Historikertag 2021: Globalgeschichte

Von
Stefan Seefelder, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Besprochene Sektionen

Umstrittene „Globalisierung“. Die Durchsetzung von Verflechtungsdiagnosen in der westlichen Politik seit den 1970er Jahren

Antikoloniale Befreiungskämpfe im kurzen 20. Jahrhundert in globalhistorischer Perspektive

Contested Visions of Europe in Israeli History

Opferkonkurrenzen in Erinnerungskulturen. Deutschland, Israel, Japan, Südkorea

Unter dem Motto „Deutungskämpfe“ fanden sich auf dem diesjährigen Historikertag, der unter dem Eindruck der Corona-Pandemie zum großen Teil online abgehalten wurde, eine große Bandbreite an Sektionen, die vielfältige Zugriffe auf den Themenkomplex der Globalgeschichte boten. Angesichts der Fülle an Vorträgen, die Schlaglichter auf wohlbekannte Konzepte wie Verflechtung, Antikolonialismus, transnationale Beziehungen, Globalisierung und (National-)Staatlichkeit warfen, erscheint der Begriff der – kulturellen – Deutungskämpfe als ideale inhaltliche Klammer, unter der die Debatten subsummiert werden können. Insbesondere die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wandlungs- und Aushandlungsprozesse, die durch kulturhistorisch entscheidende Deutungskämpfe in ganz unterschiedlichen Formen hervorgebracht wurden, und ihre Rückwirkung auf die beteiligten Akteure prägten den Tenor der Sektionen. Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern widmet sich ausgewählten Sektionen und Panels aus der Zeitgeschichte, die globalhistorischen Fragestellungen nachgingen.

Wie sich Verflechtungsdiagnosen im Spannungsfeld zwischen den Konzepten der Interdependenz und der Globalisierung vom Ende des 19. Jahrhunderts an entwickelt hatten und schließlich selbst zu historischen Denkfiguren geworden seien, fragte die von JAN ECKEL (Freiburg) organisierte Sektion, die sich insbesondere der Transformation des Verflechtungsdenkens ab den 1970er-Jahren widmete. In seinen einleitenden Worten betonte Eckel die Bedeutung von Verflechtungsdiagnosen für die zeitgenössische Selbstverständigung über Veränderungen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur, die wiederum zur Aneignung, Deutung und Einordnung dieser Wandlungsprozesse aufgegriffen worden seien. Angesichts dieses Befundes sei es geboten, Vorstellungen großräumiger Verflechtungen in der jüngsten Zeitgeschichte als historische Denkfiguren zu erschließen, die großen Diskurszusammenhänge der Interdependenz und der Globalisierung aufeinander zu beziehen sowie den Zusammenhang zwischen Verflechtungsdiagnosen und politischem Handeln im Westen näher zu beleuchten. Diese theoretische Annäherung soll gleichzeitig den analytischen Rahmen des vorliegenden Beitrags bilden, um die diversen globalgeschichtlichen Deutungskämpfe in ihrer Breite erfassen und einordnen zu können.

MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) griff anschließend den Umbruch in der Sicht auf globale Verflechtungen in den 1970er-Jahren auf, der am Beispiel der Ölkrise 1973 und den anschließenden Debatten über eine neue Weltwirtschaftsordnung eine neue Verflechtung von Gegenwartsdiagnosen aus den Sozialwissenschaften und politische Entwicklungen hervorgebracht habe. Das Konzept des „hochmodernen Interdependenzdenkens“, das von Soziolog:innen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als evolutionärer Prozess der Ausdifferenzierung hin zu einer Weltgemeinschaft verstanden worden sei, sei in den 1960er-Jahren durch die Zunahme von Waren- und Kapitaltransfers und dem neuen Konzept des „globalen Markts“ abgelöst worden, der von multinationalen Konzernen abseits politischer Kontrolle bestimmt worden sei. Zweitens seien etablierte Theorien und Begriffe in den Sozialwissenschaften obsolet geworden und durch neue Perspektiven abgelöst worden. Drittens habe die Entspannung zwischen Ost und West seit den 1970er-Jahren dazu beigetragen, die Politik komplexer und multipolarer zu machen und damit das Ende der Nachkriegszeit eingeläutet. Nach 1973 seien allerdings heftige Deutungskämpfe darüber entbrannt, wie mit den Ländern des globalen Südens umgegangen werden soll, die nach wie vor in Abhängigkeitsverhältnissen zu den ehemaligen Metropolen befanden. Die USA als Garant der bisherigen Weltwirtschaftsordnung hätten angesichts der neuen globalen Rahmenbedingungen versucht, die neuen Akteure aus der Politik fernzuhalten, die Nord-Süd-Beziehungen zu stärken und die Koordination der globalen Verflechtung zu steuern, wenn auch mit ambivalentem Erfolg.

