Forum: P. Haslinger / T. Tönsmeyer: Vom digitalen Umgang mit ediertem Grauen – forschungsethische Fragen

Von
Tatjana Tönsmeyer, Fachbereich A - Geschichte, Bergische Universität Wuppertal / Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI); Peter Haslinger, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

„Quellen- und Medienkritik: Brauchen wir das (noch)?“ steht als rhetorische Frage über dem aktuellen Forum zu den Historischen Grundwissenschaften. Die kurze Antwort lautet: Ja, und zwar in Zeiten digitaler Wissensvermittlung mehr denn je – nicht zuletzt deswegen, weil hier jene Materialien entstehen, die sehr bald schon für die zeit- und gegenwartshistorische Geschichtsschreibung der eben ablaufenden Entwicklungen Quellencharakter haben werden.

Das Problem gewinnt eine eigene Qualität, besieht man sich aktuelle Diskussionen um das Zeigen von Brutalität im Internet: Angesichts der Krisen der letzten Jahre wie der Nahostkrise, des Gaza-Kriegs, der Russland-Ukraine-Krise, der gegenwärtigen Flüchtlingskrise sowie den Gräueltaten und Attentaten des Islamischen Staates wird immer häufiger über die rechtlichen und medienethischen Grundlagen des Umgangs mit Gewalt und ihren Opfern diskutiert. Da die gate-keeper-Funktion der Qualitätsmedien inzwischen deutlich zurückgenommen erscheint und ihre Nutzung als ausschließliche oder „logische“ Informationskanäle offenbar immer weiter abnimmt, schaffen die neuen Medien und die Allgegenwärtigkeit sozialer Netzwerke inzwischen einen dynamisch erweiterten Aussageraum. Diese Gesamtentwicklung ist aus rechtlich-ethischer Sicht durchaus ambivalent – so geht die höhere Sensibilität für Persönlichkeitsrechte und eine in Teilen verbesserte Schutzgesetzgebung gleichzeitig mit sinkenden Hemmschwellen des öffentlichen Zeigens von Gewalt in Bereichen einher, in denen diese Gesetzgebung nicht oder nur mit Mühe greifen kann.

Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass durch die aktuelle digitale Revolution zwei Dynamiken ineinanderlaufen: Die Ikonisierung des Grauens bedingt eine neue Qualität der Voyeurisierung des Täterblicks. Die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Produzenten und Konsumenten von Information definiert in Zeiten des Internet das schwierige Feld zwischen medial vermittelter Augenzeugenschaft, individuell-subjektivistischen und politisch-manipulativen Zeigekontexten derzeit neu. So erhielt nach einer Meldung der faz.net vom 20. Oktober 2014 die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley im August 1,3 Millionen Klicks, was Renate Hackel-de Latour zur treffenden Bemerkung veranlasste: „Viele Betrachter reflektieren nicht, dass ihre Handlung das Opfer noch einmal zum Opfer macht.“1

Was bedeutet jedoch die Diskussion um eine Ethik des öffentlichen Zeigens von Taten, die die Gewalt und ihre Opfer sichtbar machen, für digitale historische Editionen? Müssen wir etwa die für Texte entwickelten Techniken der Anonymisierung einer heutigen Medienethik entsprechend auch auf historische visuelle Dokumente anwenden? Würde das in letzter Konsequenz bedeuten, dass Opferbilder von Weltkriegen oder Genoziden nur verpixelt oder verfremdet präsentiert werden können mit dem Ziel, die Würde und Anonymität der Opfer zu wahren?

Ediertes Grauen – wenn man sich heute zum Beispiel zeitnah entstandene Editionen zu den beiden Weltkriegen besieht, die das Kriegsgeschehen dokumentieren sollen, dann überrascht und schockiert zum Teil die Unbefangenheit, mit der hier menschliches Leid abgebildet ist. Es überrascht aber auch, dass in digital generierten Recherchen von Bildquellen zu den Kampfhandlungen eine ähnliche Direktheit zu verzeichnen ist, d.h. eine digitale Authentizität des Grauens, die uns ungefiltert zu Augenzeugen menschlichen Leidens werden lässt, das bis zu hundert Jahre zurückliegt. Medien- und quellenkritische Kompetenz, so ist daher zu fordern, muss somit auch für den Umgang mit dem edierten Grauen zumindest des (späten) 19. und 20. Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden, vor allem für die Epochen, für die neben visuellen auch auditive und audiovisuelle Quellen vorliegen. Diese Forderung schließt im Übrigen die adäquate Ausbildung Studierender explizit mit ein.

