Forum: Rez: C. Gatzka: Die Rezension als Schaufenster historischen Denkens

Von
Claudia Christiane Gatzka, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Über die Stellung der Buchrezension im Kontext digitaler Transformation und einem sich wandelnden Wissenschaftssystem zu reflektieren, erfordert zunächst, über die beiden Komposita des Begriffs gesondert nachzudenken. Das Buch als Medium von Wissen und die Rezension als Textsorte haben in der digitalisierten Kommunikationswelt einen veränderten Status erhalten, wobei dieser Prozess noch in vollem Gange ist. Das Buch ist nicht mehr alleiniger und womöglich auch nicht mehr primärer textueller Träger von Wissenskommunikation. Die Praxis des Rezensierens wiederum hat in der digitalisierten Handels- und Konsumwelt eine enorme Ausweitung und Popularisierung erfahren, seitdem auch Kleiderbügel auf Amazon „Rezensionen“ erhalten und das Liken einer Verlagsanzeige, die über eine Neuerscheinung berichtet, ebenfalls in weiterem Sinne als rezensive Handlung zu verstehen ist.1

In einem Kontext, in dem das Buch ernsthafte Konkurrenz durch digitale Medien erhalten hat und zugleich das Rezensieren, verstanden als eine wertende Äußerung gegenüber einem kulturellen Erzeugnis, zur ubiquitären Alltagspraxis geworden ist, müssen Gedanken über die Funktion der geschichtswissenschaftlichen Buchrezension sowohl zum Buch als Medium der Fachcommunity als auch zu der Frage Stellung beziehen, ob das Rezensieren als wissenschaftliche Praxis neu konzipiert werden muss. Wozu noch geschichtswissenschaftliche Buch-Rezensionen, wenn sich auch über den Thread als neues Tool geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisvermittlung sprechen ließe, und wenn anonyme Amazon-User ohne jede redaktionelle Kontrolle mittlerweile Rezensionen historischer Bücher verfassen, die unter Umständen weitaus einflussreicher sind als Buchbesprechungen aus professioneller Hand? Was sollen geschichtswissenschaftliche Buchrezensionen leisten, um sich in diesem Kontext künftig zu behaupten? Weil in diesem Forum bereits viele kluge Beobachtungen zu praktischen Problemen des Rezensionswesens formuliert worden sind, behandle ich diese Fragen eher im Stile eines bewusst pointiert gehaltenen Idealentwurfs. Es geht mir darum, Problembewusstsein zu schaffen und Denkbarkeitsräume zu öffnen, um dadurch die Debatte anzuregen. Denn ich bin überzeugt, dass neue Wege der historiographischen Rezensionspraxis – und kurz gesagt: eine Aufwertung der Rezension – das Fach nach innen rezeptiver und nach außen attraktiver gestalten können.

Bei allen Zeichen des Wandels der Publikationskultur zugunsten der Peer-Reviewed-Journals bin ich der Meinung – und man kann gegenteiliger Meinung sein –, dass die Geschichtswissenschaft ihre Erkenntnisse auf absehbare Zeit weiterhin in Form von Monographien organisieren wird. Sicherlich sind Aufsätze in internationalen Zeitschriften von wachsender Bedeutung, und im Übrigen wäre ich stark dafür, auch ausgewählte Aufsätze rezensieren zu lassen – eine Praxis, die um 1970 beispielsweise in der Zeitschrift für Parlamentsfragen gängig war und die Debatte der Fachcommunity sehr viel lebendiger erscheinen ließ. Meinem Eindruck nach aber bleibt das Buch für die Geschichtswissenschaft das zentrale Kommunikationsmedium nicht nur, weil das historische Erzählen aufs Engste mit der Buchform verquickt ist, sondern auch und vor allem, weil die Buchform aktuell noch immer wesentlich die Problemstellung, die Methoden der Erkenntnisbildung, den Komplexitätsgrad und den Untersuchungszeitraum geschichtswissenschaftlicher Projekte bedingt. Solange das Buchformat als Zielvorstellung die Forschungsdesigns bestimmt (und ja auch erst die Komplexität erlaubt, die vielen Historiker:innen Freude bei der Arbeit bereitet), wird das Sachbuch nicht von Threads und erst recht nicht von nicht-textuellen elektronischen Medien abgelöst werden. Das Buch wird also vorerst bleiben, allein schon, weil es momentan (noch) historisches Denken organisiert.

