Ostimperium und Weltpolitik - Gedanken zur Langzeitwirkung der “Hamburger Schule”

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Volker Berghahn, Department of History, Columbia University

Seit geraumer Zeit wird vor allem in den Geschichtsabteilungen angloamerikanischer Universitäten die Forderung erhoben, Geschichte stärker als bisher in transnationaler Perspektive zu betreiben. Auch in der Bundesrepublik haben sich in den letzten Jahren Stimmen dazu erhoben.0 Während eine ältere Generation von Historiker/innen ihre mehrbändigen großen Werke zur deutschen Nationalgeschichte vorgelegt hat oder an deren letztem Band schreibt, bemühen sich einige Historiker/innen der jüngeren Generation, darunter vor allem Ute Frevert um eine „Europäisierung“ dieser Geschichte. Andere wiederum blicken noch über diese Region hinaus und verstehen Transnationalität eher in einem globalen Rahmen. Als gutes Beispiel des letzteren Ansatzes kann der von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel herausgegebene Essayband „Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914“ gelten, der in der Presse mancherlei Lob erhielt und auch von Johannes Paulmann am 14. September 2005 in H-Soz-u-Kult sehr positiv besprochen wurde.1 Die folgenden Ausführungen verfolgen zwei Ziele: Sie sind in ihrem Kern eine kritische Auseinandersetzung mit der Anthologie von Conrad und Osterhammel. Doch geht es zugleich darum, auf die Arbeiten jener Historiker/innen hinzuweisen, die weiter unten als „Hamburger Schule“ bezeichnet werden. Jedenfalls schien die Proklamation transnationaler Ansätze in der Anthologie eine gute Gelegenheit, an ältere aber durchaus nicht überholte Arbeiten zu erinnern, um auf diesem Wege zu einigen weiteren Überlegungen zur Entwicklung der internationalen Geschichtsschreibung zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu gelangen.2

Ich erwähnte soeben die „Hamburger Schule“ und nicht – wie sonst üblich – die „Fischer-Schule“, weil nicht alle der im Folgenden zitierten Historiker/innen Fischer-Schüler waren. Und doch haben sie durch ihre Arbeiten einen wichtigen Beitrag zu den historischen Problemstellungen geleistet, die gewöhnlich mit der „Fischer-Schule“ verbunden werden. Der Begriff scheint mir auch deshalb treffender, weil es sich um die gemeinsam erbrachten Leistungen vieler handelt, die einst an der Universität Hamburg forschten, ähnlich wie wir von einer „Bielefelder Schule“ sprechen und nicht von einer „Wehler-Schule“. Mag Hans-Jürgen Puhle die letztere Schule auch einmal als „Legende“ bezeichnet haben, der Begriff hat sich langfristig dennoch durchgesetzt. Dabei ist zu betonen, dass ich zwar häufig für einen „Fischer-Schüler“ gehalten worden bin, aber tatsächlich nie einer war. Ich habe mich in Amerika, London und Mannheim wissenschaftlich qualifiziert, aber – obwohl in Hamburg aufgewachsen – in dieser Stadt nicht studiert. Und auch in meinen Ansichten vor allem über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bin ich Fritz Fischer nicht gefolgt, erst recht nicht der Verschärfung seiner Thesen zur Julikrise 1914 in seinem Krieg der Illusionen.3 Doch anstatt auf alte historiografische Netzwerke in der Bundesrepublik einzugehen, möchte ich mich der Bedeutung der „Hamburger Schule“ für die gegenwärtige Diskussion zur Rolle des Kaiserreichs in Europa und der Welt in zwei Schritten nähern: 1) werde ich auf die in den letzten Jahrzehnten erfolgten Verschiebungen in der Forschung zur Geschichte Deutschlands in der Neuzeit eingehen, um dann 2) die Verbindung zu den Leistungen der „Hamburger Schule“ zu ziehen, zu denen auch Peter Borowsky wichtige Beiträge geschrieben hat. Ich konzentriere mich dabei auf die Zeit des Kaiserreichs.

