Forum: Nation: Zur Rolle der Nation in der Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts

Von
Maria Framke, Historisches Seminar, Universität Erfurt; Andreas Weiß, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr, Hamburg

Nation(en) und ihre Symbole spielen eine Rolle: Vier Tage nach dem Fall von Kabul protestierten afghanistanweit Menschen anlässlich des Nationalfeiertages gegen die neue Fahne des Islamischen Emirates Afghanistan, indem sie die „alte“ Fahne schwenkten.1 Diese Fahne war selbst allerdings erst 2013 eingeführt worden. Afghanistan, 1919 als souveräner, unabhängiger Staat gegründet, hatte im letzten Jahrhundert je nach Regime oder Regierungsallianz immer wieder verschiedene Fahnen gesehen, konnte aber nie seinen Geburtsfehler als Produkt divergierender kolonialer Interessen überwinden und blieb Spielball ausländischer Mächte.

Diese Beobachtung zur fortwährenden Bedeutung von Nation und ihren Symbolen gilt auch für Staaten, die ein anderes, deutlich distanzierteres Verhältnis zur Nation pflegen. In den letzten Jahren gewann die Debatte um die Nation wieder an Dynamik: Autorinnen wie Jill Lepore und Anne Applebaum betonten vor allem das antidemokratische Element im Wiederaufleben des rechten Nationalismus. Aleida Assmann wiederum widmete sogar ihr letztes Buch, ihr Corona-Buch, wie sie schreibt, ganz der Verteidigung der Nation.2 Schnell von den Medien auch in Deutschland aufgegriffen und diskutiert, fokussieren sich die von den Autorinnen angestoßenen Debatten vor allem auf Demokratien nach westlichem Vorbild, die sie als ebenfalls bedroht definieren. Dabei steht in allen drei Büchern die Frage im Mittelpunkt, ob sich heute vor allem das linke und das liberale Bürgertum in westlichen Demokratien mit der Nation identifiziert und diese als Solidargemeinschaft mit seinen Werten verteidigen kann. Gegen die Angriffe von rechts wird entweder die positive Aufladung eines liberalen Nationalismusbegriffs gefordert, wie im Falle von Lepore (siehe den Beitrag von Jürgen Martschukat), eine Debatte, die in der alten Bundesrepublik vor allem unter dem Begriff (Verfassungs-)Patriotismus geführt wurde. Oder es wird zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement aufgerufen. So erfordert die Verteidigung freiheitlicher Demokratien gegen verschiedene Formen des Autoritarismus laut Applebaum Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung, da jede Generation ihre Nation durch eine solche Partizipation neu erschaffen und definieren muss. Von anderer Seite wird hingegen gleich für die Überwindung des Nationalstaates plädiert. Dabei – und das ist eine der Fragen dieses Forums – wird Staatlichkeit im 21. Jahrhundert oft per se mit Nationalstaat gleichgesetzt wird; also auch von manchen Kritiker:innen eine angebliche ethnische Homogenität postuliert, die in den seltensten Fällen der Realität entspricht (siehe David Feest).

Diesen verschiedenen Debatten ist gemein, dass zumindest in der populären Rezeption auch die Rolle der Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft immer wieder Thema ist. Sowohl Lepore als auch Assmann kritisieren, dass die Frage nach der Rolle der Nation überwiegend außerakademischen Gruppen überlassen wurde. Zudem würden die Akademiker:innen, die sich diesem Thema widmen, marginalisiert oder als old fashioned kritisiert. Diese Distanz zum Thema von Seiten der etablierten Historiker:innen könnte auch damit zusammenhängen, dass sich die „Neue Rechte“ ihm wieder verstärkt gewidmet hat und ihre Thesen durchaus eine breite Öffentlichkeit finden.3 Dagegen bleibt aber festzuhalten, dass sich die Geschichtswissenschaft immer wieder intensiv mit der Nation beschäftigte; so wurde verstärkt auf die Gefahr eines wiedererwachenden Nationalismus im Rahmen der Brexit-Debatte verwiesen. Auch einige deutsche Historiker:innen beteiligen sich nun an einer euroskeptischen Diskussion, die mehr Rücksicht auf die Nation im europäischen Verband einfordert.4

