Von
Cornel A. Zwierlein, Institut für Neuere Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Besprochene Sektionen:

"Habilitandenforum"
"Doktorandenforum"
"Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen"
"Umstrittene Bilder. Visualisierung und Wissenschaft in der Moderne"
"Von der „teilnehmenden Beobachtung“ zur „Entwicklungspolitik“: Anthropologie, Sozialwissenschaften und des Kolonialismus (1800-1960)"

Frühe Neuzeit als Epoche im Rahmen des 46. Historikertags
Der Historikertag scheint zunehmend zu einem reinen Zeithistorikertag zu werden. So unverhältnismäßig wie in diesem Jahr dürfte diese Tendenz aber noch nie zu Buche geschlagen haben: Wo beim letzten Historikertag in Kiel immerhin noch vier althistorische und jeweils sechs Mittelalter- und Frühneuzeit-Sektionen, zusammen also 16 Nichtmoderne-Sektionen, 19 Sektionen zur Neuesten und Zeitgeschichte gegenüberstanden, hatte sich der Ausschuss des Historikerverbands diesmal für die bemerkenswerte Proportion 1:3 entschieden: Nur neun Sektionen zur Nichtmoderne standen 27 Sektionen zur Neuesten und Zeitgeschichte gegenüber. Als Frühneuzeitsektionen waren explizit nur zwei ausgewiesen. Auch wenn in den epochenübergreifenden Sektionen immer wieder auch Frühneuzeitler/innen sprachen („Kriegs-Bilder II“ war im Grunde eine weitere, reine Frühneuzeitsektion), ist diese Entwicklung nicht mehr akzeptabel. Wenn diese Tendenz für die Frühe Neuzeit im Speziellen darauf beruht, dass mit den seit 1995 versetzt stattfindenden, zweijährigen Tagungen der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Historikerverband ein konzentrierteres Forum der Bestandsaufnahme für diese Teilepoche besteht, so müssen die Frühneuzeitgeschichte und die anderen Epochendisziplinen vielleicht noch einmal die positiven und negativen Effekte dieser Ausgliederung reflektieren. Die breitere Öffentlichkeit wird sicherlich weiter eher auf den Gesamt-Historikertag denn auf die Frühneuzeittagung blicken, und wenn dort zunehmend die die Nicht- oder Vormoderne behandelnden Teildisziplinen kaum mehr vertreten sind, findet schleichend eine Abwertung statt, die kaum im Sinne aller Beteiligten sein kann.

Zur repräsentativen Gesamtdarstellung des Faches gehört auch ein halbwegs ausgewogenes Verhältnis seiner Teildisziplinen. Gerade die jüngsten Diskussionen über den Epochenbegriff der Frühen Neuzeit haben gezeigt, dass sich hier seit der Nachkriegszeit eine spezifische, reiche Fachkultur entwickelt hat, die es verbietet, die Epoche lediglich als Ausläufer des Mittelalters oder als noch unfertige Vormoderne zu behandeln. Es ist eine Epoche des Übergangs zwischen dem 15. Jahrhundert und 1800/1850; ein Laboratorium des Aushandelns zwischen den diversen epochalen Signaturen, des Gleichzeitigen im Ungleichzeitigen; eine Epoche, die den Historiker noch zwingt, langfristige Entwicklungen zu konzipieren und in größeren Dimensionen zu denken, als es die spezialistische Konzentration auf die eine oder andere Dekade in der Zeitgeschichte manchmal mit sich bringt; eine Epoche, die zudem als Referenzpunkt für Reflexionen auf unsere gegenwärtige Befindlichkeit in einer Konfiguration der Postmoderne oder der Zweiten Moderne oft besseres Vergleichs- und Anregungspotenzial bietet als die auf den ersten Blick vertrautere Vollmoderne.