Zu Punkt 1: Die große Linie der historiografischen Entwicklung ist bekannt, der zufolge bis in die 1970er-Jahre die ausgreifenden innen- und außenpolitischen Strukturanalysen dominierten, die die Geschichte „von oben“ betrachteten. Hernach gewannen dann die Sozialgeschichte „von unten“, die Alltagsgeschichte und die mehr und mehr mikrohistorisch arbeitende Kulturgeschichte die Oberhand. Damit einher ging die Zurückweisung der nicht nur von den „Bielefeldern“ sondern auch von vielen „Hamburgern“ vertretenen Argumentation von einem deutschen „Sonderweg“. Die deutsche Gesellschaft – zumal die des Kaiserreichs – sei, so hieß es, zu dezentralisiert und bunt gewesen, um mit dem groben Raster eines preußenzentrischen, auf Machteliten fixierten Strukturalismus erklärt werden zu können. Diese Wende wurde durch Geoff Eleys und David Blackbourns provokantes Buch „Mythen der deutschen Geschichtsschreibung“ 1980 erheblich beschleunigt.4 Vor allem eine jüngere Generation von Historiker/innen wurde von dieser Sicht der deutschen Geschichte angezogen. Man verwarf die These vom deutschen Sonderweg und konzentrierte sich auf die Erforschung des Lokalen und Peripheren. Heimat, Erinnerung, Perzeptionen und Emotionen, die „kleinen Leute“ und ihr „Eigen-Sinn“ standen im Mittelpunkt, nicht politische, ökonomische oder militärische Eliten, über deren Bündnisse Fritz Fischer 1979 einen langen Essay veröffentlichte. Die jüngere Generation interessierte sich auch für den Postmodernismus, der damals vor allem in der Literaturkritik Furore machte. Einige vollzogen gar den „linguistic turn“. Ich betone ausdrücklich, dass diese Forschungen – zumal zum Kaiserreich – viele wichtige neue Erkenntnisse gebracht und unser Verständnis der modernen deutschen Geschichte deutlich vertieft haben. Und doch scheint mir die Dominanz dieser Perspektive während der letzten zwanzig Jahre langfristig zu einer Verengung geführt zu haben. Wer das Lokale so stark in den Vordergrund stellt, für den rückt das Metropolitane im weitesten Sinne unvermeidlich in die Ferne.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen der 1980er und 1990er-Jahre ist es nun überraschend, dass David Blackbourn – einer der renommiertesten Kritiker des Strukturalismus, des Sonderwegs, und des Preußenzentrismus – kürzlich erklärt hat, im Grunde habe das Lokale immer mit dem Globalen zusammengehangen. Zwar sei die Wendung zum Globalen zeitlich etwas später gekommen als die zum Lokalen und habe bestimmte eigene Ursachen gehabt. Er nannte „darunter sowohl die zeitgenössischen Diskussionen über Globalisierung und grenzüberschreitende Migration als auch den Einfluss postkolonialer Ansätze darauf, wie wir die Geschichte europäischer Metropolen verstehen“.5 Beide – so fuhr Blackbourn fort – hätten den „historischen Primat nationaler Kategorien in Frage gestellt“ und seien von einem wachsenden Interesse an Identitäten, „vor allem den multiplen, sich überlappenden Identitäten“, markiert. Die „lokale und die globale Perspektive“ sei des Weiteren verbunden gewesen durch „das wachsende Interesse am Raum, der – neben der Zeit – zweiten wesentlichen Koordinate für den Historiker“. Blackbourns bemerkenswerte Ausführungen erschienen in der schon genannten von Conrad und Osterhammel herausgegebenen Anthologie. Der größte Teil der dort zu findenden Beiträge betrachtet Probleme des europäischen und vor allem des deutschen Kolonialismus in dieser Epoche und dessen Rückwirkungen auf das Kaiserreich. Interessant ist dabei, dass nicht nur die Verbindungen zwischen Metropolen und Übersee gezogen werden, sondern auch zur imperialen Politik Preußens in Osteuropa. Insofern bricht der Band aus der älteren nationalgeschichtlichen Schau aus und geht auch über das erwähnte Europäisierungsprojekt hinaus. Doch sehen wir uns die Beiträge näher an.

Unter den einleitenden Überblicksartikeln ist außer dem von Blackbourn noch auf Woodruff D. Smiths Überlegungen zu „‚Weltpolitik’ und ‚Lebensraum’“ hinzuweisen.6 Diese Begriffe müssen den „Hamburgern“ sehr vertraut vorkommen, und in der Tat deckt der Band die Felder und historiografischen Konzepte sehr gut ab, die die „Hamburger Schule“ vor vierzig Jahren in ihren Arbeiten benutzten. Sieht man sich jedoch die Texte und Fußnoten von „Das Kaiserreich transnational“ näher an, so wird dort außer Helmut Böhmes Studie über „Deutschlands Weg zur Großmacht“, die die Zeit vor 1871 betrifft, keine einzige Veröffentlichung aus Hamburg erwähnt. Das gilt für alle Bücher Fritz Fischers über den wilhelminischen Imperialismus wie auch für die seiner Schüler, z.B. Immanuel Geiss, Barbara Vogel, Peter-Christian Witt, Dirk Stegmann, Volker Ullrich und Peter Borowsky. Es trifft auch zu auf die Zechlin-Schüler Klaus Saul und Helmut Bley, die mit Fischers Assistenten zusammenarbeiteten und z.T. befreundet waren. Besonders frappierend ist, dass Bleys Studie über Deutsch-Südwest Afrika in der Anthologie nicht erwähnt wird, obwohl gerade Afrika Gegenstand mehrerer Beiträge ist.