In anderen Staaten Europas, zum Beispiel in Polen (siehe Maciej Górny), aber auch in Spanien oder Ungarn, und in vielen Teilen der Welt war diese Debatte um den Wertgehalt des Begriffs „Nation“ nie verschwunden. Entweder musste der gerade erst im Zuge der Dekolonisierung neu entstandene Nationalstaat noch (aus-)definiert werden.5 Oder es entstanden – und bestehen – politische und strategische, neue wie alte, Rivalitäten, die national aufgeladen wurden, um die eigene Bevölkerung hinter den Zielen der jeweiligen Regierung zu versammeln, so z.B. in Spanien. Manchmal überschnitt (und überschneidet) sich dies mit kolonialen oder historischen „Wunden“, wie im Falle des Dreiecks China-Korea-Japan (siehe Marc Matten und Chikara Uchida) oder Pakistan-Indien-Bangladesch.

Daher will dieses Forum der Frage nachgehen, welche Rolle die Nation nicht nur in aktuellen politischen Debatten einnimmt, sondern auch, ob das Thema für die Geschichtswissenschaften im 21. Jahrhundert (wieder) an Bedeutung gewonnen hat. Welche Rolle spielt offizielle Geschichtsforschung zum Thema der Rolle der Nation, also diejenige, die im wissenschaftlichen Rahmen (Universitäten, Akademien, Forschungszentren) betrieben und an Schulen vermittelt wird, generell noch im öffentlichen Diskurs? Verschiedene Artikel dieses Forums verstehen sich nicht ausschließlich als weitere akademische Beiträge zu diesen Debatten, sondern durchaus auch als erinnerungspolitische Interventionen bzw. Diskussionsangebote. Dabei geht es uns in diesem Forum nicht um Nation als politischen Kampfbegriff, sondern als analytische Kategorie.

Darüber hinaus fragt das Forum nach dem Wechselspiel von Nationalismus und Globalisierung und nach den Herausforderungen, die sich hieraus für die aktuelle Historiographie ergeben. Geschichtswissenschaft war die Geisteswissenschaft, die versuchte, die Nation(alstaat)sbildung im 19. Jahrhundert zu untermauern. Diese Dominanz verlor sie über das 20. Jahrhundert hinweg, als zum Beispiel die Sozialwissenschaften besser geeignet schienen, den Herausforderungen einer sich zunehmend dekolonisierenden und fragmentierenden, aber gleichzeitig globalisierenden Welt zu begegnen.6 Im 21. Jahrhundert untergrub dann, so stellt es sich zumindest für einige dar, die Globalgeschichtsschreibung endgültig den Anspruch der „klassischen“ nationalen Geschichtsschreibung, u.a. mit ihrer dafür aber auch immer kritisierten Lingua Franca Englisch.7 Wie der Artikel von Julia Angster thematisiert, konnte in der deutschen Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren beobachtet werden, dass neuere Theorie- und Methodenkomplexe, wie die Global-, aber auch die neuere Kultur- und Sozialgeschichte, die „klassische“ Nationalgeschichte, die vor allem als Nationengeschichtsschreibung verstanden wurde, herausforderte. Inwieweit Angsters Beobachtungen auch für Historiographien über Deutschland hinaus der Fall gelten, stellt sich (nicht nur) in den hier vorgestellten Fallbeispielen unterschiedlich dar. Dieser Befund ist auch deshalb keineswegs einfach übertragbar, da außerhalb Deutschlands die Nationalgeschichtsschreibung nie (ganz) verschwunden war. Denn, so zumindest eine Debatte in den Politikwissenschaften, die Rückkehr des Nationalen (einer nationalen Identität) ist ein Abwehrreflex gegen den rasanten sozialen und technischen Wandel und die Anwürfe/Anforderungen, die scheinbar durch die Globalisierung ausgelöst wurden, eine Debatte, die wir ja auch in Deutschland erleben.8