Für die so genannten „epochenübergreifenden“ Sektionen wäre hier zu überlegen, ob es nicht in Zukunft heuristisch ertragreicher wäre, wenn man auch einmal gezielte transepochale Vergleiche, etwa von Wissensordnungen oder Selbstentwürfen der Renaissancezeit mit Wissensordnungen oder Selbstentwürfen an der Postmoderneschwelle, zum Thema von Sektionen machte, anstatt im üblichen chronologischen „Durchzieher“ ein Grobthema durch die Jahrhunderte hindurchzudeklinieren – letzteres ein Verfahren, bei dem dann die latente Heuristik oft allzu schnell und ungewollt auf die Form einer linearen oder konjunkturellen Höherentwicklung hinausläuft. Bei aller nötigen Anschmiegung an den vermeintlich einzig auf Zeitgeschichte geeichten Erwartungs- und Interessenhorizont des „allgemeinen Publikums“, der mit den Selektionskriterien der meisten Feuilletons ineinsgesetzt wird1, muss sich der Historikerverband jedenfalls fragen, ob mit der Konstanzer Vormoderne-Marginalisierung nicht ein Entwicklungstiefpunkt erreicht ist, dem schon in Dresden mit einem Kontrapunkt zu antworten wäre. Dass die beiden Frühneuzeitsektionen in Konstanz dann in Großhörsälen so voll waren, dass im einen Fall bei gut 200 Zuhörern noch zusätzliche Stühle aufgestellt werden mussten, belegt, dass es hier durchaus ein Interesse gibt, das befriedigt werden sollte.

Der „Nachwuchs“: Habilitanden/innen und Doktoranden/innen
Mittwochabend fand das Habilitandenforum statt, das nun an die Stelle der epochal getrennten und immer wieder ridikülisierten Veranstaltung „Junge Historiker stellen sich vor“ trat und epochenübergreifend konzipiert war. Es sollte hiermit – wie Anselm Doering-Manteuffel eingangs betonte – auch der Zusammenhalt der Geschichtswissenschaft als ganzes dokumentiert werden. Insofern war es irritierend, dass nach den Ausführungen des althistorischen Redners (Altay Coskun, Trier) und der mediävistischen Rednerin (Sabine von Heusinger, Mannheim) Althistoriker/innen und Mediävisten/innen jeweils kohortenweise den Saal verließen, um zu dokumentieren, dass sie sich nicht für die jüngeren Frühneuzeit- und Zeithistorikerkollegen/innen interessierten.

Für die Frühe Neuzeit stellte Daniela Hacke aus Zürich (die Schweiz war ja Partnerland des Konstanzer Historikertags) ihr Habilitationsprojekt vor, in dem sie die konfessionellen Differenzen und die spezifische Ausformung der politischen Kommunikation in der Schweizer Grafschaft Baden untersucht, die von drei reformierten und fünf katholischen Orten gemeinsam verwaltet wurde, was zu begreiflichem Konfliktpotenzial in der alltäglichen Verwaltung führte und sie so zu einem hervorragenden Untersuchungsgegenstand für die konfessionsgeschichtliche Analyse macht. Es wird insbesondere um die Frage nach dem Verhältnis der schriftlichen Medialität zur Konfessionskonflikt-Kommunikation und um die verschiedenen Funktionen der politischen Kommunikation hierbei gehen. Methodisch sucht Hacke Anschluss an das Konzept der Politischen Kommunikation, wie es derzeit vom Frankfurter Graduiertenkolleg "Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert" um Luise Schorn-Schütte in die Forschung eingebracht wird, und an Rudolf Schlögls systemtheoretische Überlegungen zur Medialität und Schriftlichkeit in und an frühneuzeitlichen Städten und Höfen. Auf den Bereich der Frühen Neuzeit griff auch Marc Schalenberg (ebenfalls Zürich) zurück, der die 19. Jahrhundert-Forschung repräsentierte und in dessen Projekt es um den Vergleich der bedeutenderen deutschen Städte Berlin, Dresden, München, Kassel und Karlsruhe in raumgeschichtlicher und residenzgeschichtlicher Hinsicht geht, denen der Charakter der vergleichsweise „jungen“, barocken bzw. frühmodernen Planstadt gemeinsam sei. In der Diskussion erinnerte Werner Paravicini (Paris) daran, dass es Residenzen auch schon im Spätmittelalter gegeben habe, und dass sich hier die von Schalenberg angesprochenen Phänomene höchstens graduell, aber keinesfalls prinzipiell unterschieden.