Damit bin ich bei der Frage nach den Leistungen der „Hamburger Schule“ im Allgemeinen und denen Peter Borowskys im Besonderen angelangt. Dafür, dass diese Schule so ganz in Vergessenheit geraten ist, scheint es eine Erklärung zu geben, die auf den ersten Blick recht oberflächlich erscheint, die ich jenseits aller gewiss in Deutschland, Amerika und anderswo ebenfalls einflussreichen „Zitierkartelle“ aber dennoch für schwerwiegend halte. Wir alle finden es immer schwieriger, allein mit den neuesten Veröffentlichungen auf unserem Spezialgebiet auf dem Laufenden zu bleiben. In vielem schafft man es vielleicht gerade noch, sich einen Überblick über die wichtigsten Zeitschriften zur europäischen Geschichte zu verschaffen. Für viele Monografien verlässt man sich immer häufiger auf Rezensionen und Verlagsankündigungen. Erst nach deren Lektüre besorgt man sich die Bücher, die für die eigenen Arbeiten am relevantesten erscheinen. Viele verbringen zudem offenbar ihre Zeit damit, im Internet diverse einschlägige Websites zu konsultieren.

Das kostet Zeit, und so ist es verständlich, dass viele jüngere Kollegen einfach nicht mehr dazu kommen, sich mit der älteren Literatur und deren Argumenten und Materialien ernsthaft auseinanderzusetzen. Man weiß generell natürlich, dass „Fischer-Leute“ vor vier Jahrzehnten diverse Bücher veröffentlicht haben, und fast rituell enthalten daher auch Einleitungen in einem Satz einen Hinweis auf die berühmt-berüchtigte „Fischer-Kontroverse“. Doch was in dieser Literatur substanziell zu finden ist, wird noch nicht einmal andeutungsweise kritisch diskutiert. Man wiegt sich stattdessen in der Überzeugung, dass die damaligen „Orthodoxien“ inzwischen längst überholt seien und man zu ganz neuen Erkenntnissen vorgestoßen ist.

Ich halte diese Entwicklung für bedauerlich, was ich unter Bezugnahme auf den Conrad/Osterhammel-Band an einigen Beispielen illustrieren möchte. Da ist zunächst die weiterhin vorbildliche Arbeit von Helmut Bley über Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwest-Afrika, die in der Anthologie nicht einmal in einer Fußnote erwähnt wird.7 Gewiss, im Zentrum des Bleyschen Buches steht die offizielle Politik in Berlin und in der Kolonie selbst während des Aufstandes der Herero und Nama 1904/05. Neuere Studien haben die Behandlung der einheimischen Bevölkerung beschrieben und offen als Genozid bezeichnet. Aber bei Bley finden sich bereits ähnliche Urteile. Vor allem wies er auf die heute im Mittelpunkt der Forschung stehende Interaktion von Metropole und Peripherie hin, als er schrieb, die Entscheidungsträger seien an die Herero und Nama mit Einstellungen herangegangen, „die aus der sozialen Unruhe des damaligen Europa stammten“. Und umgekehrt hätten die brutalen „Methoden der Menschenbehandlung“, die in Afrika praktiziert wurden, einem Bumerang gleich „auf das Mutterland“ zurückgewirkt. Jürgen Zimmerer und andere haben im Zuge von Studien anlässlich der hundertjährigen Wiederkehr der deutschen Schreckensherrschaft diese These kürzlich wieder aufgegriffen und präzisiert.8 Zu beachten wäre hier auch das neue Buch von Isabel Hull.9

Zieht man die Arbeiten von Fritz Fischer und einiger seiner unmittelbaren Schüler, und nicht zuletzt auch die von Peter Borowsky hinzu, so ist der schon erwähnte Beitrag von Smith in „Das Kaiserreich transnational“ über überseeische „Weltpolitik“ und osteuropäischen „Lebensraum“ besonders interessant – zwei Konzeptionen deutscher Außenpolitik, zwischen denen bekanntlich seit Mitte der 1880er-Jahre eine zunehmende Spannung bestand. Bismarck, der Kontinentalpolitiker und preußische Junker, hatte damals nur zögerlich der Agitation des industriellen und kommerziellen Bürgertums nachgegeben, ein Kolonialreich zu erwerben. Doch mit seinem Abgang und dem erneuten Aufschwung in der Weltwirtschaft seit Mitte der 1890er-Jahre wurden die Vorstellungen von Deutschland als Vormacht auf dem europäischen Kontinent von den großartigen wilhelminischen Visionen der „Weltpolitik“ überrollt.