Historiographisch lassen sich außerdem zyklische Konjunkturen des Themas feststellen, wobei die Frage zu stellen bleibt, inwieweit diese mit Krisenzeiten oder rapidem Wandel zusammenfallen. So waren die 1990er-Jahre nicht nur eine Phase des Wiederauflebens von Nationalismus, in Europa wie in Afrika, sondern auch der Beschäftigung mit der Nation als Konzept sowie als historische Entität. Hier war allerdings schon abzusehen, dass das Konzept „Nation“ in der Historiographie durch andere Konzepte abgelöst werden würde, ein Trend, der sich durch den Aufstieg der neuen Kulturgeschichte und den spatial turn noch verstärken sollte.9 Gleichzeitig wandten sich Historiker:innen erneut der Imperialgeschichte zu und diese Hinwendung konnte verschiedentlich, wie in Großbritannien, als Versuch verstanden werden, die Nationalgeschichte hinter neuer Fassade vor global- und postkolonialen Anstürmen zu verteidigen.10

Themen und Fragestellungen

Um Antworten auf die gerade aufgeworfenen Fragekomplexe zu finden, stellt das Forum Fallbeispiele aus verschiedenen Regionen vor: dem arabischen Raum (Ägypten, Irak, Marokko), den Amerikas (Argentinien, Brasilien, Vereinigte Staaten von Amerika), aus Asien (China, Japan, Pakistan, Vietnam) und Europa (Belgien, Deutschland, Estland, Polen).

Manche diese Länder haben eine lange Tradition einer problemorientierten Diskussion des Begriffes „Nation“. So wurde zum Beispiel für den argentinischen Fall debattiert, inwieweit der Fußball als Ersatz für Nation fungieren konnte, da außerakademische Akteure den Nationsbegriff okkupierten und weite Teile der Bevölkerung seiner offiziellen semantischen Aufladung nicht mehr folgten (siehe auch Maximiliano von Thüngen).11 Insofern greifen manche der hier vorgestellten Fallstudien die oben erwähnten Debatten rund um die populärwissenschaftliche Aneignung der Nation auf. Sie lassen so neue Verbindungen zu internationalen Debatten erkennen. So findet sich der Vorwurf, dass die aktuell dominante Nicht-Beschäftigung mit der Nation ein Resultat vorgeblich linkszentrierter Erinnerungspolitik sei, auch in Lateinamerika. Hier zeigen sich globale Allianzen der gegenwärtig dominanten Akteure, die Geschichte umzudeuten oder bestimmte Akteursgruppen ganz aus der (offiziellen) Geschichte herauszuschreiben (siehe zum Beispiel die Artikel von Georg Fischer, aber auch von Jakob Müller und von Martschukat).12 Neue Formen von Nationalismus und Forderungen nach sowie Deutungskämpfe um die Rolle der Nation im 21. Jahrhundert sind aber nicht nur auf Seiten der Rechten, sondern ebenso im Lager der Linken sowie in kommunistisch und sozialistisch regierten Ländern sichtbar, die bisher eher internationalistische Positionen vertraten (siehe Matten und Martin Großheim). Während bei dem argentinischen Präsidentenehepaar Kirchner der Unterschied zum „klassischen“, eher der politischen Rechten zugeordneten, Nationalismus fließend ist (siehe auch von Thüngen), spielt beispielsweise der Chavismus in Venezuela mit einem vorgeblich anti-imperialen Nationalismus. Der politische Dualismus, auch um die Nation und unser Verständnis derselben, hat außerdem in verschiedenen Staaten zu einer Dichotomie der Erinnerungskultur geführt (siehe die Beiträge von Müller, Górny und Martschukat). Das Forum thematisiert diese parallelen, multiplen Entwicklungen und gibt somit Einblick in wissenschaftliche Diskussionen, die in Deutschland häufig nur am Rande oder von einem engen Fachpublikum wahrgenommen werden.

Gleichzeitig ist es sinnvoll, die Nationenfrage auch für solche Staaten zu diskutieren, die entweder über ein kürzeres Reservoir etablierter historiographischer Deutungskonzepte verfügen oder deren politische Geschichte nach 1945 fundamentale Umwälzungen erlebte (siehe Feest, Großheim, Anushay Malik, Sophie Wagenhofer und Peter Wien). Für diese, aber auch im Fall von Brasilien und Argentinien zeigt sich die starke Rolle zivilgesellschaftlicher Akteur:innen oder Akademiker:innen außerhalb der Wissenschaft in der Reformulierung nationalhistoriographischer Deutungsangebote im frühen 21. Jahrhundert. Dabei lässt sich beobachten, dass der akademischen Historiographie zunehmend die Deutungshoheit über die Nation im 21. Jahrhundert abgesprochen wird.

