, den Antisemitismus auch außerhalb des Kontextes des Nationalsozialismus zu betrachten.16 Der Migrationshistoriker Klaus Bade bezeichnete das Buch als „späte Sensation für deutsche Leser“.17 In westdeutschen Tageszeitungen erschienen mehr Besprechungen als in den Fachzeitschriften. In der tageszeitung kritisierte der Soziologe Urs Müller-Plantenberg große Verlage wie Suhrkamp und Piper. Diese hätten behauptet, ihnen sei es aufgrund der hohen Kosten nicht möglich, eine Übersetzung von Hilbergs Studie anzufertigen. Müller-Plantenberg vermutete, dass diese Verlage befürchteten, Hilbergs Werk könne als Provokation wahrgenommen werden. Dabei zeichne sich das Werk durch eine präzise und sachliche Analyse aus. Er resümierte: „Es ist eine Schande, dass das Buch nicht viel früher in Deutschland, dem Land, von dem der Holocaust seinen Ausgangspunkt nahm, erschienen ist.“18 Weitere Rezensent:innen stimmten dieser Aussage in prominenten Zeitungen wie der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Rundschau zu.19 „Bezeichnend und beschämend“, sei es, „daß dieses Buch nicht in Deutschland, sondern in den USA […] entstanden ist und daß sein Autor nicht ein Deutscher, sondern ein jüdischer Emigrant ist“20, urteilte der Publizist Hans-Martin Lohmann. Andere Rezensent:innen äußerten die Hoffnung, dass das Buch zu einer Pflichtlektüre werde, das in Bibliotheken zugänglich gemacht werden müsse und zu einem erschwinglichen Preis verkauft werden solle.21

Die Zeitungsartikel weisen darauf hin, dass sich mit dem Erscheinen von Hilbergs Werk das Interesse an der Shoa in der westdeutschen Gesellschaft intensiviert hatte.22 In der Presse kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Buch, auch wenn Hilbergs Ergebnisse in einem wissenschaftlichen Diskurs möglicherweise intensiver diskutiert worden wären. Gleichzeitig war es in den Feuilletons möglich, Kritik an der bisherigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Shoa zu üben, ohne dabei detailliert auf die Entwicklung einzugehen. Es waren vor allem Journalist:innen, Sozialwissenschaftler:innen und jüdische Gelehrte wie Micha Brumlik, die Hilbergs Werk für eine breitere Öffentlichkeit besprachen. Bis auf Reinhard Rürup, Spezialist für Neuere Geschichte, beteiligte sich keine Zeithistoriker:innen an der Auseinandersetzung mit Hilbergs Arbeit. Die Feuilletons übernahmen dabei besonders Hilbergs Selbststilisierung des wissenschaftlichen Außenseiters. Sie bemängelten zudem, dass westdeutsche Historiker:innen es versäumt hatten, sich mit der Shoa auseinanderzusetzen. Damit nahm die Tagespresse die Rolle einer Beobachterin ein, die auf aktuelle Debatten reagieren konnte und im Falle Hilbergs seine marginalisierte Arbeit in den Vordergrund rückte.23

Wie kam es zu diesen Unterschieden in der öffentlichen und wissenschaftlichen Rezeption? Wie die Feuilletons westdeutschen Wissenschafter:innen vorwarfen, verdeutlichte Hilbergs Werk und dessen späte Übersetzung Versäumnisse in der Beschäftigung mit der Shoa. Diese griffen Journalist:innen und Sozialwissenschaftler:innen auf und grenzten sich auf diese Weise von der Geschichtswissenschaft ab. Aber auch Historiker:innen reagierten darauf, dass die Gesellschaft mehr Kenntnis über die Shoa verlangte. Sie bemühten sich jedoch darum, eigene Arbeiten auf den Weg zu bringen und die Aufmerksamkeit auf diese zu lenken. Hilbergs Werk sahen sie, wie Götz Aly argumentiert hat, als Konkurrenz zu ihren eigenen Forschungen.24 Aly stellte die These auf, dass die fachöffentliche Missachtung von Hilbergs Werk daraus resultierte, dass das IfZ aus „materiellem Marktinteresse“ handelte. Daher habe es die 1961 erschienene Darstellung als veraltet eingestuft und auf eigene Forschungen verwiesen. Hinzu kam, dass deutsche Historiker:innen Anspruch auf die Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit erhoben.25 Mit dem Verfassen bzw. Nicht-Verfassen von Rezensionen konnten also verschiedene Motive einhergehen. Am Beispiel Hilbergs zeigt sich, dass viele Besprechungen in der Tagespresse darauf abzielten, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für eine bestimmte als gesellschaftlich wichtig erachtete Thematik zu erzeugen. Denkbar ist, dass viele westdeutsche Historiker:innen das Werk dagegen nicht besprachen, da sie den Blick der Kolleg:innen und weiterer Interessierter auf ihre eigenen Werke und Deutungen lenken wollten. In diesem Fall halfen Rezensionen also nicht wie bei Iggers bei der Durchsetzung einer Forschungsmethodik. Vielmehr ging es darum, bestimmte Interpretationen nicht zu prominent werden zu lassen.

