Von
Frank Görne, Professur für Alte Geschichte, JLU Gießen

Besprochene Sektionen:

Topos, Anekdote und Legende: Wandernde Texte und ihre Deutung

Frieden – Macht – Konflikt. Friedensdiskurse in antiken Gesellschaften

Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation: Gerüchte, Leumund und üble Nachrede im klassischen Athen

Dezentrierte Antike? Zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung von Städten und Regionen Ostroms in der Spätantike

Deutungskämpfe um die antike Divination im Spiegel spätrepublikanischer und kaiserzeitlicher Texte

Lokale Deutungshoheit im antiken Griechenland

Historiker:innen sind bei der Ausübung ihrer Profession unablässig mit Deutungen aus vergangenen Zeiten konfrontiert, denn das „Deuten“ der eigenen Gegenwart gehört, neben dem „Verstehen“ der Vergangenheit und dem „Erwarten“ der Zukunft, zu den Grundvoraussetzungen des menschlichen Geschichtsbewusstseins.1 Wenn Deutungen sich unterscheiden oder gar widersprechen, bleibt es nicht aus, dass die beteiligten Akteure bisweilen miteinander um die Deutungshoheit ringen. Solche Konflikte werden vor allem in der historischen Diskursanalyse als „Deutungskämpfe“ bezeichnet. Sie erscheinen als allgegenwärtiges Phänomen. Weil nämlich „Wirklichkeit [...] gedeutet, nicht ‚erkannt‘“ würde, gebe es „immer einen Streit um Wahrheit, um die Geltung von Normen, Werten, Gültigkeiten“.2 Insbesondere wenn von der „korrekten“ Deutung elementare Fragen der Gerechtigkeit und Teilhabe abhängen, haben solche „Kämpfe“ das Potenzial sich so sehr zu steigern, dass Gemeinschaften nachhaltig von ihnen geprägt werden. So wurde bekanntlich im Griechenland klassischer Zeit die Frage diskutiert, ob die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit oder nur ihr materiell überlegener Teil zur Herstellung politischer Entscheidungen befähigt sei; eine Frage, die die Akteure nicht selten mit blutigen Bürgerkriegen zu entscheiden suchten. Im republikanischen Rom führte der gewaltsame Tod des umstrittenen Volkstribunen Tiberius Sempronius Gracchus im Jahr 133 v.Chr. zu zwei völlig entgegengesetzten Deutungen, die das Denken und Handeln der Akteure noch im Folgejahrhundert stark beeinflussten. Sind die beiden genannten Beispiele im Verhältnis noch gut dokumentiert, so führt die Tatsache, dass ein Großteil der literarischen Produktion der Antike unwiederbringlich verloren ist, zu einem grundlegenden Problem: die strittigen Diskurse und die in ihnen sich zeigenden „Deutungskämpfe“ sind in der antiken Literatur häufig nur noch grob fassbar, weshalb die beteiligten „Streitparteien“ nicht selten ungleich oder aber nur lückenhaft „zu Wort“ kommen. Die Analyse ist also in vielen Fällen erschwert und nötigt zu kreativen Lösungsansätzen. Die Althistoriker:innen, die an den zu besprechenden Sektionen beteiligt waren, haben eine ganze Reihe solcher Ansätze erfolgreich zur Anwendung gebracht.

In der ersten althistorischen Sektion „Topos, Anekdote und Legende: Wandernde Texte und ihre Deutung“ unter der Leitung von Alexander Free (München) stand eine spannende methodische Frage zur Diskussion: Inwieweit können kürzere Erzählungen, deren ursprüngliche Entstehungsgeschichte und Autorschaft sich nicht mehr rekonstruieren lassen, die aber in der antiken Literatur zirkulierten und wie Bausteine innerhalb größerer Erzählzusammenhänge eingefügt worden sind, für die althistorische Forschung nutzbar gemacht werden?

HENRY HEITMANN-GORDON (München) widmete sich mit der Anekdote der Narration von Einzelereignissen, die mit bestimmten historischen Persönlichkeiten verbunden werden. Aufgrund ihrer Kontextarmut ließen sich diese Erzählungen jedoch leicht auch auf andere Persönlichkeiten übertragen, wie er an zwei Beispielen aus Plutarchs Vita des Demetrios Poliorketes demonstrierte, die bereits zu früheren Zeiten Verwendung fanden. Statt jedoch diese „Wanderanekdoten“ als rein literarische Produkte zu betrachten, interpretierte Heitmann-Gordon diese mit Hilfe literaturtheoretischer Axiome des New Historism. Sie enthielten einen „touch of the real“3 und gäben damit Aufschluss über historische Deutungskämpfe im frühen Hellenismus, in denen die Zeitgenossen versuchten, die Kontingenz einer sich rasch verändernden Gegenwart zu bewältigen.

Inwieweit der historische Realitätsbezug von Topoi in der antiken Literatur noch überprüfbar ist, untersuchte MICHAEL ZERJADKE (Hamburg) am Beispiel des römischen Germanenbildes. Dazu differenzierte er zunächst zwischen drei grundlegenden Toposarten: Topoi über dingliche Merkmale, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften, die jeweils über eine instrumentelle (Wertungen und Begründungen) und eine inhaltliche Komponente verfügten. Die inhaltliche Komponente könne mit Hilfe von ethnographischen und archäologischen Arbeiten überprüft werden, wie er dann anhand fünf exemplarischer Beispiele bekannter Germanen-Topoi vorführte.