Auch wissenschaftsökonomisch betrachtet scheint das Buch überaus resilient. Die digitale Transformation hat, entgegen vieler anderslautender Prognosen, die Vermarktbarkeit und die Zugänglichkeit wissenschaftlicher Bücher eher verbessert, das Interesse der Verlage, Stiftungen und Hochschulen an ihrer Produktion eher noch beflügelt. Heute können auch jüngere Historiker:innen mit ihren in Buchdeckel gepressten Qualifikationsschriften vor dem fachnahen Publikum ganz groß rauskommen.2 Entsprechend bedacht sind Betreuende mittlerweile darauf, nicht nur neueste Forschung, sondern auch gut lesbare Bücher in ihrer Entstehung zu begleiten. Bücher, das zeigen diese Entwicklungen, liefern Geschichtswissenschaftler:innen nach wie vor die Basisreputation, gleich wie erfolgreich sie digitale Foren, Blogs oder soziale Medien bespielen. Das fertiggestellte Buch steht eben für die Kompetenz, Bücher schreiben zu können, und in dieser Tautologie erweist sich die Resilienz des Monographischen als Währung der historischen Zunft.

Rezensionen bestimmen als Bewertungen den Kurs dieser Währung. Und auf den ersten Blick hat die Digitalisierung der geschichtswissenschaftlichen Fachkommunikation auch hier Kurssteigerungen zur Folge gehabt. Online-Plattformen wie H-Soz-Kult oder sehepunkte haben zu einer Verbreiterung wie auch Popularisierung des Rezensionswesens geführt, insofern etwa Studierende dank dieser Plattformen früh mit Rezensionen in Berührung kommen können. Wissenschaftliche Buchbesprechungen erreichen auf diese Art einen viel größeren Leserkreis als früher, als man sie lediglich in der Zeitschriftenauslage der Bibliothek lesen konnte. Andere Plattformen wie recensio.net, Geschichtsportale und Bibliothekskataloge machen mittlerweile ältere und neuere Rezensionen, nationale wie internationale, recherchierbar und häufig direkt zugänglich. Wer hinter die Paywalls blicken darf, kann überdies die Besprechungen der großen Tageszeitungen bequem am Bildschirm recherchieren, wer das Geld oder den institutionellen Zugang nicht hat, dem bleibt immerhin noch perlentaucher.de.

Mit dieser Online-Proliferation historiographischer Buchbesprechungen korrespondiert aber nicht unbedingt eine gesteigerte Wertigkeit der Rezension als wissenschaftlicher Publikationsform (etwas anderes freilich ist die Rezension in „den Medien“ 3). Innerhalb des Fachs und seiner Honorierungssysteme, und sagen wir zur Sicherheit: nach der Promotion, ist das Rezensieren für Fachjournale kaum mit Prestige verbunden, obwohl es sehr zeitaufwendig ist. Weder als intellektuelle Leistung noch als Ausweis von Expertise oder einer herausgehobenen Position im Feld können Rezensionen heute die Kapitalien ihrer Verfasser:innen wesentlich mehren. Viele Kolleg:innen investieren ihre kostbare Zeit deshalb lieber in Aufsätze für internationale Fachzeitschriften oder auch für Sammelbände; Hochschullehrer:innen sehen sich seit Beginn der Drittmittelära wohl ohnehin häufig vor die Entscheidung gestellt, begutachten und beantragen oder rezensieren zu müssen, weil beides zeitlich nicht machbar ist. Gutachten, (erfolgreiche) Anträge und „peer-reviewed Artikel“ lassen jeweils das soziale Kapital im Feld weit stärker wachsen als fünf bestplatzierte Rezensionen, die zudem bei der quantitativen Output-Messung durch das neoliberal organisierte Wissenschaftssystem unberücksichtigt bleiben. Es ist nur allzu verständlich, dass die Aufgabe des Rezensierens vor dem Hintergrund dieser Anreizmechanismen mehr und mehr auf den Schultern von Doktorierenden, hochspezialisierten Wissenschaftler:innen in außeruniversitären Forschungsinstituten sowie Emeriti lastet. Genaue Zahlen dazu wären weiterführend, sind aber gar nicht leicht zu erheben.