Im Folgenden möchten wir daher einige Fragen aufwerfen und Anregungen geben für eine Diskussion, die die Geschichtswissenschaft als Ganzes in Zukunft noch intensiv wird führen müssen. Editionen verstehen wir dabei jenseits der editionstechnischen Aspekte auch als potenzielle Erinnerungsspeicher und Referenzpunkte in einem erweiterten geschichtspolitischen Kommunikationsraum. Ein entsprechender Grundduktus müsste daher lauten, dass Editionen, auch wenn sie Gewalt, Grauen und Opferschicksale abbilden, sich den dokumentierten Vorfällen und gezeigten Personen gegenüber ethisch verhalten müssen. Mit anderen Worten: Sie sollten über die reinen Zeigefunktionen hinausgehen, vom Objektcharakter des Dokumentierten abweichen und eine reflektierte Relation zum Gezeigten einnehmen.

Im Unterschied zur aktuellen Medienberichterstattung kann in historischen Editionen zum Dokumentations- auch das Erinnerungsgebot treten. Die Bündelung von Aufmerksamkeit auf mögliche ikonische Dokumente kann die Opfer aus ihrer Anonymität holen und ihnen im buchstäblichen Sinne wieder ein Gesicht gaben. Wie gerade die facettenreiche Bilderinnerung an den Genozid an den Armeniern in diesem Jahr gezeigt hat, ist es ein Gebot der Stunde, quellen- und bildethische Techniken in Hinblick auf eine Korrektur oder vielleicht auch nur Reflexion des Vergessens, Verschweigens oder Verdrängens früherer Jahre zu entwickeln. Dabei ist es natürlich umso wichtiger, den eigenen Umgang mit diesem Abstandsgebot wie Motivation, Selektionskriterien und Zeigetechniken offenzulegen und entsprechend den Umgang mit dem edierten Material und die entsprechende Entscheidungen dicht zu beschreiben.

Dies alles ist an und für sich nichts Neues – und auch schon bisher der gültige Rahmen für wissenschaftlich gestütztes Edieren. In Hinblick auf die digitalen Editionen lässt sich jedoch mit Peter Haber fragen: „Gelten bei digitalen Quellen die gleichen Grundsätze der Quellenkritik, wie bei herkömmlichen Quellen? Lassen sich also die Grundsätze der Quellenkritik […] auch auf digitale Quellen anwenden? […] Wie lassen sich Manipulationen feststellen und wie die Entstehungsgeschichte eines digitalen Dokuments?“2 Gemeinsam mit Angelika Epple hat Peter Haber auch die Frage gestellt, ob das Internet die Rezipienten dazu verführt, sich gegenüber den im Netz ‚gefundenen‘ Fakten anders zu verhalten, als dies nach einer Schulung in Sachen Quellenkritik in traditionellen Medien der Fall wäre. „Es mag vielleicht keinen großen Unterschied ausmachen, ob eine Kamera digitale oder analoge Bilder der Wirklichkeit erzeugt. Was sich allerdings unterscheidet, ist die Haltung, mit der dem Internet oder digital erzeugten Wirklichkeiten begegnet wird. Die im Netz konstruierte Wirklichkeit wird zunehmend als die tatsächliche wahrgenommen. Die Digitalisierung trägt den Anschein des Offensichtlichen in sich.“3

Daher stellt sich gerade in Hinblick auf editorische Techniken die Frage, wie den Herausforderungen in den nächsten Jahren begegnet werden kann, die durch digitale Kommunikation und die qualitativ neue, da allzeitverfügbare Bilderwelt in den kommenden Jahren entstanden sind und weiterhin entstehen? Hier ist zunächst der vom Medienwandel ausgehende Wandel an Textualität zu reflektieren, den wir in Hinblick auf die Edition von Gewalt und Gewaltopfern in drei Aspektlinien fassen würden:

