Forum: Neue Zeitschrift für Zeitgeschichte vorgestellt: Zeithistorische Forschung/Studies in Contemporary History

Von
Steffen Bruendel, PwC-Stiftung, PricewaterhouseCoopers GmbH WPG

Neue Zeitschrift für Zeitgeschichte vorgestellt: "Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History" - ab sofort gedruckt und online erhältlich

Bericht für H-Soz-u-Kult von:
Steffen Bruendel, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Frankfurt am Main
E-Mail: BruendelS@ghst.de

Am 26. Januar erblickte eine neue historische Fachzeitschrift das Licht der Öffentlichkeit. Im Festsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stellte der Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung und Mitherausgeber Konrad H. Jarausch mit seinem Team das erste Heft der "Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History" (ZF/SCH) vor. Eine Podiumsdiskussion schloss sich an.

Ziel der neuen Zeitschrift ist, so Jarausch, "spezialisierte Fachinformationen" zur Verfügung zu stellen, und zwar den etablierten und jüngeren Fachvertretern ebenso wie den außerhalb des akademischen Feldes tätigen Historikern in Museen, Redaktionen und wissenschaftsfördernden Einrichtungen. Die Informationen und ihre Aufbereitung sollen sowohl dem wachsenden Interesse an zeitgeschichtlichen Themen als auch der zunehmenden Verlagerung der Informationsvermittlung auf das Internet Rechnung tragen. Folgerichtig erscheint die Zeitschrift in doppelter Form - als elektronische Ausgabe innerhalb des neu eingerichteten Fachportals "Zeitgeschichte-online" und gleichzeitig als gedruckte Ausgabe im renommierten Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

Anstatt aber wie so oft nur eine "Online-Version" der gedruckten Fassung oder vice versa bereitzustellen, ist das Neue an dieser Kombination von Digital- und Printfassung der multimediale Mehrwert. So bündelt das Internet-Portal (www.zeitgeschichte-online.de) digitale Ressourcen zur Zeitgeschichte und ermöglicht den Zugriff auf eine Vielzahl von Internetseiten, Bibliothekskatalogen, Adresslisten, Archiven und Nachschlagewerken und gleichzeitig den Zugang zur Online-Ausgabe der "Zeithistorischen Forschungen", die jedoch unter www.zeithistorische-forschungen.de auch ein eigenständiges Portal bieten. Entscheidend für den Nutzer ist, dass die Links redaktionell betreut und mit Metadaten versehen sind, die über ihren Inhalt Auskunft geben. "Zeitgeschichte-online" ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung und der Staatsbibliothek zu Berlin. Als Modul von "Clio-online" konzipiert und verbunden mit dem Nachrichtendienst H-Soz-u-Kult, ist es Teil eines Kooperationsverbundes führender geschichtswissenschaftlicher Forschungseinrichtungen und Bibliotheken.

Standortbestimmung - oder: Konkurrenz belebt das Interesse

Das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) versteht sich explizit nicht als Rivale des Münchener Instituts für Zeitgeschichte (IfZ). Mit Blick auf die kürzlich in der "Welt" verbreitete Behauptung, es bestehe ein Verdrängungswettbewerb zwischen beiden Einrichtungen (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=403&type=diskussionenonen), verwiesen die Direktoren des Potsdamer Zentrums, Konrad H. Jarausch und Christoph Kleßmann, auf den DDR-Fokus des ZZF und konzedierten dem IfZ, die NS-Zeit für die Zeitgeschichte wissenschaftlich erschlossen zu haben. Nicht Verdrängung, sondern Ergänzung sei das Gebot der Stunde. Das gelte auch für die "Zeithistorischen Forschungen", die das bestehende Zeitschriftenangebot bereichern und nicht im Gehege der etablierten "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" wildern wollen. Die Herausgeber und die Redaktion der "Zeithistorischen Forschungen" verstehen die Zeitgeschichtsschreibung als "kritisches Korrektiv individueller und kollektiver Erinnerungskonstruktionen", die "wichtige Funktionen für eine demokratisch verfasste Zivilgesellschaft" erfülle. So verstanden bieten die elektronischen Kommunikationsmedien in der Tat "attraktive und neuartige Möglichkeiten". Zwar werden die Angebote des Internets in vielen Bereichen der Geschichtswissenschaft längst rege genutzt, aber für anspruchsvolle wissenschaftliche Abhandlungen werden zumeist noch konventionelle Publikationswege bevorzugt. Um die Bedeutung elektronischer Veröffentlichungen zu erhöhen, müssen diese dauerhaft verfügbar und zitierbar bleiben und wissenschaftliche Standards eingehalten werden. Dies zu gewährleisten ist der Anspruch, den die "Zeithistorischen Forschungen" und "Zeitgeschichte-online" an sich stellen. Da die hybride Publikationsform zudem eine größere Aktualität erlaubt, zum Beispiel durch das Aufgreifen von und die Beteiligung an wissenschaftlichen Debatten, dürfte sie das Interesse an zeitgeschichtlichen Fragestellungen verstärken.