Wer das Anreizproblem in Gänze erfassen will, kann jedoch nicht beim strukturellen Wandel des Wissenschaftssystems und individueller Zeitregime der Forschenden und Lehrenden Halt machen. Zeit ist in der Wissenschaft stets begrenzt, und die interessante Frage ist, warum viele Historiker:innen ihre knappe Zeit lieber für einen Aufsatz in einem Sammelband aufwenden als für drei oder vier Rezensionen, die sie in derselben Zeit schreiben könnten. Dass ihnen sicherlich klar ist, dass eine Rezension, gerade auf einer Online-Plattform, in aller Regel sehr viel häufiger gelesen wird als ein Sammelbandbeitrag, macht den Fall noch erklärungsbedürftiger. Wieso rangiert die Rezension in der Hierarchie geschichtswissenschaftlicher Publikationen (und nicht nur in dieser Disziplin) so weit unten?4

Die fachwissenschaftliche Rezension hat, so scheint es schon länger, ein Imageproblem. Manche schreiben sie lieber, als dass sie sie lesen5, manche lesen sie, aber schreiben sie nicht gern. Das Unbehagen an der rezensiven Autorschaft klingt auch in anderen hier versammelten Forumsbeiträgen an. Wie ist es zu erklären? Nun, erst einmal gehören Rezensionen nicht zu den Schriften, die man in akademischen Bewerbungsprozessen einreichen soll oder darf. Und vielleicht sollte man das ändern. Neben mangelnder Gratifikation bei der universitären Output-Vermessung, der Berufung oder der Begutachtung durch Andere scheint die fehlende Möglichkeit, auf Rezensionen wiederum qualitative intellektuelle Resonanz zu finden, ein Faktor zu sein, den ich hier besonders akzentuieren möchte. In der Tat werden hilfreiche Besprechungen zwar durchaus von den Kolleg:innen gewürdigt, allerdings geschieht dies in aller Regel auf informellen Wegen. Zitiert oder zur Lektüre empfohlen, etwa auch in Seminaren, werden Rezensionen kaum.

Allenfalls mit Verrissen lässt sich eine gewisse fachliche Resonanz entfachen, die von sich reden macht – dann allerdings eher unter unangenehmen Vorzeichen und selten als Initialzündung für eine ernstgemeinte wissenschaftliche Kontroverse. Eher bilden heutige Verrisse bereits bestehende Dissonanzen innerhalb des Faches ab und sind deshalb wohl als Rituale der Zunft zu begreifen, die ihr dazu dienen, sich als soziale Einheit zu erleben und zugleich sich ihrer Friktionen zu vergewissern – mit all dem Unterhaltungswert, der für das Publikum darin eingelassen ist. Als Kulturtechnik hat der Verriss seine Berechtigung, als wissenschaftliche Praxis ist er allerdings ein Grenzfall. In welcher Form Redakteure und Herausgeberinnen ihn zulassen, wäre eine an anderer Stelle noch einmal eingehender zu behandelnde Frage; schlechter Stil und Ad-hominem-Urteile schaden in jedem Falle dem Ansehen des gesamten Fachs, gerade in Zeiten erhöhter Publizität seiner Rezensionsarbeit in digitalen Resonanzräumen.

Der Verriss vermag auch deshalb eine gewisse Faszination auszulösen, weil er in radikaler Weise vollzieht, was die Rezension eigentlich leisten soll: bewerten, deuten, evaluieren.6 Von diesem Kern rezensiver Praxis ist das Rezensionswesen irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten abgerückt, was sich in heutigen Definitionen und Anforderungsbeschreibungen widerspiegelt. Die Rezension, so ist zu lesen, soll in erster Linie über Neuerscheinungen „informieren“, diese in die Forschungslandschaft „einordnen“ und so „Orientierung“ geben, sie soll sich „kritisch“ mit einem Buch „auseinandersetzen“ und so die „Qualität“ der Forschung „sichern“. Hier wird der beabsichtigte Zweck der Buchbesprechungen für die Wissenschaft benannt, nicht aber definiert, was die Rezension als Textsorte eigentlich von Beschreibungen, Berichten, Inhaltszusammenfassungen unterscheidet, was Rezensieren anderes ist als Informieren, Orientieren oder Einordnen. Kritisch mit dem Gelesenen auseinandersetzen sollen sich in liberalen Demokratien möglichst alle Mediennutzer:innen, auch das macht eine fachwissenschaftliche Rezension nicht aus. Und was konkret ist eigentlich mit „Qualitätssicherung“ gemeint, welche Praktiken des Prüfens verbergen sich in der Geschichtswissenschaft dahinter und wie sollen sie in Buchbesprechungen angesichts der knappen zulässigen Zeichenzahl nachvollziehbar durchexerziert werden?