Im Zeichen des außenpolitischen Deutungskampfs der USA stand auch der Vortrag von ARIANE LEENDERTZ (München), in dem sie sich den Anpassungsstrategien verschiedener Akteure zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung von den 1970er-Jahren bis 1990 widmete. Die Diagnose eines neuen, multipolaren Zeitalters habe im Council on Foreign Relations zur Etablierung des „1980s Project“ geführt, dessen Ziel es gewesen sei, die verflochtene Weltordnung trotz des Ansehensverlusts durch den Vietnamkrieg und dem Ende des Bretton-Woods-Systems im Interesse der USA zu prägen. Für die Arbeit des Projects seien zwei Befunde zentral gewesen: Einerseits sei eine Vertiefung der internationalen Kooperation notwendig, um die globale Situation zu stabilisieren und durch Organisationen wie die OSZE im westlichen Sinn zu beeinflussen. Andererseits seien die Entwicklungen zu Beginn der 1970er-Jahre, die zunächst als Belastung des außenpolitischen Gestaltungsspielraums wahrgenommen worden seien, zu einer Machtressource geworden, da nun neue, asymmetrische Interdependenzverhältnisse strategisch als Druckmittel zur Entwicklung einer Global Governance im institutionellen Rahmen herangezogen worden seien. Derartige Institutionen, wie der IWF, seien ab den 1980er-Jahren dann als Hebel benutzt worden, um die „Reagonomics“ im globalen Rahmen durchzusetzen und beispielsweise die Öffnung für ausländische Investitionen oder die Privatisierungen von Staatsunternehmen durchzusetzen. Der Washington Consensus von 1990 habe schließlich, als Reaktion auf die Globalisierung gering regulierter Märkte, die Gestaltung der internationalen Wirtschaft unter neoliberalen Vorzeichen durch die USA zementiert.

LUKAS HEZEL (Mannheim) untersuchte die inhaltlichen Wandlungsprozesse innerhalb der internationalistischen Linken im Spannungsfeld zwischen Antiimperialismus und Globalisierungskritik. Nach 1968 hätten sich der Nationalstaat und nationale Befreiungsbewegungen als Hauptakteure bei der Hoffnung auf die Weltrevolution und Deutungsmuster des territorialen Imperialismus etabliert, seien in den 1980er-Jahren aber von anderen Ordnungsvorstellungen abgelöst worden. Angesichts des zunehmend global agierenden Kapitals, dem ein ebenso „ortloses Proletariat“ entgegenstehe, sei das revolutionäre Projekt von ehemals nationalstaatlich verankerten Konzepten wie national strukturierten Klassen und dem Verhältnis von Metropole zu Peripherie abgerückt und unter dem Schlagwort der „globalen Zivilgesellschaft“ dazu übergegangen, globale Lösungen im Kampf gegen das transnationale Kapital zu finden. Seit der Finanzkrise von 2008 sei allerdings ein gegenteiliger Effekt zu beobachten, der sich in einer Renationalisierung von Krisenreaktionen, Protesten beispielsweise gegen die EU oder der Einführung protektionistischer Wirtschaftsmaßnahmen niederschlage.

JANNES JAEGER (Tübingen) beleuchtete im Anschluss den Begriff der Globalisierung als Grundlage sozialstaatlicher Reformen in Deutschland und Großbritannien am Ende der 1990er-Jahre. Die regierenden SPD- und Labour-Regierungen seien demnach von den bisherigen Grundsätzen des Sozialstaats abgerückt, da die Globalisierung als einflussreiche „postideologische“ Theorie eine diskursive Leerstelle besetzt und frühere Theorien damit obsolet gemacht habe. Konkret seien beispielsweise der Reformstau der Kohl-Regierung oder der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit den 1970er-Jahren herangezogen worden, um „notwendige Modernisierungen“ herbeizuführen, die als Reaktion auf die empfundene Bedrohung durch die Globalisierung eine Kürzung sozialstaatlicher Maßnahmen unumgänglich gemacht hätten. Als allumfassende sozialwissenschaftliche Gegenwartsdiagnose habe der Begriff der Globalisierung damit eine politische Wirkmacht entfaltet, die allerdings zur Überdeckung der komplexen ökonomischen Situation benutzt worden sei.