Für die Beurteilung dieser damals in Angriff genommenen Politik kann es weiterhin als gesichert gelten, dass sie spätestens 1908/09 gescheitert war. Die schon genannten „Hamburger“ Geiss, Stegmann, Saul, Witt u.a. haben diesen Verfall unter innen- und außenpolitischen Gesichtspunkten untersucht, und die Autor/innen von „Das Kaiserreich transnational“ hätten gut daran getan, diese Forschungen in die ihrigen zu integrieren. Das gilt gerade auch für den erneuten Aufstieg jener Kontinentalkonzeption, die nach 1909 die „Weltpolitik“ ersetzte. Diese Verschiebung, die mit einer Umpolung der wilhelminischen Rüstungspolitik von der See aufs Land verbunden war, findet sich sehr klar umrissen im „Krieg der Illusionen“. Fischer zufolge trug sie nicht nur unmittelbar zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei sondern auch zur Formulierung der deutschen Kriegsziele in den Jahren 1914-18. Ging es doch seitdem nicht mehr um Flottenbau und den Erwerb überseeischer Besitzungen, sondern um die Sicherung eines deutschen Kontinentalimperiums. Genau diese Konzeption wurde schon bald nach Kriegsbeginn, wenn nicht schon zuvor, in Berlin hinter verschlossenen Türen diskutiert. Wie Alfred von Tirpitz, einer der Väter der lange vor 1914 gescheiterten Weltpolitik, schon 1915 notieren ließ, war es die „Ansicht zahlreicher Kreise in der Armee und anderer rechtsstehender Kräfte“, die Deutschen „hätten zwar Machtpolitik treiben müssen, aber Kontinentalpolitik. Erst die Feinde auf dem Kontinent niederringen, dazu alles in das Heer stecken. […] Welt- und Flottenpolitik ist ‚verfrüht’ gewesen. Wir haben uns 'übernommen' mit der Marine“.10 Und in Fischers „Krieg der Illusionen“ findet sich sodann eine nicht weniger erhellende Aussage General Wilhelm Groeners, der im Mai 1919 rückblickend ganz vertraulich die Ansicht äußerte:11 „Wir haben unbewusst nach der Weltherrschaft gestrebt – das darf ich natürlich nur im allerengsten Kreise sagen; aber wer einigermaßen klar und historisch die Sache betrachtet, kann darüber nicht im Zweifel sein – ehe wir unsere Kontinentalstellung fest gemacht hatten.“

Die Konsequenzen aus dieser gigantischen Fehlkalkulation der wilhelminischen Außenpolitik zogen in der Zwischenkriegszeit nicht nur die Deutschnationalen sondern auch Adolf Hitler. In „Mein Kampf“ kritisierte er die Schwächen der Vorkriegsstrategie heftig und entwickelte in Umrissen jenen von Klaus Hildebrand analysierten Plan einer erneuten territorialen Expansion, die das nächste Mal in zwei Stufen erfolgen würde: Erst der Ausgriff nach Osten und die Schaffung eines „blockadefesten“ Raums zur Rohstoffsicherung und als „germanisches“ Siedlungsgebiet, worüber der „Führer“ dann 1941/42 in seinen Tischgesprächen bramabarisierte. Erst danach sollte die Konfrontation mit den Seemächten Großbritannien und USA in einem Kampf um die Weltherrschaft kommen. Mit anderen Worten, unter Hinweis auf die von Tirpitz gehörte und von Groener geäußerte Kritik an Wilhelm II., der gewissermaßen das Pferd um die Jahrhundertwende mit seiner Außenpolitik falsch aufgezäumt hatte, ist der Titel von Smiths Beitrag zu „Das Kaiserreich transnational“ unter Rückgriff auf die Arbeiten der „Hamburger Schule“ wohl besser umzudrehen: „Lebensraum und Weltpolitik“.