Im Querschnitt zeigen die Artikel deutlich die Ähnlichkeiten mancher Probleme und Befunde auf. Dies wird nicht nur innerhalb einzelner Regionen und vergleichbarer Systeme sichtbar, wie der Nationspolitik der kommunistischen Regierungen Chinas und Vietnams. Sondern auch zwischen Staaten, die ihre Nationsbildung schon im 19. Jahrhundert durchliefen (Argentinien, Brasilien) und jenen Staaten, die erst im 20. Jahrhundert einen fundamentalen Wandel entweder von Kolonien oder abhängigen Gebieten hin zu „modernen“ Nationalstaaten erlebten. Gleichzeitig zeigen verschiedene Beiträge auf, dass für zukünftige historische Forschungen neue Quellenmaterialien herangezogen werden sollten (z.B. Fischer, Malik und Wien). So machen die gewählten Fallbeispiele Verlagerungen in der Methodik deutlich: von erinnerungspolitischer Forschung zur Nation, die traditionellere Themen der Nationalismusforschung, wie Parteien und Schulbücher, in den Blick nahm, hin zu kultur- und alltagsgeschichtlichen Untersuchungen.

Was bleibt zu tun

Ein Forum zur Rolle der Nation in der Geschichtsschreibung des 21. Jahrhundert hätte durchaus eine ganze Reihe weiterer Beiträge mit verschiedenen geografischen und thematischen Schwerpunktsetzungen berücksichtigen können. Einige Leerstellen sind aktuellen weltpolitischen Vorgängen, wie der Covid-19 Pandemie oder politischen Umbrüchen geschuldet und zeigen dadurch die dynamische Entwicklung auf.

Wir möchten diese Einleitung schließen, indem wir anregende Forschung kurz vorstellen und zugleich auf Forschungsdesiderate hinweisen. Damit wollen wir dazu beitragen, dass deutsche Debatten um das Wiederaufleben des Nationalismus nicht nur idiosynkratisch um sich selbst kreisen und die Erfahrungen und Diskussionen in anderen Teilen der Welt vernachlässigen. Dass blinde Flecken auch existieren, wenn es um „eigene“ Erfahrungen mit Nationalismus und der Rolle der Nation geht, zeigt sich bei der Frage nach einer gemeinsamen deutschen Historiographie nach 1990. Trotz aller Versuche der Einbindung der DDR-Geschichte in eine deutsch-deutsche Geschichte (die immer noch überwiegend aus der Sicht der Bundesrepublik geschrieben wird) wurde die Forschung zur Nation in Deutschland nach 1990 oftmals von Nicht-Deutschen angestoßen.13

Trotz der globalen Dimension dieses Forums konnten nicht alle Regionen behandelt werden, die von Interesse sind. So gibt es keinen Artikel zum subsaharischen Afrika, obgleich eine Beschäftigung mit der Geschichtsschreibung in subsaharischen Ländern weitere wichtige Erkenntnisse versprochen hätte; zu diesem Raum liegen aber schon Studien vor. Doch wäre es für uns gewinnbringend gewesen, zu erfahren, wie die Historiographie jener Länder, die nach der Dekolonisierung europäische Muster wiederholten, aus verschiedenen Gruppen eine „Nation“ zu schaffen, die aktuellen Herausforderungen multiethnischer Staatsgebilde analysieren. Dies umso mehr, als solche Versuche schon während der Dekolonisierung verschiedentlich skeptisch betrachtet wurden.14 Diese Skepsis fiel mit der Hochphase des Panafrikanismus in den 1960er-Jahren zusammen, denn während dieser Epoche, der intensivsten Phase der Dekolonisierung, wurde international breit über Alternativen zur Schaffung einer Staatsnation diskutiert. Für weite Teile Afrikas war dies unter anderem der Panafrikanismus. Doch finden sich zahlreiche weitere Pan-Bewegungen, vom älteren Pan-Asianismus zum zeitgenössisch ebenfalls virulenten Pan-Arabismus (siehe den Beitrag von Wien) hin zu den Bewegungen der Blockfreien et al.15