Die Zukunft des Rezensionswesens

Seit den 1990er- Jahren stehen mit Internet-Plattformen weitere Räume für das Schreiben und die Verbreitung von Rezensionen zur Verfügung. Rezensionen besitzen für die Wissenschaft damit nach wie vor eine wichtige Bedeutung. Sie lenken Aufmerksamkeit auf Studien und bewerten diese zugleich nach wissenschaftlichen Gütekriterien. Über die Zugänglichkeit vieler Rezensionen im Internet werden die Bewertungen für ein breiteres, interessiertes Publikum erreichbar. Gleichzeitig bleiben Probleme bestehen, die anhand der Fallbeispiele Leschnitzer, Iggers und Hilberg vorgestellt wurden. Rezensionen können Auskunft darüber geben, wie bestimmte Ansätze und Erklärungsweisen in verschiedenen Wissenschaftskulturen bewertet werden. Sie können teilweise sogar in vorherrschende Narrative eingreifen, indem sie andere Herangehensweisen hervorheben, wie es am Beispiel Hilbergs deutlich wurde. Sie können bestimmte Ansätze und Inhalte jedoch durch Missachtung auch marginalisieren. Forschende schreiben Rezensionen, um bestimmte Ansätze stärker sichtbar zu machen, zu legitimieren – oder eben auch um sie unsichtbar zu halten und zu delegitimieren. Damit bilden Rezensionen für uns als Historiker:innen eine wichtige Quelle, die Rückschlüsse auf wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten liefern. Gleichzeitig haben die Beispiele gezeigt, dass der Aussagecharakter von Rezensionen begrenzt ist. Um ein exakteres Bild über die Rezeption bestimmter Themen zu erhalten, müssen weitere Quellen wie die wissenschaftliche Korrespondenz, die Korrespondenz mit Verlagen, Einladungen zu Buchreisen oder Ehrungen einbezogen werden.

Anhand der Beispiele emigrierter Historiker, deren Bücher auf Deutsch und Englisch veröffentlicht wurden, offenbaren sich zudem Grenzen in der internationalen Sichtbarkeit. (West-)Deutsche Forschende nahmen die aus Deutschland geflohenen Kollegen:innen als Amerikaner:innen wahr, deren Studien sie oft deutlich später und in geringerem Maße als amerikanische Wissenschaftler:innen rezipierten. Andersherum galt dies auch für viele Werke in Deutschland lebender Historiker:innen, die in den USA auf weniger Aufmerksamkeit in Fachmedien stießen. Auch wenn sich Wissenschaftler:innen mit ähnlichen Themen beschäftigen, fokussiert sich das Rezensionswesen oft auf die Arbeiten aus dem eigenen Land. Für den internationalen Austausch wäre eine stärkere Besprechung von Studien aus anderen Ländern relevant. Besonders Internet-Plattformen wie H-Soz-Kult oder H-Net ermöglichen mittlerweile eine stärkere Vernetzung. Dabei wären Verweise zwischen den Plattformen und Fachzeitschriften auf thematisch verwandte Bücher und Rezensionen hilfreich, um sich einen Überblick über den internationalen Forschungskontext zu verschaffen. Rezensionen, die auf anderen Fachportalen und in Zeitschriften erschienen sind, würden so leichter auffindbar und zugänglich. Durch Querverweise auf thematisch verwandte Rezensionen in anderen Medien könnte auch eine breitere Leser:innenschaft erreicht werden.