Die Standortbestimmung, die im ersten Heft der "Zeithistorischen Forschungen" vorgenommen wird, beginnt Jarausch mit Überlegungen zu einer Zusammenführung beider deutscher Nachkriegsgeschichten. Mary Fulbrook vom University College London reflektiert die theoretischen Bedingungen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung seit 1945, und der Kölner Historiker Jost Dülffer plädiert für eine europäische, d.h. vor allem vergleichende Analyse zeithistorischer Themen. Thomas Lindenberger, Projektleiter am ZZF Potsdam, fordert insbesondere die Zeithistoriker dazu auf, "die habitualisierte Geringschätzung der nichtschriftlichen Überlieferung und der Audiovision [...] [zu] überwinden". Abgerundet wird die Standortbestimmung der neuen Zeitschrift mit fünf kritischen Würdigungen des vierten Bandes von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte". Damit ist der Standort umrissen, aber welche Position die neue Zeitschrift in der Forschung künftig einnehmen wird, dürfte letztlich davon abhängen, wie sie "Zeitgeschichte" definiert und welche Themen sie aufgreift.

Neue Medien - neue Zeitschrift - neue Zeitgeschichte?

Nach wie vor gilt die klassische, von Hans Rothfels geprägte Definition von Zeitgeschichte als einer "Epoche der Mitlebenden". Bezog Rothfels diese Formel auf die Zeit vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg - das Jahr 1917 galt bekanntlich als Ausgangspunkt der Zeitgeschichtsschreibung -, so wollen sich die "Zeithistorischen Forschungen" auf die Zeit ab 1945 konzentrieren. Zwar sollen zentrale Probleme des gesamten 20. Jahrhunderts behandelt werden, aber im Mittelpunkt des Interesses sollen "die Jahrzehnte des deutschen, europäischen und globalen Systemkonflikts von 1945 bis 1990" stehen. Weshalb aber diese Schwerpunktsetzung? Widerspricht sie nicht dem Anspruch, besonders aktuell sein und gerade mediale Quellen nutzen zu wollen? Zwar wird die "neueste Zeitgeschichte" im Editorial kurz erwähnt, doch sollte dies künftig noch präzisiert werden.

Das thematische Spektrum der "Zeithistorischen Forschungen" wurde auch auf der Podiumsdiskussion lebhaft diskutiert, die zum Thema: "Zeitgeschichte heute - zwischen wissenschaftlicher Aufklärung und Histotainment" im Anschluss an die Präsentation der neuen Zeitschrift stattfand. Dass die Zeitgeschichte der "neuen globalen Dimension seit 1989" Rechnung tragen müsse, forderte Adelheid von Saldern, Universität Hannover. Konrad H. Jarausch wies darauf hin, dass zuweilen schon von "älterer, neuerer und neuester Zeitgeschichte" gesprochen werde und erlaubte sich schmunzelnd die Frage, ob denn Zeithistoriker "Journalisten mit Fußnoten" seien. Einen ganz anderen Aspekt brachte Jörg Baberowski, Osteuropahistoriker an der Humboldt-Universität zu Berlin, in die Diskussion ein und erntete viel Zustimmung beim Publikum, weniger jedoch auf dem Podium: Er forderte die Abkehr von der Konzentration auf die deutsche Zeitgeschichte und die Öffnung für europäische, insbesondere osteuropäische, Themen sowie für vergleichende Untersuchungen. Dass hierüber kontrovers diskutiert wurde, überraschte insofern, als die Podiumsteilnehmer fast sämtlich dem Beirat der "Zeithistorischen Forschungen" angehören. Die unterschiedlichen Auffassungen selbst zwischen den Verantwortlichen verdeutlichten, wie schwierig es ist, eine neue Zeitschrift zu positionieren. Offenbar ist die Standortbestimmung noch nicht abgeschlossen. Das muss nicht problematisch sein, sondern kann im Gegenteil zu fruchtbaren Ergebnissen führen, nämlich einer Vielfalt der in den "Zeithistorischen Forschungen" mit verschiedenen Ansätzen zu behandelnden Themen.

Erfreulich ist immerhin, dass das ZZF im Mai eine Konferenz zur "Europäisierung der Zeitgeschichte" durchführen wird und das Portal "Zeitgeschichte-online" Themen besonders "zeitnah" aufgreifen soll. Der Profilfindung der neuen Zeitschrift kann das nur nützen. Die "Zeithistorischen Forschungen" könnten einer veränderten Zeitgeschichtswahrnehmung ebenso Rechnung tragen wie Veränderungen des medialen Umfeldes, in dem wissenschaftliche Forschung heutzutage und künftig durchgeführt wird.