Hinsichtlich der Länderauswahl wäre ebenfalls an andere Beispiele zu denken, die die Debatte um die Rolle der Nation in der Geschichtsschreibung bereichern könnten. Zu nennen wäre hier für Europa unter anderem Spanien mit seinen wiederbelebten Regionalkonflikten; ein Beispiel, das umso bemerkenswerter ist, da der katalanische Nationalismus im Gegensatz zum baskischen immer als der „zivilere“ galt und nach dem Ende des Terrors der ETA die Auseinandersetzungen, die ja auch eine Projektion auf die alten Forales (Sonderrechte) sind, als weitgehend gelöst galten. Welche Fallstricke sich aber hinter einem positiv aufgeladenen, undifferenzierten Nationalismus der Linken verbergen können, zeigen neuere Studien zur Emotionsgeschichte des katalanischen Nationalismus.16 Ebenso hätte man die Auswirkungen der Sprachenfrage in Frankreich oder die Frage des „geteilten“ Italiens diskutieren können. Im letzteren Fall hätte sich nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Mezzogiorno, Sardinien oder (Trans-)Padanien gelohnt, sondern auch mit Südtirol, das noch in den späten 1980er-Jahren durch Bombenanschläge erschüttert wurde. Besonders das letzte Beispiel, aber auch die baskische Frage, zeigen, dass die Frage von Territorialität und Nation im Europa des 20. Jahrhunderts noch längst nicht abgeschlossen war.17 Dem Fall Großbritannien hingegen wurde in den letzten Jahren genügend Aufmerksamkeit geschenkt.18

Außerhalb von Europa wäre das Beispiel Chile vor dem Hintergrund der aktuellen Verfassungsdebatte von Interesse gewesen. Ebenso hätte sich eine vertiefte Beschäftigung mit Indien nicht nur als Spiegel der pakistanischen Sicht angeboten. Das südasiatische Land sieht seit einiger Zeit eine heftige wissenschaftliche und öffentliche Debatte um die Fragen, wer zur indischen Nation gehört und wie ihre Geschichte geschrieben werden soll. Diese Debatte wird durch die von der hindunationalistischen Modi-Regierung betriebene staatliche Neuinterpretation der indischen Nation als Hindu-Nation und durch mit ihr einhergehende Gesetze und Maßnahmen weiter befeuert.19 Auch die Türkei hätte insbesondere mit Hinblick auf die Türkisch-islamische Synthese und Recep Tayyip Erdoğans Traum vom Wiederaufleben einer Großtürkei in Form eines Neoosmanismus (hier wäre als Beispiel sein ehemaliger Berater und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu zu nennen) sicher spannende Punkte für einen internationalen Vergleich geboten. Wie in der britischen Debatte um die Rolle von Imperien zeigt sich bis heute ein hohes Emotionalisierungspotential nationaler Narrative, wie sie auch im japanisch-chinesischen Fall zu finden sind (siehe Beitrag Uchida). Neuere Forschungen zur österreichisch-ungarischen Monarchie, zum zaristischen Russland und zum Osmanischen Reich betonen bezeichnenderweise in einer Art Gegenentwurf, dass diese einen vorgeblich aggressiven Nationalismus eingehegt und dadurch in Teilen zu einem Kosmopolitismus geführt hätten.20 Hieran schließen sich hochaktuelle Fragen wie die zur Krim an, die die Aktualität des Wechselverhältnisses neo-imperialer Expansion in revisionistischer Lesart und Nationalismus aufzeigen.

Neben einem staatlich-regionalen Zugang hätte die im Forum diskutierte Frage nach der Rolle der Nation in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung auch thematisch erweitert werden können. Ein Beitrag zur aktuellen Forschung von Faschismus und Anti-Faschismus als globales Phänomen könnte demnach unser Wissen um den Nationenbegriff – und seine Diskussion in den Geschichtswissenschaften – erweitern.21 Von Interesse wäre auch ein vergleichender Blick der internationalen Schulbuchforschung auf den Umgang mit der Nation in den Unterrichtsplänen und Schulbüchern in verschiedenen Ländern gewesen (siehe Uchida und Wagenhofer). So veröffentlich(t)en Mitglieder der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission immer wieder zu diesem Thema.22

All dies zeigt, dass die so anachronistische Nation noch höchst aktuell in wissenschaftlichen Debatten wie in der Öffentlichkeit ist und uns voraussichtlich noch einige Zeit beschäftigen wird. Wir verstehen diese Beiträge zuallererst als Anstoß, das Thema weiterzuführen und wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen.23

Eine englische Fassung des Texts finden Sie unter https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5287 .