Den Deutungskämpfen, die im Umgang der (westlichen) Geschichtswissenschaft mit dem globalen Süden ausgetragen werden und wurden, widmete sich die Sektion von Eric Burton (Innsbruck) und Clemens Pfeffer (Wien). In dieser Sektion konnte anhand der Untersuchung antikolonialer Befreiungskämpfe im „kurzen 20. Jahrhundert“ die historische Perspektive herausgearbeitet werden, die den Antikolonialismus durchaus zu einem globalen Projekt machte. CHRISTOPH KALTER (Kristiansand) moderierte die Sektion mit dem Befund an, dass die historische Forschung zum transnationalen antikolonialen Widerstand im 20. Jahrhundert in den vergangenen zwanzig Jahren Verschiebungen zeitlicher und räumlicher Natur erfahren habe. Insbesondere die Rückverschiebung von 1968 bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und das Interesse an der „Zweiten Welt“ und Süd-Süd-Netzwerken seien Desiderate der aktuellen Forschung.

CLEMENS PFEFFER ging anschließend im ersten Beitrag auf das Verhältnis zwischen kommunistischen Akteuren und der pazifistischen Bewegung ein, die in der Weimarer Republik zwar nur geringe politische Schnittmengen aufwiesen, aber dennoch aus unterschiedlichen Gründen in der Frage des Antikolonialismus teilweise Übereinstimmungen zeigten. Angetrieben durch die Ereignisse während des Rifkriegs 1925 und den Aufschwung kolonialrevisionistischer Positionen in Politik und Gesellschaft seien Teile der Friedensbewegung zu radikalen Antikolonialist:innen geworden. Unter Bezugnahme auf die Ideale der Französischen Revolution sei der Antikolonialismus der Pazifist:innen mit dem moralischen Argument des gerechten Kampfs für die Freiheit begründet worden. Ihnen gegenüber hätte jedoch der Großteil der im Friedenskartell organisierten Pazifist:innen gestanden, der kolonialreformerische Ansätze verfolgt habe und dabei auf die veränderte Kolonialpolitik des Völkerbunds, die Möglichkeit der „Erziehung“ der Kolonisierten und die Möglichkeit, die Kolonialherrschaft im Sinn der Kolonisierten zu gestalten, verwiesen habe. Trotz der politischen Distanz sei es den antikolonialen Pazifist:innen gelungen, die vormals kommunistischen Positionen in nicht-kommunistische gesellschaftliche Bereiche hineinzutragen und einen antikolonialen Diskurs im Friedenskartell zu öffnen.

Einen besonderen Fall antikolonialer Praktiken stellte im Anschluss ERIC BURTON vor, der über die „frontline citizenship“ in Tansania zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren referierte. Die so bezeichneten Personen hätten Tansania an „vorderster Front“ des regionalen wie auch transnationalen antikolonialen Kampfes positioniert und die politische Kultur des Panafrikanismus entscheidend vorangetrieben. Im Vergleich zu zivilgesellschaftlich und staatlich induzierten Formen antiimperialistischer Solidarität in anderen postkolonialen und westlichen Gesellschaften sei das Zusammenwirken dreier Ebenen spezifisch für die Herausbildung der „frontline citizens“ gewesen: „Von außen“, beispielsweise durch die Rekrutierung von Fachpersonal aus anderen Ländern oder Demonstrationen für die Ziele des ANC in Südafrika. „Von oben“ durch Maßnahmen des tansanischen Einparteien-Staats, wie der Etablierung des paramilitärischen National Service oder der Implementierung politischer Unterweisungen im Bildungssystem. „Von unten“ durch materielle Zuwendungen für Waffenkäufe in anderen Ländern, Blutspenden oder freiwillige Einsätze von Tansaniern. Entlang dieser drei Achsen sei die „frontline citizenship“ gleichzeitig als nationale und transnationale Ko-Produktion einer spezifischen politischen Subjektivität entstanden, deren Befreiungsrhetorik auch als Legitimierung des Ujamaa-Experiments gedient habe.