Eva Braun auf der Schaukel - oder: die Konkurrenz von Film und Fernsehen

Die seit einiger Zeit zu verzeichnende Popularisierung von Forschungsergebnissen betrifft insbesondere die Zeitgeschichte, weil sie nicht nur schriftliche Überlieferungen, sondern auch Fotos, Filme und Tondokumente als Quellen erschließt. Damit ist sie stärker als früher der Konkurrenz medialer Geschichtsdarstellungen ausgesetzt, die historische Themen im Kino, im Fernsehen, im Internet oder in großen Ausstellungsprojekten behandeln. Zeitgeschichte wird also nicht mehr nur von Fachhistorikern innerhalb der traditionellen wissenschaftlichen Institutionen gedeutet, sondern auch von Journalisten, Filmemachern und Museumspädagogen. Dass die Präsentation von Bildern bei mangelnder wissenschaftlicher Sorgfalt problematisch sein kann, veranschaulichte Jarausch am Beispiel der umstrittenen "Wehrmachtsausstellung". Die suggestive Macht der Bilder könne aber auch verharmlosen, so Jarausch mit Blick auf so genannte historische Fernsehdokumentationen wie "Hitlers Frauen". Zwar möge es ganz nett sein, "Eva Braun auf einer Schaukel zu sehen", aber gerade solch ein idyllisches Bild verdecke allzu leicht den Blick auf die Wirklichkeit des Nationalsozialismus.

Die "Zeithistorischen Forschungen" tun gut daran, der Film- und Medienkritik ein Forum zu bieten, denn schließlich ist die Quellenkritik, Grundlage aller historischen Forschung, durch die audiovisuellen Medien aktueller denn je. Jean-Christoph Caron weist in seiner Besprechung von Margarethe von Trottas Film "Rosenstraße" im Schlussteil des Heftes darauf hin, dass "die Chance des Massenmediums, zur Geschichtsbildung eines breiten Publikums beizutragen", ebenso groß sei wie "die Gefahr folgenschwerer Geschichtsverfälschungen". Am Beispiel seines Beitrages lässt sich das Potential einer Kombination aus gedruckter Fassung und Online-Version erahnen, ermöglicht letztere beispielsweise, sich Filmbilder und auch einen Trailer anzuschauen. Das ist sicher originell, vermittelt aber für sich genommen noch keinen Erkenntnisgewinn. Angestrebt wird schließlich kein Online-"Heimkino", sondern eine präzisere Analyse medialer Geschichtsdarstellungen. Hier gilt es, mit den Möglichkeiten, die das Internet bietet, zu experimentieren, sie auszubauen. In dem Maße, wie die "Zeithistorischen Forschungen" fundierte Medienkritik ermöglichen, werden sie den Anspruch des Mitherausgebers Christoph Kleßmann einlösen, "Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung" zu begreifen.

Wagnis mit gutem Vorzeichen

In Verbindung mit "Zeitgeschichte-online" können die "Zeithistorischen Forschungen" die Umsetzung von Forschung in veröffentlichtes Wissen beschleunigen. Gleichwohl stellt es immer auch ein Risiko dar, eine neue Zeitschrift zu begründen. Allein die große Resonanz auf die Ankündigung - zahlreiche Pressevertreter waren erschienen, und die Podiumsdiskussion fand im vollbesetzten Festsaal der Akademie statt - zeigt allerdings das große Interesse von Fachvertretern und einer zeitgeschichtlich interessierten Öffentlichkeit. Beeindruckend ist, dass nur anderthalb Jahre von der ersten Idee bis zur Umsetzung vergangen sind. Dieses Tempo zeigt, dass es die Initiatoren ernst meinen mit ihrem Projekt und sich auf das Wagnis einlassen wollen. Diese Entschlossenheit steht unter einem guten Vorzeichen, auf das Martin Rethmeier von Vandenhoeck & Ruprecht hinwies. Vor fast genau 30 Jahren erschien eine andere, damals in vielerlei Hinsicht ebenfalls innovative Fachzeitschrift, die sich inzwischen längst als Organ der Fachwelt etabliert hat: "Geschichte und Gesellschaft". Diese Koinzidenz sollte Herausgeber wie Redakteure des neuen ambitionierten Projekts beflügeln. In der Kombination von technischer Innovation und inhaltlicher Originalität liegt, in der Sprache der Wirtschaft ausgedrückt, das "Alleinstellungsmerkmal" der neuen Zeitschrift und damit die große Chance auf dem Fachzeitschriftenmarkt. Wie sie genutzt werden wird, bleibt abzuwarten. Mit dem ersten Heft zumindest sind die Herausgeber und das Redaktionsteam um Jan-Holger Kirsch dem selbst gestellten Anspruch gerecht geworden. Gelingt es, das Niveau zu halten, wird die neue Zeitschrift die zeitgeschichtliche Forschung bereichern.

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