Anmerkungen:
1 Tagesschau, 19.08.2021 14:37 Uhr, <http://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-1025.html> (01.09.2021). Wir danken Joanna Simonow und Tobias Becker für die Durchsicht dieser Einleitung und ihre Kommentare.
2 Jill Lepore, This America. The Case for the Nation, New York 2019; Anne Applebaum, Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, München 2021; Aleida Assmann, Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020; die Fast-Widmung findet sich auf S. 9. Siehe auch dies., Erinnerung, Identität, Emotionen. Die Nation neu denken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2020) 3, <https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/maerz/erinnerung-identitaet-emotionen-die-nation-neu-denken> (01.09.2021).
3 Es waren in letzter Zeit Politikwissenschaftler:innen, die sich mit dieser Dynamik beschäftigten; siehe z.B. Volker Weiß, Deutschlands neue Rechte. Angriff der Eliten – von Spengler bis Sarrazin, Paderborn 2011. Vgl. auch die Rezension zu diesem Buch, nach der Thesen wie die von Thilo Sarrazin Zustimmung bei 50 Prozent der Deutschen fanden, Johannes Zuber, Rezension zu: ibid., in: H-Soz-Kult, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-17872> (02.09.2021).
4 Einführend aus der zahlreichen Literatur u.a. Ben Wellings, English Nationalism and Euroscepticism. Losing the Peace, Bern 2012; Benjamin Grob-Fitzgibbon, Continental Drift. Britain and Europe from the End of Empire to the Rise of Euroscepticism, Cambridge 2016; für die deutsche Perspektive stellvertretend Dominik Geppert, Ein Europa der Nationen. Der europäische Einigungsprozess aus zeitgeschichtlicher Sicht, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Quo vadis Europa? Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung, Berlin 2020, S. 39-56. Bemerkenswert ist, dass englische Autor:innen zunächst einen zwar ebenfalls euroskeptischen, aber ganz anderen Standpunkt einnahmen, siehe Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, 2. Aufl., London 2000. Welche bizarren Auswüchse der Euroskeptizimus und das Hoffen auf die Beibehaltung von Nationen annehmen konnte, wird unter anderem thematisiert in Brent F. Nelsen / James L. Guth, European Union or Kingdom of the Antichrist? Protestant Apocalyptic Narratives and European Unity, in: National Identities 19 (2017), 2, S. 251-267.
5 Zum Wechselspiel von Dekolonisierung und Nationalismus siehe zum Beispiel Jean Allman, Between the Present and History. African Nationalism and Decolonization, in: John Parker / Richard Reid (Hrsg.), The Oxford Handbook of Modern African History, Oxford 2013, S. 224-242; Harald Fischer-Tiné, Marrying Global History with South Asian History. Potential and Limits of Global Microhistory in a Regional Inflection, in: Comparativ 28 (2018), 5, S. 49-74, hier S. 55-58.
6 Verwiesen sei hier nur auf Berber Bevernage / Nico Wouters (Hrsg.), The Palgrave Handbook of State-Sponsored History after 1945, London 2018.
7 Für eine kritische Stellungnahme zur Sprachproblematik in der Globalgeschichtsforschung siehe Margrit Pernau, Global history. Wegbereiter für einen neuen Kolonialismus?, in: Connections. A Journal for Historians and Area Specialists, 17. Dezember 2004 (ehemals geschichte.transnational), <https://www.connections.clio-online.net/searching/id/diskussionen-572?title=global-history-wegbereiter-fuer-einen-neuen-kolonialismus&q=Pernau&page=2&sort=&fq=&total=38&recno=38&subType=fddebateecno=38&subType=fddebate> (01.09.2021).
8 Siehe auch Anmerkung 3.