Im anschließenden Kommentar von JOSEPH BEN PRESTEL (Berlin) und der Diskussion über die Vorträge wurden anlehnend an die Einleitung drei ineinander verwobene Themenkomplexe debattiert, die den analytischen Rahmen für die Vorträge bildeten: Periodisierung, Praktiken, Ideen und Inhalte. Die Frage, in welchem Verhältnis globale strukturelle Veränderungen zu einzelnen Ereignissen stehen, wurde anhand der Tendenz, antikoloniale Befreiungskämpfe in einem „Rise-Fall-Narrativ“ zu periodisieren, dem der Begriff der Rekonfiguration gegenüberstehe, diskutiert. Bei der Diskussion antikolonialer Praktiken stelle sich die Frage, inwiefern die Praktiken die Inhalte beeinflusst haben, da beispielsweise zwischen den relativ eingehegten antikolonialen Kongressen in den 1920er-Jahren und der Teilnahme an bewaffneten Kämpfen in den 1960er-Jahren eine erhebliche Diskrepanz bestehe. Schließlich sei daran anknüpfend die verbindende Klammer zwischen den unterschiedlichen antikolonialen Ansätzen zu untersuchen, da sich immer wieder Deutungskämpfe im Hinblick auf Begriffsbestimmungen des Kolonialismus, westliche antikoloniale Philosophien und panafrikanische Konzepte entwickelt hätten.

Im weiteren Sinn antikolonialen Deutungskämpfen widmete sich auch die Sektion von Daniel Mahla (München) zum Thema „Contested Visions of Europe in Israeli History“, deren Teilnehmer:innen der Frage nachgingen, wie kulturelle und politische Einflüsse aus Europa in Israel rezipiert wurden und wie sich israelische Vorstellungen über die europäische Kultur und der damit verknüpfte Diskurs in der Zeit ab den 1950er-Jahren verändert hatten.

ORIT ROZIN (Tel Aviv) untersuchte anhand der Abschaffung der Todesstrafe in Israel, wie die Suche nach einer eigenen Identität ab 1948 in der Rechtsprechung zu einer Hinwendung nach Europa geführt habe. So sei die prowestliche Ausrichtung Israels eine Konsequenz der tiefen Verankerung des zionistischen kulturellen Erbes gewesen, das in Verbindung mit dem aus der Kolonialzeit hervorgegangenen britischen Rechtswesen die israelische Gesetzgebung häufig auch zu einem identitätsstiftenden Projekt gemacht habe. Insbesondere die Debatten um die Abschaffung der Todesstrafe, die bis 1954 für Kriminelle, aber auch Spione und politische Häftlinge im Kontext des „Prevention of Infiltration Law“ verhängt worden sei, sei zum Markstein der neuen israelischen Identität und der damit verbundenen Sichtweisen auf Europa verbunden gewesen. Gegner der Todesstrafe hätten sich demnach vor allem auf die progressiven europäischen Staaten bezogen, die die entsprechenden Gesetze bereits abgeschafft hatten, während Befürworter einen kolonialen Standpunkt eingenommen hätten, der die vom „Prevention of Infiltration Law“ hauptsächlich betroffenen Araber als unzivilisiert dargestellt und damit ihren Schutz vor der Todesstrafe als ungerechtfertigt empfunden hätte.

JENNY HESTERMANN (Heidelberg) diskutierte die Frage nach dem Zusammenhang zwischen israelischer Identität und den europäischen Einflüssen zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren im Spannungsfeld von Geographie und Kultur. So sei Israel im zionistischen und später israelischen Diskurs als europäisches Land wahrgenommen worden, das allerdings nicht in Europa liege. Die positive Entwicklung Europas in den 1950er-Jahren und die gleichzeitige Erinnerung an den Holocaust habe dazu beigetragen, Europa einerseits als Verkörperung von Modernität, Humanität und Zivilisation zu betrachten, andererseits als Beispiel für das Scheitern dieser Werte. Die Diskurse über Europa seien Marker für einen „jewish orientalism“ gewesen, der sich in der Selbstwahrnehmung als Europäer und der Glorifizierung des Kontinents niedergeschlagen habe.