Wie unsicher viele Rezensent:innen im Hinblick auf diese Fragen sind, zeigt sich in der weit verbreiteten und in diesem Forum bereits häufiger angesprochenen Praxis, die Besprechung als Inhaltszusammenfassung zu konzipieren. Der rezensive Anteil, das Bewerten, das Prüfen, das Begutachten, das Einschätzen, das fachliche Beurteilen, wird damit sogleich minimiert – oft genug auf eine zweizeilige Würdigung am Ende und ein bis drei kleinere kritische Einwände. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Bewertungsaspekt, der in digitalen Umgebungen den Alltag prägt, in der Praxis des geschichtswissenschaftlichen Rezensierens nicht an Bedeutung gewonnen hat.7 Als Kurzzusammenfassungen der Bücher, die sie eigentlich bewerten sollen, machen viele Rezensionen heute die Lektüre im Grunde obsolet. Angesichts notorischer Zeitknappheit ist das sicherlich im Sinne Vieler – im Sinne des Rezensierens als einer öffentlichen Zurschaustellung der intellektuellen Operationen eines Fachs allerdings nicht.

Zugleich hat sich rezensives Handeln im Zuge der massiven Ausweitung drittmittelfinanzierter Forschung in andere Textsorten verlagert. Der Antrag, vor allem aber das Gutachten sind nun primäre Medien der Einschätzung, Prüfung und fachlichen Beurteilung geschichtswissenschaftlicher Forschungsideen und -erzeugnisse. Einleitungen von Qualifikationsschriften sind das übrigens auch, doch anders als diese und anders als Rezensionen zeichnen sich Gutachten und Anträge dadurch aus, nicht öffentlich gemacht zu werden.8 Das hat zur Konsequenz, dass die Fachcommunity und die interessierte Öffentlichkeit leider kaum noch in die Lage versetzt werden, den Autoritäten des Fachs beim Fällen ihrer fachlichen Urteile zuzusehen und ihre Einschätzungen intellektuell nachzuvollziehen. Angesichts des Umstands, dass die meisten Hochschullehrer:innen zugleich keine Zeit zum Rezensieren haben, ist die Vorstellung umso schmerzlicher, dass ihre rezensiven Akte in den Archiven der Drittmittelgeber verstauben, anstatt der Forschung und der fachlichen Debatte nachhaltig nützlich sein zu können. Das ist im Übrigen auch ein Problem für ein Fach, das unter besonderem Druck steht, seine Bewertungsmaßstäbe und Beurteilungskriterien vor der Öffentlichkeit transparent zu machen – gerade in Zeiten der Postfaktizität und der zunehmenden Politisierung des Fachs beziehungsweise seines Publikums.

Inwiefern eine Lösung für dieses Problem darin liegen kann, Anträge und Gutachten öffentlich zu machen, nachdem der Entscheidungsprozess über die Forschungsförderung abgeschlossen ist, müssen Kolleg:innen beurteilen, die in den fördernden Institutionen Einfluss geltend machen können. Ich nehme an, derzeit träfe ein solcher Vorschlag auf eher entsetzte Gesichter – oder sprechen der Fall Böhmermann und die Veröffentlichung der Hohenzollern-Gutachten nicht vielmehr dafür? Das Online-Journal Public History Weekly macht jedenfalls vor, wie sich das Peer Review offen gestalten lässt.9 Allerdings dürfte klar sein, dass solche Reviews von vornherein anders verfasst werden als anonymisierte Reviews, die unveröffentlicht bleiben. Also bleibt nur die Lösung, Rezensionen wieder zum Herzstück geschichtswissenschaftlicher Beurteilungs- und Bewertungspraxis zu machen. Dieser Schluss liegt auch aus systematischen Gründen nahe, denn Rezensionen fertiger Bücher erfüllen, wenn sie wirklich rezensive Praxis sind, noch einmal eine besondere Feedback-Funktion nicht nur für die Autoren, sondern für das gesamte Fach. Rezensentinnen dürfen nämlich wissenschaftliche Werke beurteilen, die bereits vielfach im Konzeptions- und Produktionsprozess intern und extern begutachtet worden sind.10 Sie validieren also die Selektionsmechanismen des Fachs und seiner externen Geldgeber, sie verfassen gewissermaßen die Letztevaluation, und sie tun das öffentlich. Wer könnte sich eine transparentere Wissenschaft wünschen?

Dazu müssen aber Rezensionsredaktionen und Herausgeberinnen ihre Erwartungen an Buchbesprechungen reformulieren und ihre Organisationsprozesse flexibilisieren, während viele Rezensierende, nicht alle, im Grunde eine neue Textsorte einüben müssen, damit aber sich selbst wie den Leser:innen ein größeres intellektuelles Vergnügen bereiten werden. Sie müssten aufhören, ihre Aufgabe darin zu sehen, eine Service-Lektüreleistung für andere Historiker:innen zu erbringen, und sich stattdessen vorstellen, in ein intellektuelles Gespräch mit dem Autor zu treten. Sie könnten sich vorstellen, sie stünden auf dem Tennisplatz und returnierten den Aufschlag ihres Gegenübers, indem sie den Ball mit eigenem Spin zurückspielen, zurück auf ein Feld, das in der Wissenschaft dann freilich, anders als beim Tennis, von allen im Publikum weiterbespielt werden kann. Die Redaktion wäre als Schiedsrichterin dafür zuständig, über die Spielregeln zu wachen und darauf zu achten, dass alle Bälle im Feld landen.