Aufgrund des Interesses an historischen Forschungen zum Nationalsozialismus und der Shoa in der Tagespresse gelang es, ein breiteres Publikum auf diese Themen aufmerksam zu machen, wie die Beispiele von Leschnitzer und Hilberg zeigten. Diese Rezeption wissenschaftlicher Werke (und ihre Popularisierung in der massenmedialen Öffentlichkeit) durch Journalist:innen ist jedoch ambivalent zu bewerten. Auf der einen Seite lenkte sie Aufmerksamkeit auf die wissenschaftlichen Arbeiten. Gleichzeitig hinterfragte sie deren Rezeption in der Geschichtswissenschaft und fungierte damit als eine Art Kontrollinstanz. Auf der anderen Seite konnte sie nicht die Qualitätskontrolle leisten, die Wissenschaftler:innen einfordern. Bücher emigrierter Wissenschaftler, wie Hilberg, priesen Journalist:innen insbesondere in den 1990er-Jahren als fortschrittlich, während deutsche Historiker:innen sie vielfach als überholt einstuften. Die gesellschaftliche Bedeutung einer Arbeit steht damit dem Beitrag zur Forschungsdebatte gegenüber. Beides sind zweifelsohne wichtige Kriterien für die Bewertung von Büchern, die Urteile fallen aber abhängig von der Berufsgruppe, die sie vornimmt, unterschiedlich aus. Daher ist es wichtig und hilfreich, wenn sich verschiedene Personengruppen aus unterschiedlichen Bereichen in die Besprechung von Studien einmischen. Auch hier sind eine stärkere Vernetzung und gegenseitige Verweise auf Rezensionen aus Fachzeitschriften und Tagespresse wünschenswert.

Das könnte auch dazu beitragen, dass wissenschaftliche Resultate nicht nur unter Wissenschaftler:innen und Journalist:innen diskutiert werden, sondern für darüber hinaus Interessierte zugänglich werden. Die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wird erleichtert. Rezensionen ermöglichen dann nicht nur den internationalen wissenschaftlichen Austausch, sondern auch den Brückenschlag zur Informationsweitergabe an die Gesellschaft. Dazu bedarf es einer stärkeren Vernetzung zwischen Rezensionsportalen. Eine solche Vernetzung könnte Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Fachzeitschriften, Tageszeitungen und Internetfachportalen haben. Veröffentlichungen in erst genannten gelten häufig als renommierter, wobei auch letztere nach wissenschaftlichen Kriterien redaktionell überarbeitet werden. Rezensionen auf Fachportalen ermöglichen zudem besonders Nachwuchswissenschaftler:innen eine größere Sichtbarkeit für ihre Beurteilungen. Eine Aufwertung von nach Gütekriterien arbeitenden Internetportalen könnte damit zu einer Enthierarchisierung, zu einer fortschreitenden Digitalisierung der Geschichtswissenschaft und zu Resonanz und Aufmerksamkeit für die Fachdiskurse außerhalb der Berufsgruppe der Historiker:innen beitragen.

Dieser Beitrag erschien als Teil des Diskussionsforums über
Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften.
https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5234
Übersicht zum Forum "Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften"