9 Zum Aufleben des Nationalismus in Afrika und für einen historiografischen Überblick zur Erforschung von Nation in Afrika siehe Miles Larmer / Baz Lecocq, Historicising Nationalism in Africa, in: Nations and Nationalism 24 (2018), 4, S. 893-917, hier S. 906. Zum Wiederaufleben der Debatte: Benedict Andersons Buch wurde 1991 erweitert neu aufgelegt, Eric Hobsbawms Klassiker Nations and Nationalism since 1780 (1989) erlebte in den 1990ern verschiedene Auflagen und Fukuyama veröffentlichte 1992 The End of History and the Last Man, in dem er postulierte, dass die Suche nach Staatsformen für alle Nationen mit der liberalen Demokratie zu ihrem Ende gekommen wäre. Noch radikaler thematisierte Samuel P. Huntington in The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (1996) das Ende der Nation. Wichtige Anstöße für diese Werke entstanden allerdings schon in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre (Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, erw. Neuaufl., London 1991; Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, 2. Aufl., Cambridge 1992; Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992; Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London 1998). Zu den Phasen in Hobsbawms Nachdenken über die Nation, die sich auch zur Frage der Konjunkturen verallgemeinern ließe, siehe John Breuilly, Hobsbawm and Researching the History of Nationalism, in: John H. Arnold / Matthew Hilton / Jan Rüger (Hrsg.), History after Hobsbawm. Writing the Past for the Twenty-First Century, Oxford 2017.
10 Das bekannteste und umstrittenste Beispiel ist sicher Niall Ferguson, Empire. How Britain Made the Modern World, London 2003. Ein Plädoyer für die Notwendigkeit einer new imperial history gegenüber postkolonialen, vor allem aber nationalgeschichtlichen Interpretationen am Fallbeispiel Großbritannien/Britisches Imperium lieferte Anthony Hopkins, Back to the Future. From National History to Imperial History, in: Past & Present 164 (1999) 1, S. 198-243. Als theoretische Reflexion zum Verhältnis britischer Geschichtsschreibung, dem Commonwealth und Europa im 20. Jahrhundert siehe J. G. A. Pocock, History and Sovereignty. The Historiographical Response to Europeanization in Two British Cultures, in: Journal of British Studies 31 (1992) 4, S. 358-389.
11 Pablo Alabarces, Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation, 2. Aufl., Berlin 2015.
12 Ein anderes Beispiel wäre, wenn zum Beispiel angeblich lange ignorierte „Einwanderungs-“ und Minderheitengruppen von Nachkommen schwarzer Argentinier thematisiert werden, siehe Uki Goñi, Time to Challenge Argentina’s White European Self-Image, Black History Experts Say, in: The Guardian, 31. Mai 2021, <https://www.theguardian.com/world/2021/may/31/argentina-white-european-racism-history> (24.08.2021). Bezeichnenderweise wurde dieser Artikel aber von einem Mitglied der traditionellen, liberalen argentinischen oberen Mittelschicht verfasst.
13 Ein frühes Beispiel für eine westdeutsche Perspektive, in der Nation als Bedrohung verstanden wurde, Dorothea Weidinger (Hrsg.), Nation – Nationalismus – nationale Identität, Bonn 1998, v.a. Kap. 6. Zu ausländischen Beiträgen zur Debatte u.a. Régine Robin, Berlin. Gedächtnis einer Stadt, Berlin 2002, v.a. S. 79-196; als aktueller Versuch, die Geschichte beider Staaten zu integrieren, beispielhaft Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020.
14 Larmer / Lecocq, Historicising Nationalism mit weiterführender Literatur; Denise Bentrovato, Narrating and Teaching the Nation, Göttingen 2015; Lisa Hoppel, Internationalistischer Nationalismus. Lehren aus dem panafrikanischen Befreiungskampf, Wien 2019; Sabelo Ndlovu-Gatsheni, Rethinking Chimurenga and Gukurahundi in Zimbabwe. A Critique of Partisan National History, in: African Studies Review 55 (2012) 3, S. 1-26.
15 Zu Europa siehe den Klassiker Eugen Weber, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1880-1914, Stanford 1976; aktuell zum Panafrikanismus und dem Problem der Staatsbildung nach der Dekolonisierung Andreas Eckert, Untergang einer Verheißung?