Ein Ballwechsel, ein intellektuelles Gespräch kommt am ehesten zustande, und ist dann auch sehr wahrscheinlich Gegenstand fachlicher Resonanz, wenn Rezensentinnen die Gedankengänge der Autorinnen nachvollziehen, sie weiterdenken und aufzeigen, wo sie nicht weitergedacht werden können oder nicht nachvollziehbar sind. Ein intellektuelles Gespräch lebt nicht vom deskriptiven Nacherzählen, sondern von der verstehenden Aneignung fremder Gedanken mit dem Ziel, diese für eigene Erkenntnisinteressen zu verwerten. Wenn das passiert, lässt sich Geisteswissenschaft als Prozess beobachten. Eine Rezension hätte demnach die Problemkonstellation zu erfassen, der sich eine Autorin in ihrem Buch stellt, und sodann die Hypothesen und Thesen nachzuvollziehen, auf ihre logische Konsistenz zu prüfen und zu beurteilen in dem Sinne, dass ihre Übertragbarkeit getestet wird: Hält die These einer Prüfung in einem anderen Problemzusammenhang stand? Erscheint sie auch vor dem Hintergrund anderer hinzugezogener Aspekte plausibel, die in der Studie nicht behandelt werden konnten? Welche Gegenthesen kann der Rezensent begründet vertreten?

Hinzu käme die methodische Kritik: Welche Erzeugnisse der Historiographie und welche Quellen für die Studie nicht benutzt wurden, ist dabei fast die wichtigere Frage als die danach, welche benutzt wurden. Das große Finale von Rezensionen könnte darin liegen, den Bogen zurück zur Theorie zu schlagen, mit der jeder Forschungsprozess, bewusst oder unbewusst, beginnt: Was ist das für eine Sicht auf die Welt, die in dieser besprochenen historischen Erzählung zum Ausdruck kommt, welche präempirischen Vorannahmen liegen ihr zugrunde, und wie lassen diese sich bewerten? Auf welche Fragen der Gegenwart gibt das Buch also Antworten, und wie werden diese Antworten durch die konzeptionelle Anlage der Studie präfiguriert? Auf diese Weise den wissenschaftlichen Prozess zu dokumentieren und zu evaluieren – das könnten Buchrezensionen in der Geschichtswissenschaft durchaus leisten.

Sie würden dann als wissenschaftliche Beiträge ernster genommen, könnten auf Resonanz hoffen und würden so für das eigene Publikationsportfolio interessanter. Idealiter würden sie häufiger zitiert, kommentiert oder auch repliziert, wie es in letzter Zeit häufiger geschehen und im Sinne intellektueller Transparenz nicht etwa peinlich, sondern wünschenswert ist.11 Auch den Nachbardisziplinen würde das häufig obskur bleibende Fach Geschichte so womöglich aufgeschlossen, denn um zu verstehen, was Historiker:innen tun, muss man verstehen, wie sie denken und argumentieren. Rezensionen können genau das wie in einem Brennglas sichtbar machen und damit auch didaktische Funktionen erfüllen, werden sie als Miniaturen des intellektuellen Dialogs verstanden. Das Unbehagen an der rezensiven Autorschaft hörte so hoffentlich auf.

Nicht zuletzt wären Rezensionen, die sich auf das nachvollziehbare und transparente Durch- und Weiterdenken der Studie konzentrieren, die sie besprechen, wichtige Beiträge zur innerfachlichen Forschungsdebatte, für die gar nicht so viele institutionalisierte Orte zur Verfügung stehen, wie man annehmen könnte. Um es einmal ein wenig drastisch zu sagen: Dass sich Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler über Sprachgrenzen hinweg, aber auch innerhalb der nationalen Grenzen aufmerksam rezipieren – und das heißt, intellektuell aneinander abarbeiten anstatt die Arbeiten der Anderen lediglich als Steinbrüche für Informationen zu benutzen –, ist derzeit, einmal abgesehen von geschichtspolitischen Kontroversen, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, nicht unbedingt evident, nicht einmal innerhalb der mittlerweile hochspezialisierten Unterdisziplinen. Konzeptionelle oder resümierende Aufsätze, die Forschungsdebatten auslösen könnten, sind rar gesät, auch wenn die Fachzeitschriften sie mittlerweile eigens rubrizieren. Rezensionen müssen deshalb seriöse Rezeptionsmedien sein und den innerfachlichen Dialog auf einzelnen Themenfeldern sicherstellen. Sie sollten den Forschungsstand nicht nur referieren, sondern selbst zu ihm beitragen wollen.