Den Opfern von staatlicher Gewalt und Kolonialherrschaft im 20. Jahrhundert widmete sich die Sektion unter der Leitung von MANFRED HETTLING (Halle an der Saale), die sich anhand der Debatten um Opferkonkurrenzen in Deutschland, Israel, Südkorea und Japan den Strukturen von Deutungskämpfen innerhalb von Vergangenheitsdebatten widmete. Die problematische, weil unscharfe Definition des Opferbegriffs schlage sich global in divergenten Gedenkkulturen nieder, die im Spannungsfeld zwischen Heroisierung („Opfer für“) und Viktimisierung („Opfer von“), den politischen Implikationen und den Bezügen zum Nationalstaat eine Bewertung im jeweiligen nationalstaatlichen Erinnerungshaushalt ambivalent machten. In Deutschland sei die opferzentrierte Erinnerungskultur mit einer kathartischen Funktion verbunden, und der Holocaust biete eine globale Identitätsfigur, anhand derer eine Verortung von Gewaltdimensionen stattfinden könne und die für die Selbstzuschreibungen von Überlebenden wichtig sei.

MAOZ AZARYAHU (Haifa) bezog sich im ersten Vortrag über das „Nation Narrative“ Israels auf die verschiedenen Sichtweisen auf Opfer und die Verknüpfung des Opfer-Status mit zionistischen und religiösen Konzepten. Der Kampf „Gut gegen Böse“ sei ein Narrativ, das Staaten verwendeten, um die „moralische Matrix“, innerhalb derer die Deutung und Differenzierung von Opfern und Märtyrern stattfinde, zu definieren. Im zionistischen Diskurs seien Menschen, die durch Selbstopfer und als Opfer von Verfolgungen gelitten haben, als jüdische Märtyrer betrachtet worden, da sie durch passiven Widerstand den Opferstatus verloren hätten. Nach dem Holocaust habe sich der passive Widerstand zum zentralen Kriterium für Heroismus entwickelt, wobei allerdings eine Konkurrenz zwischen zivilen und militärischen Opfern entstanden sei. Im Kontext der Debatten über die Opfer terroristischer Attentate seien beispielsweise zivile Tote schlicht als Opfer definiert worden, während die Soldaten, die dabei getötet wurden, jedoch als Helden stilisiert worden seien. Umgekehrt seien aus arabischer Sicht diejenigen, die beispielsweise von israelischen Soldaten getötet wurden, grundsätzlich als Märtyrer zu betrachten, weshalb hier ganz andere Bewertungskriterien für den Opferstatus eine Rolle spielten.

Im Beitrag von ATSUKO KAWAKITA (Tokyo) spielte die Frage der japanischen Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg die zentrale Rolle. Der Krieg werde, so Kawakita, in Japan nur aus der Opferperspektive dargestellt, während die eigene Täterschaft verharmlost oder verschwiegen werde. Als „Opfer von“ sei die Erinnerung an die Atombombenabwürfe zentral, ebenso wie die erzwungene Repatriierung von Japaner:innen durch die UdSSR nach der Niederlage in der Mandschurei, die häufig mit sexueller Gewalt einhergegangen sei. Daneben gebe es in der offiziellen Erinnerungskultur Gedenkorte wie den Yasukuni-Schrein, in dem – als „Opfer für“ – den Staat gefallene Personen als Götter verehrt würden, was seit den 1990er-Jahren zwar politisch heikel sei, aber dennoch praktiziert werde. Andere, nichtreligiöse und nichtpolitische Stätten, wie der Kriegsfriedhof Chidorigafuchi seien dagegen in der Öffentlichkeit kaum rezipiert worden. Nach dem Krieg habe der Begriff des Friedens dann in Verbindung mit dem Fokus auf die Erinnerung als „Opfer von“ zu einer starken Abstrahierung des Opfer- und Täterbegriffs geführt, die bis heute nachwirke.