Indessen verbarg sich hinter „Weltpolitik und Lebensraum“ bzw. „Lebensraum und Weltpolitik“ noch ein weiterer Konflikt, der zu den geostrategischen Überlegungen des wilhelminischen Imperialismus parallel lief. Hier ging es um die Frage nach den Methoden der deutschen Außenpolitik: Sollte die Einverleibung europäischer und überseeischer Gebiete nach den Prinzipien eines formellen oder informellen Imperialismus erfolgen? Die erste Lösung sah die direkte Machtausübung mittels militärischer Okkupation und einer eigens installierten Bürokratie vor; die zweite bevorzugte die indirekte Penetration eines Gebietes und dessen Beherrschung durch das Gewicht kommerzieller und industrieller Interessen in Zusammenarbeit mit einheimischen Eliten. Eine frühe Formulierung fand die zweite Konzeption bereits vor 1914 in den Diskussionen um ein von Deutschland beeinflusstes „Mitteleuropa“. Friedrich Naumann entwickelte diese Ideen dann in seiner Schrift aus dem Jahre 1915 weiter. Dem stand zunächst mehr verdeckt, ab 1916 aber offen, die Politik der Obersten Heeresleitung und General Erich Ludendorffs gegenüber, die auf die Errichtung eines formal empire im Osten hinarbeiteten. Der von diesen Gruppen verbissen verfolgte „Siegfrieden“ sollte ein Kontinentalreich schaffen, das auf der Basis der Erfahrungen direkter Machtausübung in den Kolonien vor 1914 organisiert werden würde. Das heißt: Präsenz von deutschen Polizei- und Militärkräften und Aufbau einer deutschen Verwaltung, die die Ausbeutung von Bevölkerung und Rohstoffen sichern und Märkte für deutsche Waren eröffnen sollten.

In dieser Konzeption hat der Vertrag von Brest-Litovsk in der Forschung seit langem eine zentrale Stellung eingenommen. Die direkte Annexion weiter Gebiete des zusammengebrochenen Zarenreichs wurde 1918 von vielen als die Verwirklichung der östlichen Hälfte eines exorbitanten Kriegszielprogramms angesehen – als erster Schritt zu einem formellen Kontinentalreich, dem nach einem „Endsieg“ im Westen weite Teile Belgiens und Nordfrankreichs einverleibt werden sollten. Andere Experten haben Brest-Litovsk als Versuch interpretiert, für Deutschland im Osten lediglich einen „Brotfrieden“ zur Überwindung der Hungersnot im Reich zu erkämpfen. Dieser Interpretation stehen aber wohl die noch im August 1918 den Bolschewiki oktroyierten Zusatzverträge entgegen, nach denen Russland im Osten weitere Gebiete abtrat und deutsche Waren- und Öllieferungsforderungen in Höhe von sechs Milliarden Goldmark akzeptierte.

Zu den Debatten über das Ausmaß des wilhelminischen Größenwahns hat nun Peter Borowsky einen auch heute noch wichtigen Beitrag in seinem Buch über die deutsche Ukrainepolitik geleistet.12 Er zeigt darin, dass die Ludendorffsche Strategie nicht die einzige war, die damals von der preußisch-deutschen Monarchie verfolgt wurde. Vielmehr gab es im Auswärtigen Amt und im Reichswirtschaftsamt Pläne, „die alle davon ausgingen, dass auch nach Beendigung des Krieges die Westmächte den Wirtschaftskampf gegen Deutschland“ fortsetzen würden. Auch die deutschen Vertreter in Kiew meinten, dass der Ausbau einer „wirtschaftlichen Brückenkopfstellung Deutschlands in der Ukraine“ als Motor einer „auf die wirtschaftliche Beherrschung der Ukraine abzielenden Politik“ dienen müsse. Borowsky zufolge verbarg sich hinter den Debatten, die diese Fragen in Berlin auslösten, das „entscheidende Dilemma der deutschen Ukrainepolitik“: Denn zur Durchdringung der ukrainischen und danach der russischen Wirtschaft fehlte „dem Reich das Geld“. Auch die Privatwirtschaft, der eine solche Durchdringung zugute gekommen wäre, zögerte angesichts der sich für das Reich bald darauf verschlechternden Kriegslage, sich zu engagieren. Die militärische Besetzung weiter Teile des ehemaligen Zarenreichs durch deutsche Truppen musste aufgegeben werden. Der Traum von einem deutschen Ostimperium war daher nur von kurzer Dauer, aber dennoch sehr bezeichnend.