Um all das umzusetzen, bedürfte es einiger Neujustierungen in der Organisation des Rezensionswesens. Buchbesprechungen bräuchten, erstens, einen Titel, so wie es die Neue Politische Literatur (NPL) schon handhabt. Texte ohne Titel sind Texte ohne intellektuelle Autorschaft. Zweitens müssten Rezensionen bei Bedarf länger sein dürfen. Freilich ist der Platz auch im Online-Bereich nicht unbegrenzt.12 Wenn aber in Rezensionen die Inhaltszusammenfassungen wegfielen und sich auch nur auf einige Thesen des Buches, nicht notwendig auf alle, fokussiert würde, ließe sich wiederum auch Platz sparen. Die Featured Reviews, wie sie im angloamerikanischen Raum existieren, können als Format für eine intellektuelle Auseinandersetzung im hier beworbenen Sinne durchaus als Vorbild dienen, sind allerdings mit 2.000 bis 2.500 Wörtern wirklich großzügig bemessen, ebenso wie die Rezensionsessays in NPL. Dass die Online-Portale den Platz für Rezensionen derart streng limitieren, ist jedenfalls eher kontraproduktiv für das geschichtswissenschaftliche Rezensionswesen. Die darin zum Ausdruck kommende Anpassung an die Glaubenssätze des Online-Journalismus, wonach Leserinnen und Leser nach mehr als zehn Zeilen wegklicken, verkennt, dass die wissenschaftliche Bewegung im Internet dadurch motiviert ist, ein Mehr an Informationen zu suchen, nicht ein Weniger – wozu die Notwendigkeit der Informationsreduktion nur scheinbar im Widerspruch steht.13 Seitdem Texte durch die Suchfunktionen handhabbar gemacht wurden, ist ihre Länge im Grunde unerheblich, zumal sich längere Rezensionen auch gliedern ließen. Online erschienen, sollten sie als pdf zum Download zur Verfügung stehen.

Das Rezensieren als intellektuelles Gespräch braucht richtige Matches. Damit Buch und Rezensent zu einer fruchtbaren Paarung zusammenfinden, braucht es Geduld und Recherchefreude der zuständigen Redakteurin. Wonach ist der Rezensent auszuwählen, welche Eigenschaften werden besonders hoch gewichtet? Ich weiß nicht, wieviel Spielraum Redaktionen aktuell überhaupt haben (und höre bisweilen, man sei froh, überhaupt Rezensentinnen zu finden), aber idealiter ließe sich eben so lange warten, bis sich eine Interessentin gefunden hat. Systematische geteilte Interessen sollten im Zweifel höher gewichtet werden als geographische Expertise, als Beispiel: Ein demokratiegeschichtliches Buch über Frankreich muss nicht zwingend von einem Frankreichkenner rezensiert werden, der Rezensent sollte jedoch demokratiegeschichtlich mitdenken können.

Wenn das Matching zentral wird, um über Rezensionen wissenschaftliche Gespräche zu führen, muss der Imperativ der Aktualität verabschiedet werden. Bisweilen ist in Definitionsversuchen zu lesen, es gehe bei der Rezension um die Einordnung eines neuen Buchs, doch lassen sich genau besehen auch ältere Kulturerzeugnisse bewerten – und das ist aus historisch-theoretischer Sicht sogar wünschenswert, denn jede Generation blickt neu auf Bücher. Für die Rezensionsteile und -journale hieße das nun natürlich nicht, die erkenntnisträchtige Rubrik „Neu gelesen“, wie sie beispielsweise in den Zeithistorischen Forschungen einen prominenten Platz hat, an die Stelle der neuen Buchbesprechungen zu setzen. Einzig, was spricht dagegen, eine Rezension auch noch sechs Jahre nach Erscheinen des Buches zu platzieren, wenn sich der Rezensent erst zu diesem Zeitpunkt intensiv mit ihm auseinandersetzen konnte oder wenn es eben erst zu diesem Zeitpunkt gepasst hat, gerade weil mittlerweile auch andere Forschungen auf diesem Feld erschienen sind? Es gibt einige Qualifikationsschriften, die leider nie rezensiert worden sind, weil sie aus kontingenten Gründen den Radar der Redaktionen verfehlt haben oder zum Zeitpunkt ihres Erscheinens nicht für wichtig befunden wurden.14 Entdeckt man sie erst drei Jahre nach Erscheinungsdatum, ist es eigentlich schon zu spät. Das ist schade und spiegelt wiederum nicht, was Historiker:innen gemeinhin zum aktuellen Forschungsstand zählen, denn darin gilt auch noch als aktuell, was zehn oder manchmal zwanzig Jahre alt ist. Die Rezensionszeiträume wären also auszuweiten, Rezensionen von der Koppelung an den Erscheinungstermin der besprochenen Studie zu lösen und damit als eigenständige intellektuelle Beiträge aufzuwerten. Zeitnah Neues besprechen, das könnte in der Presse ja nach wie vor geschehen; im wissenschaftlichen Rezensionswesen aber kann die Aktualität nur neben anderen Kriterien stehen, die eben Wissenschaftlichkeit ausmachen.