Afrika nach der Unabhängigkeit, in: Historische Anthropologie 29 (2021) 1, S. 75-97, v.a. S. 75-77; Torsten Weber, Embracing ‘Asia’ in China and Japan. Asianism Discourse and the Conquest for Hegemony, 1912-1933, New York 2018; Carolien Stolte / Harald Fischer-Tiné, Imagining Asia in India: Nationalism and Internationalism (ca. 1905-1940), in: Comparative Studies in Society and History 54 (2012) 1, S. 65-92; Carolien Stolte, “The People’s Bandung”. Local Anti-Imperalists on an Afro-Asian Stage, in: Journal of World History 30 (2019), 1-2, S. 125-156; Jürgen Dinkel, The Non-Aligned Movement. Genesis, Organization and Politics (1927-1992), Leiden 2018.
16 Zum Baskenland siehe das Kapitel „Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht“ in Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann, Geschichte Spaniens, 4., überarb. und akt. Aufl., Stuttgart 2005, S. 456-478. Zur neuen Emotionsgeschichte des Nationalismus Birgit Aschmann, Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus, Göttingen 2021. Zum komplexen Verhältnis zur Erinnerungspolitik in Spanien Walther L. Bernecker / Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Nettersheim 2006; Sebastian Seibert, Freiheitskämpfer, Terroristen, Demokraten und Faschisten. Politische Gewalt aus der Perspektive irischer und baskischer Nationalisten, Frankfurt 2019.
17 Zur aktuellen Auseinandersetzung mit dem Thema siehe, Marco Bresciani, Fascism, Anti-Fascism and the Idea of Nation. Italian Historiography and Public Debate since the 1980s, in: Contemporary European History 30 (2021) 1, S. 111-123; Rolf Steininger, Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Innsbruck 2014; Sebastian De Pretto, Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol, Göttingen 2020; Hans Karl Peterlini, Feuernacht. Südtirols Bombenjahre, Hintergründe, Schicksale, Bewertungen, 1961-2011, Bozen 2011.
18 Siehe auch Anmerkung 4. Das Interesse an den anderen Nationalismen Großbritanniens, sieht man von der nordirischen Gewaltfrage ab, ist dabei oftmals geringer; als neueres Gegenbeispiel siehe Ben Jackson, The Case for Scottish Independence. A History of Nationalist Political Thought in Modern Scotland, Cambridge 2020.
19 Tanika Sarkar, How the Sangh Parivar Writes and Teaches History, in: Angana P. Chatterji / Thomas Blom Hansen / Christophe Jaffrelot (Hrsg.), Majoritarian State. How Hindu Nationalism Is Changing India, London 2019, S. 151-173; Kumkum Roy / Pankaj Jha, Whose History Is It Anyway, in: Economic & Political Weekly, 56 (2021), 28, S. 23-26; Michael Gottlob, History and Politics in Post-Colonial India, New Delhi 2011; Christophe Jaffrelot, Modi’s India. Hindu Nationalism and the Rise of Ethnic Democracy, Princeton 2021.
20 Siehe Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge 2016; Valerie A. Kivelson / Ronald Grigor Suny, Russia’s Empires, New York 2017; Nora Lafi, Kosmopolitismus als Governance. Das Beispiel des osmanischen Reiches, in: Bernhard Gißibl / Isabella Löhr (Hrsg.), Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt am Main 2017, S. 317-342.
21 Maria Framke, Delhi – Rom – Berlin. Die indische Wahrnehmung von Faschismus und Nationalsozialismus 1922-1939, Darmstadt 2013; Daniel Hedinger, Die Achse Berlin, Rom, Tokio 1919-1946, München 2021; Hugo Garcia, Transnational History. A New Paradigm for Anti-Fascist Studies, in: Contemporary European History 25 (2016) 4, S. 563-572; Kasper Braskén / Nigel Copsey / David Featherstone (Hrsg.), Anti-Fascism in a Global Perspective. Transnational Networks, Exile Communities, and Racial Internationalism, Abingdon 2021.
22 Die Publikationen der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission sind hier zu finden: <http://deutsch-polnische.schulbuchkommission.de/publikationen/einzelveroeffentlichungen.html>
(03.09.2021). Zur Frage von Schulbüchern, Imperialismus und Nationalismus siehe auch das Sonderheft World Knowledge and Non-European Space. An International Comparison of Geography Textbooks and Children’s Books of the Nineteenth Century, hrsg. von Andreas Weiß, in: JEMMS 19 (2018) 1. Siehe auch Anmerkung 15.
23 Zur Aktualität des Themas siehe auch, VHD Journal #10 (2021).