Laut Angelika Storrer können wir erstens Voraussagemöglichkeiten über Rezeptionszyklen kaum mehr in zuverlässiger Weise treffen. Bei der Hypertextrezeption sei die Abfolge, in der die Module rezipiert werden, so Storrer, bei jedem Nutzer anders und nicht vorherseh- oder planbar. Die Kohärenzplanung des Autors könne sich daher nur noch an Modulen orientieren, nicht aber über Modulgrenzen hinweg. Im Gegensatz zu physisch greifbaren Medien wie Büchern oder Zeitungen könnten Inhalte von Hypertextdokumenten immer nur in Sequenzen oder Ausschnitten, d.h. als Übereinander und Nebeneinander auf dem Bildschirm wahrgenommen werden, das Ganze bleibe hingegen unsichtbar. Und entsprechend könne auch die Grenze zwischen Dokumenten und Hypernetzen beim Lesen „schnell und ggf. unbemerkt“ überschritten werden.4 Dies deckt sich in gewisser Weise mit den Nutzungspraktiken bei Editionen – und birgt daher aus unserer Sicht auch Vorteile beim Aufbau archivischer Informationsstrukturen, da sich – laut Storrer – Module und Links eines Hypertextdokuments flexibel an Rezeptionssituationen und Nutzerprofile anpassen lassen. Das Potenzial von Hypertext liege nicht primär darin, Strukturen von Printmedien auf den Bildschirm zu übertragen, „sondern darin, einen auf individuelle Nutzerbedürfnisse hin zugeschnittenen Zugriff auf die Daten zu ermöglichen.“5

Dies leitet über zum zweiten Punkt, der zunächst auf eine editorische und kommunikationsorganisatorische Dimension verweist, in dem sich jedoch bei der Umsetzung recht schnell basale Fragen stellen, die gerade bei der Dokumentation und Bewertung von Gewaltformen forschungsethische Entscheidungen erfordern. Der Korpuslinguist Henning Lobin hat darauf hingewiesen, dass die Textproduktion in der Ära der Printmedien mit dem Druck und damit der Vervielfältigung identischer Kopien einen benennbaren Abschluss findet. Die Verarbeitung von digitalen Dokumenten lasse sich demgegenüber am adäquatesten als „document life cycle“ beschrieben, bei dem ein Ausgangsdokument immer wieder inhaltlich modifiziert, strukturell annotiert und an neue Anwendungsszenarien angepasst werden kann.6

Eine Chance zur vermehrten Nutzung, aber auch eine editorisch-ethische Risikozone bietet hierbei die verstärkte Einbindung mobiler Endgeräte, z.B. ihre Verknüpfung mit Geodiensten (und auch kommerziellen Angebote wie Google Maps) oder ihre Präsenz in den sozialen Netzwerken. Gerade an Täterorten oder Schauplätzen von massiver Gewalt stellt sich hier die Frage: Bieten über mobile Endgeräte verfügbare (und entsprechend in Struktur und visuellem Erscheinungsbild auf entsprechende Formate angepasste) Editionsportale eine nützliche Dienstleistung und didaktische Hilfestellung vor Ort – oder befördern sie vielmehr die Banalisierung des Grauens, etwa durch die Vermittlung eines gleichsam schaurigen Gefühls, gerade an einem authentischen Ort „da“ gewesen zu sein? Es bedarf unserer Meinung nach einer eigenen, auf neue Vernetzungs- und Wissensarchitekturen beständig neu ausgerichtete Begriffs- und Beschreibungsethik, etwa in Form von visuellen codes of conduct, die Logos, Farbensymbolik, Einbindung von Begleitmaterial und noch vieles andere mehr mit bedenken.

Dies bringt uns direkt zum dritten Fragekomplex, der eine ganze Reihe editions- und medienethischer Fragen aufwirft: Neu im Unterschied zu nicht-digitalen Editionen ist die Frage der Ausgestaltung von online-Editionen als Portale für sozial geteiltes Wissen. Dies betrifft die editorischen Einheiten ebenso wie ihre Sequenzierung zu Wissensbestandteilen, die Architekturen ihrer Hierarchisierung und Verknüpfung und die Entscheidung zur Anreicherung, Verlinkung und Semantisierung.

Folgt man an diesem Punkt Mario Glauert, dann reichen die im Web 2.0 möglichen neuen Partizipationsmöglichkeiten für Archive „vom Archiv-Blog über Wikis und Crowdsourcing-Projekte bis hin zum Findbuch 2.0“. All diese Formen gründen dabei auf der Idee, „den Benutzern ‚Raum‘ zu geben, Raum für Kommentare oder auch längere Diskussionen, für eigene Inhalte bis hin zur Präsentation eigener Sammlungen und ‚Archive‘, […] – all dies verbunden mit der Möglichkeit, diese Informationen auszutauschen, zu teilen, zu bewerten und wiederum zu ergänzen.“ Der Nutzer werde daher, so Glauert, selbst zum aktiven Co-Produzenten von Inhalten.7