Im Doktorandenforum des Historikertags präsentierten die Kandidaten/innen ihre Arbeitsprojekte mit zumeist aufwendig gestalteten, großen Plakaten, auf denen sie Ziele, methodische Ansatzpunkte, Quellencorpora und Bildmaterial vorstellten. Aus dem Frühneuzeitbereich ist hier Ulrich Schöntubes Projekt (angesiedelt am Lehrstuhl für christliche Archäologie der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin) einer Frömmigkeitsgeschichte im Bild zu Emporenbilderzyklen der Mark Brandenburg (1598-1750) zu nennen, in dem etwa die Tendenz, heilsgeschichtliche Zyklen durch neutestamentliche zu ersetzen, aufgezeigt wird. Tatjana Niemsch (Frühe Neuzeit, Universität Kiel) arbeitet zu innerstädtischen Konflikten, etwa zwischen Fleischern, unter dem Gesichtspunkt von „Erfahrungsräumen“ in der Hansestadt Reval. Fatih Ermis (VwL – Wirtschaftstheorie, Universität Frankfurt am Main) arbeitet zum osmanischen Wirtschaftsdenken im 18. Jahrhundert, insbesondere zu Quellen, die der wirtschaftspolitischen Beratung in der politischen Kommunikation der Regierung des osmanischen Reiches dienten, und scheint hier auch den Umfang des „Einflusses“ westlicher Denkmodelle abstecken zu wollen. Nicole K. Longen arbeitet in der Emmy-Noether-Gruppe Johannes Dillingers (Universität Trier) über „Fronden – Hand- und Spanndienste – Gemeindefron. Zwangsleistungen städtischer und ländlicher Gemeinden in einer Zeit des Wandels im Vergleich (1715-1850)“ für den Bereich des Erzstift Triers, wobei es um die Fragen der Rechtsgrundlagen für diese Dienste, deren Auswirkung auf und Einbindung in das Gemeindeleben, auch um mögliche Widerstandshandlungen gegen diese Zwangsleistungen im Wandel der verschiedenen Regierungsformen (Kurfürstentum, französische, dann preußische Herrschaft) geht. In den Bereich der Frühen Neuzeit ragt Carla Meyers (Geschichte des Spätmittelalters, Universität Heidelberg) interessantes stadtgeschichtliches Projekt hinein. Meyer geht es um „Die Stadt als Thema. Nürnberg um 1500 in Kunst, Kartographie, Historiographie und Städtelob“. Von 1483 bis etwa 1540/50 soll anhand bekannter und wenig benutzter Quellen – von Schedels Chronik über den Liber Chronicorum, Dürers Wirken, das Haller-Buch und Behaims Werke – gezeigt werden, wie sich die Stadt Nürnberg bildmächtig selbst konstruierte; den Renaissance-Epochenbruch, der sich für Nürnberg als „große Zeit“ darstellt und der in der „Bildmächtigkeit“ der Stadt zum Ausdruck kommt, erfasst sie aus dieser Perspektive nicht als eine schlichte Faktizität, sondern eher konstruktivistisch: Kunst und Wissenschaft entdeckten selbst erst die Stadt als Sujet, die Einheit „Stadt“ wird also offenbar aus einer zunehmend reflexiven Wahrnehmungshaltung neu geformt und mit Sinn gefüllt. Christine Absmeier (Frühe Neuzeit, Universität Stuttgart) stellte ihr Projekt zum schlesischen Schulwesen vor. Das deutsch-italienische Internationale Graduiertenkolleg (Frankfurt am Main-Innsbruck-Trento-Bologna, Leiterin für Deutschland: Prof. Schorn-Schütte) war durch eine Sammel-Powerpoint-Präsentation aller Doktoranden/innen medial vertreten.

Von 44 Präsentationsplakaten betrafen somit allein sechs epochal die Frühe Neuzeit; von diesen stammten nur drei von Doktoranden/innen an Frühneuzeit-Geschichtslehrstühlen. Aus Alter und Mittelalterlicher Geschichte kamen weitere drei Plakate, sodass auch im Doktorandenbereich die Neueste und Zeitgeschichte wieder mit erdrückender Mehrheit (hier mit einem Verhältnis von deutlich mehr als 3:1) repräsentiert waren, was noch einmal die oben erwähnte Unausgewogenheit bei der Zusammenstellung der Sektionen dokumentierte – oder hatten sich tatsächlich nur so wenige Doktoranden/innen beworben? Im Plakatwettbewerb wurden dann drei zeitgeschichtliche Projekte und – auf einem weiteren dritten Platz – ein mediävistisches Projekt prämiert.