Ich hoffe, dass mit diesen wenigen Worten bereits hinreichend deutlich geworden ist, warum sich auch die Lektüre von Borowskys Arbeiten zur Konzeption der wilhelminischen Außenpolitik im Ersten Weltkrieg weiterhin lohnt. Für mich war es nicht nur interessant zu sehen, wie sich seine Arbeiten nahtlos in die neueren Debatten um „Weltpolitik und Lebensraum“ sowie die um ein formelles oder informelles empire einfügen lassen. Auch die Frage der Kontinuität bis hin zum Zweiten Weltkrieg ist im Angesicht der nationalsozialistischen Besatzungpolitik mit ihrem Größenwahn und ihren brutalen Praktiken eines formellen Kolonialismus nicht vom Tisch. Erneut gelesen und kritisch durchdacht, könnte die „Hamburger Schule“ durchaus wieder eine Langzeitwirkung entwickeln. Das gilt auch für die Frage der durchgehenden Linien von Bismarck bis Hitler und die Rolle der deutschen Eliten bei diesen Entwicklungen. Beachtlich scheint mir bei Borowsky schließlich seine Berücksichtigung von Wirtschaftsfragen. Ist dies doch ein Aspekt, den die Alltags- und Kulturgeschichtsschreibung der 1980er und 1990er-Jahre so gut wie völlig aus den Augen verlor. Das Eingeständnis dieses Mankos ist bemerkenswerterweise am Ende indirekt auch in David Blackbourns Beitrag zu „Das Kaiserreich transnational“ zu finden. Den Ausweg aus der Sackgasse, in die die Lokalgeschichte geriet, sieht er nun in einer „Hinwendung zum Handel mit einer einzelnen Ware“. Denn „sie verbindet (im positiven Fall) das Quantitative mit dem Qualitativen, das Materielle mit dem Kulturellen, das Lokale mit dem Globalen“.13

Das ist – wie er unter Hinweis etwa auf Sidney Mintz' Studie über den Zucker meint – gewiss ein gangbarer Weg. Doch ist er zu gehen, ohne erneut die Fragen nach einen formellen bzw. informellen Imperialismus der nationalstaatlichen Metropolen zu stellen? Kann man das Globale mit dem Lokalen wirklich so unvermittelt verbinden? Kommt die Dynamik der Globalisierung von der „Grasswurzel“ her? Die gedankenreiche und methodisch anregende Studie von Adam McKeown über chinesische Migrationsnetzwerke z.B. bettet diese nicht lediglich ins rein Lokale ein, sondern in den jeweiligen breiteren regionalen Kontext.14 Einen anderen Einstieg böte der von Borowsky, aber auch von den „Hamburgern“ allgemein gewiesene Pfad der Interessengruppen-, Gewerbebranchen- und Bürokratieforschung. Spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert agierten diese Organisationen nicht mehr nur lokal und national, sondern auch global. Ist es daher möglich, dass die Leistungen der „Hamburger Schule“ auch auf diesem Gebiet nach Jahren der Vernachlässigung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder deutlicher sichtbar und folglich erneut zitierfähig werden?

Vor dem Hintergrund dieser Frage seien abschließend noch einige Überlegungen zur Entwicklung der internationalen Geschichtswissenschaft und der Globalisierungsdiskussion angefügt, die zugleich einen Bezug zu den Veränderungen in der Weltpolitik und Weltwirtschaft herzustellen versuchen. Bei der obigen Analyse der historiografischen Verschiebung vom Strukturalismus, Sonderweg und Preußenzentrismus hinweg zur Alltags- und Kulturgeschichte hatte ich nicht erwähnt, dass dieser Wandel in der Bundesrepublik relativ spät erfolgte. Sie war in England etwa schon seit den späten 1950er und frühen 1960er-Jahren im Gange, wo Edward P. Thompson zu einem der einflussreichsten Historiker/innen in der angloamerikanischen Welt aufstieg. Er war es, der zusammen mit anderen gegen einen orthodoxen, strukturalistisch-deterministischen Marxismus rebellierte, voran in seinem vielgelesenen Buch „The Making of the English Working Class“. Mit Thompson und anderen begann damals die soziokulturelle Wende unter Historiker/innen der englischsprachigen Welt. An seinem Institut an der Warwick University und anderswo begannen seine Schüler/innen und Epigon/innen, de facto Alltagsgeschichte zu betreiben. Sie befassten sich immer stärker mit den Entwicklungen an der „Grasswurzel“ der britischen Gesellschaft, vor allem während der Industriellen Revolution. Die Arbeiterkultur-Geschichte kam immer stärker in Gang und es wurden Arbeiten über immer kleinere Gruppen und Gemeinschaften verfasst.