Ediertes Grauen lässt sich jedoch nicht auf dieselbe Weise gestalten und verwalten wie viele herkömmliche Portale, die auf dem citizen science -Grundsatz beruhen. Es ist unter quellenethischen Gesichtspunkten schwer vorstellbar, offenes crowd sourcing zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs oder gar zum Holocaust in ein Wissensportal einzubeziehen. Jede Art von kollaborativem Arbeiten (wie z.B. das an und für sich harmlos erscheinende social bookmarking8) bedarf nicht nur einer Personalisierung des Teilnehmerkreises und redaktioneller Zugriffsmöglichkeiten, sie bedarf auch eigener Methoden, um ethischen Vandalismus im Bereich entsprechender Angebote nicht nur erkennen, sondern auch adäquat darauf reagieren zu können. Besonders dringlich wäre hier unserer Einschätzung nach auch ein möglichst aktiver Beitrag von Archiven und Sammlungen, um ethische wie rechtliche und erinnerungskulturelle Fragen der electronic literacy angemessen und proaktiv adressieren zu können.

Gerade professionell erstellten Editionen sollte es nicht schwerfallen, aus ihrer dichten Kenntnis des eigenen Materials heraus entsprechende Hilfestellungen oder Warnhinweise zu entwickeln. Auch wäre es ihre Aufgabe, an dafür besonders geeigneten Beständen und Einzelbeispielen exemplarisch zu verdeutlichen, welche Irrtümer, Fehldeutungen und nicht intendierte Folgewahrnehmungen durch schlecht eingebundene Bildquellen entstehen können. Referenzprojekte könnten auch der Tendenz entgegenwirken, dass das Internet vor allem als Steinbruch für visuelle Quellen Verwendung findet, deren illustrativer Gebrauchswert zwar hoch, der Kontextualisierungsgrad und das Entstehung- und Einsatzwissen jedoch gering ist.

Die Entwicklung in den Digital Humanities folgt – in Anlehnung an Markus Krajewski in diesem Forum – nicht selten einer Logik des „Einfach-mal-auf-den-Scanner-Legen-irgendwer-wird-es-schon-brauchen-in-den-nächsten-100-Jahren“.9 Gerade beim Edieren von Gewalt und beim medialen Zeigen ihrer Opfer sollte jedoch bedacht werden, dass nicht alles, was technisch möglich, auch ethisch, quellenkritisch und historiographisch sinnvoll sowie geboten ist. Die quellen- und medienkritische Kompetenz in den Historischen Grundwissenschaften wie den einzelnen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaften zu stärken, ist daher ein Gebot der Stunde, denn erst ein methodisch reflektierter und damit ständig erweiterter Zugang, der die Bildlichkeit von Quellen ebenso in das Zentrum der Überlegungen stellt wie die neuen Logiken des Digitalen, beugt dem oft gemachten Fehler vor, dass das gezeigte Grauen in der Bildsprache der Täter ediert und damit auch unwillkürlich erneut reproduziert wird.

Eine Übersicht über alle Beiträge des Diskussionsforums finden Sie hier: <http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890>.

Anmerkungen:
1 Renate Hackel-de Latour, Bildethik im Fadenkreuz, in: Communicatio socialis. Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft 47,4 (2014), S. 400–401, <http://ejournal.communicatio-socialis.de/index.php/cc/article/view/839/837, 31.12.2014> (10.11.2015).
2 Peter Haber, digital.past – Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, in: Heiner Schmitt (Hrsg.), Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung – Erschließung – Präsentation, Neustadt a. d. Aisch 2010, S. 19–26, hier S. 20.
3 Angelika Epple / Peter Haber, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil des Internets für die historische Erkenntnis, in: Geschichte und Informatik 15 (2004), S. 5–8, hier S. 6.
4 Angelika Storrer, Text und Hypertext, in: Lothar Lemnitzer / Henning Lobin (Hrsg.), Texttechnologie, Tübingen 2004, S. 13–50, hier S. 35f.
5 Storrer, Text und Hypertext, S. 27.
6 Henning Lobin, Service-Handbücher – Linguistische Aspekte im Document-Lifecycle, in: Gerd Richter / Jörg Riecke / Britt-Marie Schuster (Hrsg.), Raum, Zeit, Medium – Sprache und ihre Determinanten. Festschrift für Hans Ramge, Darmstadt 2000, S. 791–808.
7 Mario Glauert, Archiv 2.0. Vom Aufbruch der Archive zu ihren Nutzern, in: Heiner Schmitt (Hrsg.), Archive im digitalen Zeitalter S. 43–54, hier S. 47.
8 Vgl. etwa den entsprechenden Befund bei Manfred Thaller, Historische Datenbanken. Vorteile und Probleme, in: Geschichte und Informatik 11 (2000), S. 7–24.
9 Markus Krajewski: Programmieren als Kulturtechnik, in: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=29012901> (02.12.2015).