Weiteres aus den Sektionen
Ich kann über die beiden (bzw. mit „Kriegs-Bilder II“ zusammen drei) genuinen Frühneuzeitsektionen nur bedingt Bericht erstatten: In der einen Sektion war ich selbst tätig („Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen“, organisiert von Christine Roll (Aachen) und Matthias Schnettger (Mainz)); an der zweiten („Das Bild des Moslems im westlichen und östlichen Europa in der Frühen Neuzeit“, organisiert von Gabriele Haug-Moritz (Graz) und Ludolf Pelizaeus (Mainz))2 habe ich nicht teilgenommen; zur dritten („Kriegs-Bilder II“, organisiert von Birgit Emich (Freiburg) und Gabriela Signori (Münster)) habe ich einen eigenen Bericht verfasst, der hier nicht wiederholt werden soll.3

In der Sektion über das Epochenjahr 18064 trugen Bettina Braun (Mainz/Oldenburg) über die Binnendifferenzierungen der Wahrnehmungen des Reichsendes in Deutschland, Matthias Schnettger (Mainz) über die reichsitalienische und päpstliche Wahrnehmung, der Autor dieses Berichts über die französische, Torsten Riotte (London) über die englische und Jan Kusber (Mainz) über die russische Perspektive auf den Reichsuntergang und seine Wahrnehmung durch die Zeitgenossen vor. Der Beitrag von Lothar Höbelt (Wien) zur österreichischen Wahrnehmung des Reichsendes wurde in Abwesenheit verlesen. Christine Roll fasste die Ergebnisse zusammen und betonte, dass sich aus europäischer Sicht statt eines „starken“ Epochenjahrs 1806 eher ein Schwellenzeitraum 1789/95-1812/14 ergebe. Obwohl ich selbst Beiträger der Sektion war, erlaube ich mir die Bemerkung, dass in der Sektion zugunsten einer Sammlung und Einzeldeutungen von europäischen Reichsende-Wahrnehmungsmomenten vielleicht zu wenig methodisch über das Problem von Epochenbrüchen, das Verhältnis von zeitgenössischer zu retrospektiver („horizontaler“ und „vertikaler“) Wahrnehmung und Erinnerung reflektiert wurde, um damit die Frage, wofür eine Jahreszahl als symbolisches Zeichen in einem tieferen Sinne von epoché stehen mag, auch auf geschichtstheoretischem Wege zu erfassen. Ein solcher Weg hätte auch besser den Anschluss an die schon erwähnte Diskussion über den Epochenbegriff der Frühen Neuzeit selbst und über die Moderne-Schwelle geebnet.