Rezensionen wären schließlich unbedingt für Kommentare und Repliken zu öffnen, wofür die digitale Umgebung ja beste Voraussetzungen bietet. Bekanntlich werden Kommentarfunktionen auf wissenschaftlichen Blogs und anderen Portalen sehr zögerlich, um nicht zu sagen gar nicht in Anspruch genommen. Große Rezensionsplattformen wie H-Soz-Kult oder sehepunkte könnten hier helfen, eine Praxis zu implementieren und zu institutionalisieren, die dem offenen wissenschaftlichen Austausch zuträglich ist – Public History Weekly geht da mit gutem Beispiel voran. Man könnte darüber nachdenken, Kommentator:innen von Rezensionen gezielt einzuladen – die Review-Symposia von H-Soz-Kult zielen genau in diese Richtung.15 Freilich braucht es, erst recht wenn man die Kommentarfunktion öffnete, das professionelle Gatekeeping und Redakteure, die prüfen, ob Kommentare veröffentlichungsfähig sind. Mittel dafür ließen sich angesichts des allgemeinen politischen Interesses an der Förderung von digitaler Wissenschaftskommunikation und Digital Humanities womöglich auftreiben.

Für Rezensionsredakteur:innen bedeuteten die hier unterbreiteten Vorschläge eine nicht unerhebliche Umstellung bei ihrer Arbeit. Sie müssten Abstracts und austauschbare Bewertungsfloskeln streichen und die Rezensent:innen bitten, sich mit den Thesen des Buches aktiv denkend auseinanderzusetzen. Sie müssten um theoretische Einordnung und handwerklich-methodische Kritik bitten. Sie würden auf diese Weise vielleicht Rezensent:innen verlieren. Einige Bücher würden vielleicht nicht mehr rezensiert werden, weil sie gar keine Thesen enthalten. Da aber seit Jahren über eine anhaltende Publikationsschwemme geklagt wird, wäre es denkbar, dass auf diese Weise das wissenschaftliche System zur Reflexion darüber angeregt würde, ob all diese Bücher eigentlich intellektuell zu verarbeiten sind, die es in Kooperation mit durch private und öffentliche Druckkostenzuschüsse subventionierten Verlagen produziert.

Kontraintuitiv zum wachsenden Publikations- wie auch Rezensionsvolumen plädiere ich also für eine Reduktion, die dann die Aufwertung des Rezensierens als einer intellektuellen Praxis in den Geschichtswissenschaften erlaubt: ein Mehr an rezensiver Praxis im hier beschriebenen Sinne, das letztlich nur durch ein Weniger an Rezensionen zu haben ist. Vielleicht aber kann auch der ein oder andere Aufsatz oder Sammelband, das ein oder andere Buch in den Publikationsverzeichnissen jeder Einzelnen einer neu verstandenen Rezensionspraxis Platz machen – und so die Aufmerksamkeit des Faches für sich selbst verbriefen. Eine Aufwertung der Rezension nicht nur als rezeptive, sondern auch als intellektuelle Leistung ist nicht nur vonnöten, um die innerfachliche Auseinandersetzung mit den Gedanken Anderer anzukurbeln und Widersprüche anzuregen. Sie ist auch deshalb wünschenswert, weil die eigentliche Qualitätskontrolle im Fach aktuell weitgehend hinter verschlossenen Türen stattfindet. Um die Beurteilung und Einordnung von historiographischer Arbeit nicht nur den Gutachten und Anträgen zu überlassen, sondern (fach-)öffentlich nachvollziehbar zu machen, müssen Rezensentinnen und Redakteure sich wieder darauf besinnen, dass Rezensionen eigene intellektuelle Beiträge sind – und im Grunde die krönenden Letztevaluationen langer Forschungs- und Denkprozesse. Als solche sollten Rezensionen – in meiner Vision – die gleiche Wertigkeit besitzen wie Aufsätze. So könnten sie dann auch in Zeiten digitaler Zugänglichkeit zu Aushängeschildern werden: zu Schaufenstern der Zunft, die der interessierten Außenwelt aufzeigen, wie historisches Denken in der Praxis funktioniert.