Die Annales-Schule in Frankreich machte eine ähnliche Entwicklung durch. Einst hatte Fernand Braudel seine mehrbändige, groß angelegte Studie über die Mittelmehrgesellschaften im Zeitalter Philipps II. veröffentlicht. Doch dann entfernten sich die französischen Historiker/innen von seinem Riesenpanorama und erforschten die soziokulturellen Teilelemente der einzelner europäischen Gesellschaften. Genannt sei hier nur Alain Corbin, von Haus aus ein Annaliste, der nach einer 1978 veröffentlichten Studie über Prostitution 1982 sein Miasme et la jonquille über Gerüche in Paris im 18. Jahrhundert herausbrachte, gefolgt 1991 schließlich von „Temps, le désir et honeur“ im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In Italien kam es zum Aufstieg der Mikrohistorie die in den 1970er-Jahren z.B. in die Veröffentlichung von Carlo Ginzburg's „Il formaggio e I vermi“ mündete, ein Buch über das Universum eines einfachen Müllers aus dem italiensichen Friuli, Domenico Scandella. Während die britisch-amerikanischen Deutschland-Historiker Eley und Blackbourn von der Thompson-Schule beeinflusst waren, kam die Alltagsgeschichte z.T. auch über Frankreich in die Bundesrepublik und nicht zuletzt ins Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Was sie alle mehr interessierte als Strukturen war kollektives und schließlich mehr und mehr auch individuelles Handeln. Der Zusammenbruch des Sowjetblocks führte zu einer weiteren Schwächung marxistischer Perspektiven und zu einem zunehmenden Interesse an agency, der Marx und nach ihm gerade auch Thompson freilich immer wieder eine erhebliche Bedeutung für den historischen Wandel zugesprochen hatten. Stärker denn je begann mit den 1990er-Jahren im Zeichen einer angloamerikanischen Neoliberalisierung der Weltwirtschaft und Weltpolitik und der Betonung von „Freiheit“ gegenüber sozialer Solidarität jene Individualierung der westlichen Gesellschaften, die zwar schon in den 1970er-Jahren angelegt war, doch erst jetzt zum Durchbruch kam. Diese Entwicklungen gingen auch an der Geschichtsschreibung nicht vorbei, wie sich auch am Wiederaufstieg eines in der „Zunft“ fast vergessenen Genres ablesen lässt - der Biografie.

Zu Zeiten des Strukturalismus wäre es wohl ein Karrierehandikap gewesen, wenn man in der Bundesrepublik mit einer Biografie hätte promovieren oder sich habilitieren wollen. Obwohl er als Dozent und Professor in England lehrend von professionellen Pressionen unabhängig war, bietet John Röhl wohl das beste Beispiel eines Historikers, der damals einsam aber hartnäckig seine große Biografie Wilhelms II. verfolgte.15 Die Ablehnung der Biografik endete bezeichnenderweise in den 1990er-Jahren, als das Genre auch in der akademischen Historiografie wieder respektabel wurde. Es ist von Jan Romein und später von Oskar Negt behauptet worden, dass Biografie in Krisenzeiten gefragt sei, wenn pessimistische Zeitgenossen nach inspirierenden Vorbildern suchten. Ich würde eher im Gegenteil vermuten, dass dieses Genre in Perioden wirtschaftlicher Blüte, eines Zukunftsoptimismus und der Individualisierung eine größere Leserschaft findet. Dies mag m.E. auf jeden Fall das Interesse in den 1990er-Jahren erklären, als im Westen im Zuge der Dritten Industriellen Revolution viele fester denn je an die Freiheit und Selbstverwirklichungsmöglichkeit des Individuums zu glauben begannen.

Indessen scheint sich dieses Zeitgefühl in den letzten Jahren erneut zu verändern. Nicht nur die Angriffe auf New York und Washington vom September 2001 sondern auch die anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Probleme, die mit der Globalisierung im Zusammenhang stehen, haben erneut zu der Frage geführt, ob die Menschen nicht doch viel stärker als in den 1990er-Jahren eingestanden in große Strukturen und Prozesse eingebunden sind, die die individuellen Spielräume erheblich einengen. Mochte George W. Bush, der angeblich „mächtigste Mann der Welt“, 2001 noch glauben, unilateral den Lauf der Geschichte in eine bestimmte Richtung lenken zu können, die jüngsten Erfahrungen lassen selbst ihn als einen Spielball von Kräften erscheinen, die er nicht mehr kontrolliert. Ähnliche Gefühle scheinen heute auch viele Vorstandsvorsitzende der multinationalen Konzerne zu haben, die unter dem Druck eines harten globalen Wettbewerbs zu stehen meinen.