In der einzigen der – gerade auch in der Frühneuzeitgeschichte in der letzten Zeit florierenden – Wissenschaftsgeschichte im weiteren Sinne (jenseits von Historiografie-Geschichte) gewidmeten Sektion „Umstrittene Bilder. Visualisierung und Wissenschaft in der Moderne“ (organisiert von Martina Heßler (Aachen) und Alexander Nützenadel (Frankfurt/Oder) war im Moderne-Begriff offensichtlich die Frühe Neuzeit mit enthalten; jedenfalls sollte ein Vortrag auch ins 17. Jahrhundert zurückgreifen und Nützenadel setzte im 18. Jahrhundert ein. Heßler bot unter dem Titel „Visualität und Erkenntnis. Zur Hegemonie des Sehens in der Moderne“ eine sehr anregende, an Blumenberg und Bredekamp anschließende Reflexion über (Natur-) Wissenschaftsgeschichte als eine Kulturgeschichte der Unsichtbarkeit. Einerseits wurde der Raum des Unsichtbaren immer weiter durch Tele- und Mikroskope und andere bildgebende Verfahren zurückgedrängt, andererseits setzte mit dem epistemischen Neuzeitbruch überhaupt erst die Suche nach der Wahrheit in seinem nun „eigentlichen“ Bereich, dem Unsichtbaren (der Moleküle, Atome, der Wellen, Strahlungen ...), ein. Nicht überzeugend war aber, dass sie gegen Ende ihrer Ausführungen Fotos von Geistern – wie sie mit der Verbreitung der Fotografie Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend auftauchten, in denen man weiße wallend gewandete Schemen abgebildet sah und die suggerierten, dass die Kamera mehr (Unsichtbares) sah als das bloße Auge – zu rasch kategorisch von anderem Sichtbargemachten (etwa den Kratern in Galileis Mondbildern) unterscheiden wollte: Hier tauchte latent eine scholastische Unterscheidung in „essentiell“ und „nur akzidentiell“ Unsichtbares auf, die bei der Historisierung von Ausdifferenzierungsprozessen von Wissensordnungen, „Entdeckungs“-Vorgängen und ihren Wahrheitsgebungsverfahren in dieser systematisch-ahistorischen Kategorialität eher hinderlich sein dürfte, wenn es um das Verständnis der ex-ante-Perspektive der Wissenschaftler/innen der Vergangenheit geht. Auch fehlte mir eine Reflexion zum Verhältnis vorheriger und paralleler Zonen des Unsichtbaren und ihrer Semantik. Das Unsichtbare war davor und daneben ja gerade die Domäne Gottes und des Religiösen, die Kulturgeschichte der Unsichtbarkeit müsste also, um Verschiebungen, Ablösungen und Differenzierungen zu erfassen, eigentlich diesen Bereich mit „in den Blick nehmen“. Sehr spannend waren auch die Ausführungen von Astrit Schmidt-Burkhardt (Berlin), die diagrammatische Visualisierungen von Geschichtsbildern im echt philosophischen Sinne untersuchte, nämlich Diagramme, die Kunsthistoriker benutzt hatten, um die Entwicklungen „der“ Menschheits-Kunstgeschichte zu verbildlichen – von Baum-Modellen über abstrakte Strich-Diagramme zu wellenförmig-halbzyklischen Modellen bei Paul Getty. Alexander Nützenadel stellte Visualisierungstechniken vor, insbesondere mathematische Diagrammtechniken aber auch aus der Elektronik oder Hydraulik entlehnte Modelle, mit denen Ökonomen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts Ergebnisse, Konzepte und Thesen darstellten, methodisch unterlief er ein wenig die notwendige Komplexität gerade im Hinblick auf die Frage nach der Bild-Konzept-Relation. Die Diskussion in der Sektion war eine der regsten und sachlich konzentriertesten, die ich auf dem sonst eher diskussionsmüden Historikertag erlebt habe.

In der von Andreas Eckert (Hamburg) und Alexandra Przyrembel (Göttingen) organisierten Sektion konnte ich – nach etwas allzu launigen Einführungsspäßen Eckerts – nur den einleitenden Vortrag von Rebekka Habermas „Von der ‚teilnehmenden Beobachtung’ zur ‚Entwicklungspolitik’: Anthropologie, Sozialwissenschaften und der Kolonialismus (1800-1960)“ anhören. Die wissenschaftsgeschichtliche Schlussthese, dass die Themen der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Sozialwissenschaften zuvor gerade in Publikationsorganen der religiösen Sozialarbeit behandelt und vorbereitet wurden, ist interessant und überzeugend. Methodisch zentral war in ihren Ausführungen aber zunächst überhaupt, die auf den ersten Blick diversen Felder Religion, global history und Wissenschaft als Themen der 19. Jahrhundert-Geschichte miteinander zu verknüpfen: Hieraus ergaben sich Fokussierungen auf die Rückwirkung der „äußeren Mission“ auf die „innere“ in den christlichen Vereins- und Gesellschaftskulturen des 19. Jahrhunderts, die transnationale „social tour“ und Tagungen, ja Tagungstourismus, als Transfer-Märkte für Wissen über die von den Akteuren als (christlich-)„soziales Problem“ erfassten innergesellschaftlichen Problemzonen der Dechristianisierung („verwahrloste Mädchen“, „Sozialdemokraten“). Gegen die holzschnittartige These Blaschkes von der Zweiten Konfessionalisierung versuchte sie so die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts anders zu konzipieren und dabei insbesondere den Umgang mit so denotierten „Unterschichten“ und eine transnationale Perspektive einzubringen. Aus der Sicht der Frühen Neuzeit scheinen sich vergleichbare Akzentsetzungen auch in der dort gerade geführten Diskussion und Interessenverschiebung entlang und gegen die vorherrschenden Einlinigkeiten der nun längere Zeit vorherrschenden Heuristiken der Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung zu finden. Habermas’ Ansatz liefert auch einen Beitrag zum Verständnis dessen, dass die soziologisch-funktional inspirierten top-down-Perspektiven der genannten Heuristiken des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise ein Diskurserbe des 19. Jahrhunderts sind.