HO-KEUN CHOI (Seoul) befasste sich mit der Veränderung der südkoreanischen Gedenkkultur nach 1945 und untersuchte insbesondere die graduelle Erweiterung und Differenzierung der Opferkategorien. Die traumatische Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft, bei der die gesamte Nation zum Opfer geworden sei, sei ab 1945 zur Grundlage der koreanischen Gedenkkultur geworden. Im Koreakrieg habe diese Perspektive eine Differenzierung erfahren, und der Opferstatus habe eine politische Komponente bekommen, der sich in der nun zentralen Erinnerung an gefallene koreanische und UN-Soldaten im Kampf gegen den Kommunismus niedergeschlagen habe. Nach der Militärdiktatur 1961-1987 sei es abermals zu einer Erweiterung und Differenzierung des Opferbegriffs gekommen, der nun auch Opfer illegaler Staatsgewalt, US-amerikanischer Kriegsverbrechen und Geflüchtete miteinbezogen habe. Der Kampf um die Anerkennung dieser Opfer, die während der Diktatur häufig auch Täter gewesen seien, sei ein Katalysator für die Entstehung einer Gedenkkultur „von unten“ gewesen. Als grundlegende Tendenz lasse sich feststellen, dass sich nach 1945 die Aufmerksamkeit weg von den Opfern zwischenstaatlicher Konflikte hin zu den Opfern innerhalb Koreas gewandt habe, was durch die Demokratisierung und damit abnehmende Loyalität gegenüber dem Staat erklärt werden könne. Heutzutage herrsche demnach eine Ambivalenz zwischen der Aufrechterhaltung des nationalen Opferbewusstseins, beispielsweise in Form der Erinnerung an die „Trostfrauen“ und des zunehmenden Bewusstseins für eigene Täterschaften im Korea- und Vietnamkrieg.

In der abschließenden Diskussion stand die Frage im Mittelpunkt, ob die „Matrix des Holocausts“ kategorial für andere Erinnerungen angemessen sei. Der moralische Wunsch nach einem Abschluss, der in Deutschland durch Reparationen zu erfüllen versucht wurde, sei beispielsweise Japan oder Korea nicht leicht umzusetzen, da die Abgrenzung zwischen Tätern und Opfern nicht eindeutig sei. Der Begriff des „victimhood nationalism“ sei am ehesten für Kolonialherrschaften anzuwenden, da eine traumatische kollektive Emotion zwar in allen Ländern zu finden sei, diese aber nicht mit dem spezifischen Schicksal ganzer Nationen gleichzusetzen sei. Die abschließende Feststellung, dass die Erinnerung an Opfer ein schwieriges analytisches Problem bleiben werde, da die Opferdefinition immer politisch sei, beendete die Sektion.

Die hier besprochenen Sektionen des diesjährigen Historikertags exemplifizierten nicht nur das Motto „Deutungskämpfe“, sondern warfen Schlaglichter auf explizit antikoloniale Deutungskämpfe, deren globale Dimensionen, transnationale Perspektiven und begriffsgeschichtliche Paradigmenwechsel aufgezeigt wurden. Die Ebenen der Untersuchung erstreckten sich dabei vom globalen bis zum lokalen Level, wobei der zeitliche Schwerpunkt nicht zufällig überwiegend auf den 1950er- bis 1970er-Jahren lag. Denn die Entwicklungen in diesen beiden Dekaden markierten durch das Ende der europäischen geopolitischen Dominanz, die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten und die zunehmende Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Aushandlungsprozesse eine Zeitenwende, die fundamental für das Verständnis globaler Transformationsprozesse bis in die heutige Zeit waren. Die globalgeschichtlichen Vorträge des Historikertags 2021 lassen sich allerdings auch unter dem Vorzeichen der Abkehr von den „großen“ Linien der Untersuchung von Verflechtungen lesen, an deren Stelle stattdessen neue Diskurse über die Fluidität verflochtener kulturhistorischer Prozesse getreten sind: Die Frage, wie Akteure auf der Mikroebene durch globale Prozesse eine kulturelle Beeinflussung erfahren, oder aber die Analyse von Rückkopplungen großer Entwicklungslinien auf institutionelle Akteure und deren Funktion und Rolle in der Konstitution kultureller Umbrüche waren hierbei zentrale Untersuchungsgegenstände. Sei es der Zusammenhang zwischen der europäisch geprägten Identität und der Abschaffung der Todesstrafe in Israel, der kulturell bedingte Wandel im Umgang mit Opfernarrativen und -konkurrenzen in Japan und Südkorea, oder aber der spezifische kulturelle Hintergrund antikolonialer Befreiungsbewegungen – die globalgeschichtliche Sektion des Historikertags 2021 stand im Zeichen der kulturellen Deutungskämpfe und ihrer Konsequenzen.