Dieser Beitrag erschien als Teil des Diskussionsforums über Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften. https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5234
Übersicht zum Forum "Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften"

Anmerkungen:
1 Definitorische Grundlagen für mein Rezensionsverständnis liefern Guido Graf und Kristina Petzold, Rezensive Texte und Rezensionsprozesse, in: dies. / Ralf Knackstedt (Hrsg.), Rezensiv. Online-Rezensionen und Kulturelle Bildung, Bielefeld 2021, S. 29-39.
2 Ein aktuelles Beispiel ist Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, 2. Aufl. Berlin 2021.
3 Vgl. Peter Schöttler / Michael Wildt (Hrsg.), Bücher ohne Verfallsdatum. Rezensionen zur historischen Literatur der neunziger Jahre, Hamburg 1998, S. 11.
4 Ähnliche Beobachtungen machte (mit besonderem Blick auf die qualitativ forschende Psychologie) schon vor über zwanzig Jahren Günter Mey, Editorial Note: Wozu Rezensionen? oder: warum Rezensionen eigenständige Beiträge sein sollten, in: Forum: Qualitative Sozialforschung 1,3, Art. 40 (Dezember 2000), https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1057 (09.01.2022).
5 Forum: Rez: T. Luks, Bücher oder Themen? Inhaltsreferat oder Buchkritik? Überlegungen zum Rezensionswesen, in: H-Soz-Kult, 01.07.2021, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5211 (09.01.2022).
6 Graf/Petzold, Rezensive Texte, S. 37.
7 Zu diesem Monitum vgl. bereits Schöttler/Wildt, Bücher ohne Verfallsdatum, S. 12 f.
8 Diesen Gedanken der Initiatorin und Initatoren dieses Forums möchte ich ausdrücklich betonen. Vgl. Forum: Rez: Einleitung: Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften, in: H-Soz-Kult, 01.07.2021, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5192 (09.01.2022).
9https://public-history-weekly.degruyter.com/contents/ (10.01.2022).
10 Jost Dülffer zeichnet diesen Prozess in seinem Forumsbeitrag unterhaltsam nach. Forum: Rez: J. Dülffer, Zum Stand der Rezensionen in den Geschichtswissenschaften. Einige Beobachtungen als Teilnehmer, in: H-Soz-Kult, 03.07.2021, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5205> (10.01.2022).
11 Siehe zum Beispiel: Grzegorz Rossoliński-Liebe, Rezension zu: Petrenko, Olena: Unter Männern. Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund 1944–1954. Paderborn 2018, in: H-Soz-Kult, 23.07.2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25519 (10.01.2022); Lea Haller, Replik auf die Rezension von Christof Dejung, März 2021, https://www.tg.ethz.ch/fileadmin/redaktion/dokumente/PDF_Files/Haller_Replik_Dejung.pdf (10.01.2022).
12 Günter Mey ging im Jahr 2000 noch wie selbstverständlich davon aus, dass der Platz für Online-Rezensionen unerschöpflich sei. Mey, Editorial Note.
13 Das nur als Beispiel für einen kleinen rezensiven Akt an dieser Stelle, nämlich das kritische Weiterdenken von Thesen, die Valentin Groebner in einem anregenden online dokumentierten Vortrag vor bald zehn Jahren formuliert hat. Siehe Valentin Groebner, Muss ich das lesen? Wissenschaftliche Texte mit Ablaufdatum. Vortrag, 1.2.2013, L.I.S.A. Gerda Henkel Stiftung auf der Tagung #RKB, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/muss_ich_das_lesen_wissenschaftliche_texte_mit_ablaufdatum?nav_id=4209 (09.01.2022).
14 Ein Beispiel für ein solches Buch, zu dem ich leider keine geschichtswissenschaftliche Besprechung gefunden habe, ist Frank Vollmer, Die politische Kultur des Faschismus. Stätten totalitärer Diktatur in Italien, Köln 2007. In diesem Fall mag es auch am 800-Seiten-Umfang des Bandes gelegen haben.
15https://www.hsozkult.de/revsymp/page (27.01.2022).