Abschließende Überlegungen: Oberthema, mehrere Schwerpunkthemen oder Epochenordnung?
Trotz der eigenen Tagungen der Arbeitsgemeinschaft „Frühe Neuzeit“ sollte der Historikertag auch für Frühneuzeitler/innen der wichtigste Ort der Präsentation der eigenen Arbeit im Kreis der Kollegen/innen bleiben. Gerade die Möglichkeit, die eigenen inner-epochalen Disziplintrends mit denen der anderen epochalen und sachlichen Teildisziplinen vergleichen zu können, erscheint mir wichtig. Insofern hat der Konstanzer Historikertag mit den erwähnten Tendenzen der Marginalisierung der nicht-modernen Fächer aber auch den beobachtbaren Tendenzen des gegenseitigen Desinteresses zwischen den Epochendisziplinen gezeigt, dass der Appell Anselm Doering-Manteuffels zur Einführung des Habilitandenforums höchstnötig ist. Die B.A./M.A.-Reform wird an vielen, insbesondere den kleineren Universitäten, eine immer stärkere Zusammenarbeit von „kern“-historischen Disziplinen mit ganz anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern befördern. Das mag ein weiterer Schritt zur Erosion und Rekomposition unseres wissenschaftlichen „Geschichtsbildes“ sein – also etwa zur tendenziellen Auflösung der traditionellen, letztlich „eurozentrischen“ Einteilung „der“ Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit und ihren jeweiligen Subepochen. Man muss das nicht mit Untergangsstimmung beklagen, es werden dadurch mittel- und langfristig auch viele neue, spannende Ausrichtungen und Umgestaltungen unserer Wissensordnungen bewirkt werden. Nichtsdestoweniger tragen die alten Wissensordnungen doch eine gehörige Portion begründeter bzw. begründbarer Resistenz und innerer Verzahnung in sich. Vor diesem Hintergrund ist auch die Wahl eines Gesamt-Oberthemas zu bedenken. Will der Historikertag eine zweijährliche „Leistungsschau“ und Repräsentation der derzeit in Deutschland getätigten Arbeit der historischen Wissenschaften sein, führt das Oberthema nur zu Verrenkungen und Verfälschungen. Viele Forscher arbeiten eh schon – gerade innerhalb programmgeförderter Forschung 5 – im Rahmen bestimmter Schwerpunktthemen. Auf dem Historikertag nun rasch noch einmal zum eigenen Thema aus dem Blickwinkel des gewählten Über-Stichworts etwas „hinzustricken“, primär, weil man eben auf dem Historikertag präsent sein will, führt dazu, dass als Leistung nur gezeigt wird, dass man sich einigermaßen agil perspektivisch ausrichten kann.