Anmerkungen:
1 Wie z.B. in den Beiträgen zur Geschichte des Nationalsozialismus (BGNS), in: Einsicht. Das Bulletin des Fritz Bauer Instituts, oder in der Historischen Zeitschrift (HZ).
2 Um diese Fragen zu beantworten, greife ich auf Ergebnisse und Beispiele aus meiner Doktorarbeit Unbequeme Pioniere. Emigrierte Historiker in der westdeutschen und amerikanischen NS- und Holocaust-Forschung zurück, die ich im Juli 2020 an der Universität Leipzig erfolgreich verteidigt habe.
3 Adolf Leschnitzer, Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft, Heidelberg 1954, S. 8; Manuskript, Die deutsch-jüdische Symbiose; Adolf Leschnitzer Collection (folgend abgekürzt als ALC), AR 25320, Box 9/ Folder 39, Leo Baeck Institute New York (LBI); als Teil des Buches später veröffentlicht: Adolf Leschnitzer, Geschichte der deutschen Juden vom Zeitalter der Emanzipation bis 1933, in: Franz Böhm / Walter Dirks (Hrsg.), Judentum. Schicksal, Wesen und Gegenwart, Wiesbaden 1965, S. 255–288.
4 Die drei Zitate: Heinrich Schnee, Rezension zu: Adolf Leschnitzer, Saul und David, in: Das Historisch-Politische Buch, ALC, AR 25320, B 4/ F 56, LBI. Eine Biographie über den Lebenslauf des Kolonialbeamten ist 2017 erschienen: Katharina Abermeth, Heinrich Schnee. Karrierewege und Erfahrungswelten eines deutschen Kolonialbeamten, Kiel 2017.
5 Hans Günther Adler, Soziologie der deutsch-jüdischen Gemeinschaft, in: Der Telegraph, 04.07.1956, ALC, AR 25320, B 20/ F 31, LBI.
6 Beide Zitate: Hans Günther Adler, Jüdische Existenz, in: Merkur, April 1956, ALC, AR 25320, B 20/ F 31, LBI.
7 Peter Left, Tragik der deutsch-jüdischen Symbiose, in: Der Tagesspiegel vom 12.02.1955, S. 5. Ähnlich urteilt auch: Wilhelm Teufel, Saul und David, in: Die Stuttgarter Zeitung vom 02.04.1955; Joseph Maier, Warum die deutschen Juden untergingen, in: Der Aufbau vom 01.04.1955; Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland vom 21.01.1955, Buchbesprechung, in: Bayerischer Rundfunk, 11.03.1955, ALC, AR 25320, B 20/ F 31, LBI.
8 Paul Kluke an Rothfels, 25.06.1957, ID 90-3-57, Hausarchiv Institut für Zeitgeschichte (IfZ).
9 Auch der ebenfalls emigrierten jüdischen Historikerin Selma Stern und ihrem Werk Der preußische Staat und die Juden erging es nicht anders: Wilhelm Treue, Rezension zu: Selma Stern, The Court Jew, in: Historische Zeitschrift 172 (1951), S. 571–577, hier: S. 573.
10 Georg G. Iggers, New Directions in European Historiography, London 1985; Georg G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 1978.
11 Ebd., S. 39–43.
12 Helmut Berding, Rezension zu: Georg Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 651-652.
13 Jürgen Kocka, Gegenstandsbezogene Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, Göttingen 1977, S. 178–189, hier: S. 178.
14 Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019, S. 393–396.
15 Sebastian Scheerer, Rezension zu: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, in: Kritische Justiz 16 (1983), S. 444–447; Reinhard Kühnl, Rezension zu: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, in: PVS-Literatur 24 (1983), S. 177–179.
16 Kühnl, Rezension zu: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, S. 179.
17 Klaus J. Bade, Rezension zu: Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, in: Das Historisch-Politische Buch XXXII (1984), S. 21–22, hier: S. 21.
18 Urs Müller-Plantenberg, Immer noch Angst vor der ganzen Wahrheit, in: Die tageszeitung vom 26.11.1982.
19 Albert Bruer, Rassenhaß und Bürokratie, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1983, S. 39; Judith Klein, Die anti-jüdische Politik des Vichy-Regimes, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 15.04.1983, S. 20; Micha Brumlik, Die Logik der Judenvernichtung, in: links. Sozialistische Zeitung vom April 1983, S. 25–26; E.L.E, Die Vernichtung der europäischen Juden, in: Jüdische Rundschau Basel vom 07.07.1983; Andrea Friedrich, Rezension zu Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, in: Besprechungen / Annotationen der Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken GmbH von 1983; Reinhard Rürup, Die Vernichtung der europäischen Juden, in: Zitty Zitty, Jg. 7 H. 4, 1983, S. 40–42; Hilde Ahemm, Eine riesige Vernichtungsmaschinerie. Raul Hilbergs Standardwerk über den Untergang der europäischen Juden, in: Stuttgarter Zeitung vom 29.04.1983, S. 32.
20 Hans-Martin Lohmann, „Es wird ihnen das Lachen überall vergehen.“ Raul Hilbergs Werk über die Vernichtung der europäischen Juden, in: Die Frankfurter Rundschau vom 09.07.1983, S. iv.
21 Holger Platta, Was waren die Gründe? Neuere Literatur zur Geschichte des Antisemitismus, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 20.05.1983, S. 5; Hartwig Bögeholz, Das Politische Buch. Nachzeichnung des europäischen Holocaust, in: Das Parlament vom 17.09.1983; Orland Nachum, Ein Standardwerk über den Holocaust. Raul Hilbergs Werk über die „Vernichtung der europäischen Juden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.06.1984, S. 11; Bernd-Wilfried Kießler, Die Bürokratie als Mordwaffe, in: Stuttgarter Zeitung vom 07.05.1984.
22 Ulrich Herbert, Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik, in: Ders. U.a. (Hrsg.), Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, S. 67–86, hier: S. 80.
23 Andreas Eichmüller, Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen und die Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik Deutschland 1949–1958, in: Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, Göttingen 2012, S. 53–74.
24 Götz Aly, Nur mit Genehmigung des Instituts für Zeitgeschichte, in: Perlentaucher. Das Kulturmagazin, 18.10.2017, <https://www.perlentaucher.de/essay/goetz-aly-das-institut-fuer-zeitgeschichte-und-die-verzoegerte-deutsche-ausgabe-von-raul-hilberg.html> (02.05.2021).
25 Anna Corsten, Unbequeme Pioniere. Emigrierte Historiker in der westdeutschen und amerikanischen NS- und Holocaust-Forschung, Dissertationsschrift verteidigt am 16.7.2020 an der Universität Leipzig, S. 349–351.

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