Damit erhebt sich abschließend die Frage nach den Rückwirkungen dieser Entwicklungen auf die heutige Geschichtswissenschaft. Noch vor kurzen hat John Röhl den „Zusammenbruch des anti-biografischen strukturalistischen Paradigmas“ proklamiert.16 Für mich sieht es eher so aus, dass wir auch in dieser Disziplin vor einer Rückkehr zur Analyse von Strukturen und forces profondes, von großen Bewegungen und Quantitäten stehen, die auch die Gegenwart so entscheidend beeinflussen. Damit soll nicht gesagt sein, dass ein völliger Umschwung eintreten wird. Vielmehr ist wohl eher anzunehmen, dass sich in der professionellen Geschichtsschreibung erneut ein besser balancierter Pluralismus etablieren wird und die Disziplin sich wieder mehr dem Brückenbau unter den einzelnen Genres widmen und die weiter oben geschilderte Sozial- und Kulturgeschichte „von unten“ mit ihren Verzweigungen ins Lokale und auf das handelnde Subjekt weniger dominierend sein wird als in den letzten 25 Jahren. Das dürfte erst recht für Ansätze gelten, die sich als transnational verstehen.

Anmerkungen:
0 Ich widme diesen Aufsatz dem Gedenken von Peter Borowsky.
1 Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt, 1871-1914, Göttingen 2004; Rezensionen in H-Soz-u-Kult: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=5492> und <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=5487>.
2 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 13. Oktober 2005 auf einer Gedenkfeier anlässlich des fünften Todestages des Hamburger Historikers und langjährigen Mitarbeiters von Fritz Fischer, Peter Borowsky, in Hamburg hielt. Aber nicht nur aus diesem Grunde wird seine Studie über die deutsche Ukrainepolitik im Ersten Weltkrieg unten besonders gewürdigt. Über Borowskys Verdienste als Mensch, Wissenschaftler und Lehrer ist auch in zwei Bänden nachzulesen: Hering, Rainer; Nicolaysen, Rainer (Hgg.), Zum Gedenken an Peter Borowsky, Hamburg 2003; Dies. (Hgg.), Lebendige Sozialgeschichte, Wiesbaden 2003. Für Kommentare und Verbesserungsvorschläge danke ich Rainer Hering, Helmut Bley, Barbara Vogel und David Blackbourn.
3 Vgl. etwa Berghahn, Volker R., Germany and the Approach of War in 1914, Basingstoke 1973, S. 196ff.
4 Eley, Geoff; Blackbourn, David, Mythen deutscher Geschichtschreibung, Frankfurt am Main 1980.
5 Blackbourn, David, Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze, in: Conrad, Osterhammel (Hgg.), Kaiserreich, S. 303.
6 Smith, Woodruff D., ‚Weltpolitik’ und ‚Lebensraum’, ebd., S. 29ff.
7 Bley, Helmut, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, 1894-1914, Hamburg 1968, Zitate ebd., S. 314.
8 Zimmerer, Jürgen; Zeller, Joachim (Hgg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 2003.
9 Hull, Isabel V., Absolute Destruction. Military Culture and Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005. Hull führt die deutsche Vernichtungspolitik allerdings weniger auf Rassismus als auf den Durchbruch von Kriegführungspraktiken zurück, die sie in der „militärischen Kultur“ der preußisch-deutschen Armee verankert.
10 Zit. in: Berghahn, Volker R., Der Tirpitz-Plan, Düsseldorf 1971, S. 600f.
11 Zit. in: Fischer, Fritz, Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969, S. 1.
12 Borowsky, Peter, Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderer Berücksichtung der Wirtschaftsfragen, Lübeck-Hamburg 1970, Zitate ebd., S. 295.
13 David Blackbourn in: Conrad, Osterhammel (Hgg.), Kaiserreich, S. 308f.
14 McKeown, Adam, Chinese Migrant Networks and Cultural Change. Peru, Chicago, Hawaii, 1900-1936, Chicago 2001.
15 Röhl, John C.G., Wilhelm II., Bd. I: München 1989; Bd. II: München 2001. Allerdings vertritt Röhl eine besonders stark auf die Person bezogene Position. Andere neuere Biografien, z.B. von Ulrich Herbert über Werner Best und Ian Kershaw über Hitler bemühen sich, Individuum und Umwelt ineinander zu integrieren.
16 Röhl, John C.G., Dreams and Nightmares. Writing the Biography of Kaiser Wilhelm II., unveröff. MS 2005, 6.

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