Der Historikertag müsste ehrlicher zu dem stehen, was er ist: eben eine Präsentation der aktuellen Themen und Köpfe der deutschen Forschungslandschaft, die es den Teilnehmern/innen ermöglicht, ihre berechtigte Neugier auf diese Themen und Menschen zu stillen („was machen die denn in Dresden so, wie präsentiert denn die x, von der ich schon so einiges gelesen habe, ihr Thema?“). Das „von oben“ verordnete Oberthema ist letztlich auch ein Hindernis dafür, dass der Historikertag zu einem Forum für die wirklich gerade „brennenden“ Themen wird, wie er es früher in Sektionen vermochte, die es schafften, solche „von unten“ durch längere Beschäftigung mit bestimmten Themen und Problemen gewachsenen Sensibilitätszonen zu reflektierten Konfrontationen zuzuspitzen (Historikerstreite, Historiker/innen und Nationalsozialismus, Mikro-/Makro-Geschichte...). Wenn der Historikertag also tatsächlich die mit der Programmförderung und der erwähnten Umstellung auf modularisierte Studiengänge einhergehende, schon bestehende Tendenz der Auflösung der epochalen Einteilung „der“ Geschichte hin auf Themenschwerpunkte übernehmen und verstärken will, dann sollte dies nicht durch die arbiträre Wahl eines Oberthemas alle zwei Jahre geschehen, so, als ob sich die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft einmal rasch für ein paar Tage zu einem Gesamt-SFB zusammenschließen würde. Vielmehr sollte man dann den in Deutschland an verschiedenen Orten existierenden größeren Schwerpunkt-Themen – ob sie nun durch Programmförderung institutionalisiert sind oder nicht – die Gelegenheit zur Darstellung ihrer Forschungstendenzen geben; die Sektionen wären dann hiernach und nicht nach Epochen geordnet, was ja auch dem jetzt schon bestehenden Trend, immer mehr epochenübergreifende Sektionen auszurichten, entspricht.

Behält man aber die „alteuropäische“ Epochenordnung bei, muss die Aufteilung ausgewogener sein und die interepochale Zusammenarbeit etwas besser funktionieren als beim fruchtlosen Verhallen des Appells von Doering-Manteuffel auf dem Habilitandenforum. Aus Sicht der Frühen Neuzeit war der Historikertag in der konzentrierten Campus-Atmosphäre von Konstanz – dafür allerdings leider auch ein wenig abgekapselt von der Stadt – zwar nach wie vor ein anregender Treffpunkt der „Zunft“ und des Austauschs, er vermochte aber weniger wirklich disziplinspezifische oder -übergreifende Impulse zu setzen, als man es sich wünscht.

Dr. Cornel A. Zwierlein ist wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München, Abt. Frühe Neuzeit. Haupt-Forschungsinteressen: Politische Kommunikation und Theorie der Frühen Neuzeit (Machiavellismus), Kommunikationsgeschichte, Reformations- und Rechtsgeschichte, Europäische Geschichte (Schwerpunkte Frankreich und Italien); Habilitationsprojekt: "Prometheus' Kinder. Stadtbrände und Feuerbewältigung im Übergang zur Moderne, 1650-1850". E-Mail: <cornel.zwierlein@lrz.uni-muenchen.de>

Anmerkungen:
1 Dass in den Tageszeitungen diesmal außer von Sven F. Kellerhoff, in: Die Welt, 25.09.2006, S. 23 und von Christoph Jahr, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.09.2006, S. 25 von keinem vormodernen Thema auf dem Historikertag berichtet wurde, ist vermutlich auf die geringe Präsenz der vormodernen Epochen auf der Veranstaltung zurückzuführen, vgl. Jungen, Oliver, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2006, S. 35; Augstein, Franziska, in: Süddeutsche Zeitung, 25.09.2006, S. 11.
2 Aus ihr wurde von Sven F. Kellerhoff (wie Anm. 1) merkwürdiger Weise nur das Wort der Distanznahme zitiert, das Pelizaeus vorausgeschickt hatte („Wir identifizieren uns nicht mit den Zitaten, die wir hier wiedergeben“), um angesichts der vielen negativen Zitate zum „Türken“ als Feindbild Missverständnissen vorzubeugen; Kellerhoff interpretierte dies in denkbar unintelligenter Weise als „Kapitulation vor dem Islamismus“. Vgl. auch den Sektionsbericht von Verena Kasper: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1170> (17.10.2006).
3 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1216 > (17.10.2006).
4 Vgl. den Sektionsbericht von Thomas Nicklas <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1171> (17.10.2006).
5 Vgl. den Bericht von Philip Hoffmann und Marcus Sandl über die von Rudolf Schlögl organisierte Podiumsdiskussion auf dem Historikertag "Wissenschaftsfinanzierung als Programmförderung – Chancen und Probleme", <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1309> (05.10.2006).

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