Der pseudo-epigraphische Briefwechsel zwischen Jesus und König Abgar V. Ukkama von Edessa stand im Zentrum des Vortrages von ALEXANDER FREE, dem die Frage zugrunde lag, warum die „Abgar-Legende“, deren Echtheit innerhalb der Forschung inzwischen als ausgeschlossen gilt, in der Antike mehrheitlich als authentisch angesehen wurde. Entscheidend dafür seien die mangelhaften Kriterien der Wahrheitsfindung der antiken Historiographie gewesen. Weder die Autopsie des in Edessa inschriftlich festgehaltenen Briefwechsels noch das Gebot, Unglaubwürdiges abzulehnen, hätten weitergeholfen, denn den christlichen Geschichtsschreibern erschien die Geschichte aufgrund ihres eigenen Glaubens nicht als unglaubwürdig.

Gerade vor dem Hintergrund, dass für manche Zeiträume und Themenfelder die Quellenlage als äußerst disparat erscheint, leuchtete das Anliegen der Beiträger:innen, eine Neubewertung des heuristischen Mehrwertes von „wandernden Texten“ vorzunehmen, unmittelbar ein. Die Vorträge der epochenübergreifenden Sektion stellten dabei unterschiedliche Ansätze vor, mit denen diese schwer fassbaren Narrationen auch aus althistorischer Perspektive in den Blick genommen werden können. Dass dem Erkenntnisgewinn solcher Analysen Grenzen gesetzt sind und diese in der Regel „nur“ zu allgemeineren Aussagen über die zu untersuchende Kultur führen, liegt dabei auf der Hand und wurde sowohl in den Vorträgen als auch in der anschließenden Diskussion deutlich. Als Ergänzung zur klassischen Quellenforschung erscheint jedoch die Untersuchung von „wandernden“ Anekdoten, Topoi und Legenden zumindest in bestimmten Fällen als durchaus lohnenswert.

In der folgenden, ebenfalls epochenübergreifenden, Sektion unter der Leitung von Claudia Horst (München) mit dem Titel „Frieden – Macht – Konflikt. Friedensdiskurse in antiken Gesellschaften“ nahmen die Beiträger:innen Deutungskämpfe in den Blick, die sich auf die Kategorie des Friedens bezogen. Hierbei stand insbesondere die Verhandelbarkeit von Friedenskonzeptionen im Fokus.

In ihrem Vortrag untersuchte CLAUDIA HORST allgemeine Friedensordnungen in Mesopotamien und in Griechenland. Sowohl in der ersten Tafel des sumerischen Gilgamesch-Epos, als auch im babylonischen Weltschöpfungsepos Enūma eliš fänden sich Hinweise darauf, dass mesopotamische Friedensvorstellungen das Austragen von inneren Konflikten als wichtiges Element eines stabilen Friedens mitbedächten. Ebenso ließen sich in den griechischen Poleis seit der Archaik Belege für Friedenskonzeptionen nachweisen, die dem Agon eine wichtige Bedeutung einräumten, wie Passagen aus Hesiods erga und den Elegien Solons zeigten. Dass solche „agonalen“ Friedenskonzeptionen schließlich in Mesopotamien und Griechenland scheiterten, sei auf die hegemonialen Bestrebungen von Großmächten zurückzuführen.

HANNAH CORNWELL (Birmingham) beschäftigte sich mit den Veränderungen der Friedensvorstellungen im Verlauf der späten Republik. Stand zunächst lange Zeit die concordia (Eintracht) für den Frieden innerhalb der res publica, so ging dieses Konzept im Verlauf des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in dem Wert der pax (Frieden) auf, die zunächst nur als Friedenskategorie mit den Göttern und äußeren Feinden in Verbindung gebracht wurde. Die Exklusion seiner Gegner aus der Bürgerschaft als hostes (Staatsfeinde) durch den Konsul Sulla im Jahr 88 v.Chr., hätte diesen Prozess in Gang gesetzt, der seinen Höhepunkt in den Bürgerkriegen in den 40er-Jahren erreichte und dem augusteischen pax-Konzept als Grundlage diente.

Dass es trotz der imperialen Friedensordnung im Prinzipat auch weiterhin ein Ringen um die Deutungshoheit im Bereich der pax gab, führte BABETTE EDELMANN-SINGER (München) an zwei Beispielen vor. Die auf Papyrus erhaltene Antwort des princeps Claudius an die Bürgerschaft Alexandrias bezüglich ihres Anliegens, eine goldene Statue für die pax Augusta Claudiana zu weihen (P. Lond 1912), interpretierte sie als Deutungskampf im Kontext der schweren Auseinandersetzungen mit der jüdischen Gemeinde in Alexandria. Anhand des Paulus-Briefes an die Thessalier zeigte sie im Anschluss, wie sich die frühen Christen die pax Augusta aneigneten und dabei ihrem eigenen Glauben unterordneten.

In den Vorträgen der Sektion wurde insbesondere das Verhältnis zwischen Frieden und Macht betont. Nach der Lesart der Beiträger:innen erschienen allgemeine Friedenskonzeptionen immer auch als Machtkonzeptionen, mit denen bestehende Herrschaftsstrukturen legitimiert und abgesichert werden sollten. Damit rückten die Kommunikationsprozesse in den Mittelpunkt, die sich in den Quellen zwischen den beteiligten Akteuren hinsichtlich des Friedens ermitteln lassen. Die dort nachgewiesenen Konflikte wurden, agonalen Politiktheorien folgend, jedoch gerade nicht als Anzeichen sich auflösender Friedensordnungen interpretiert, sondern als Ausdruck von gemeinschaftlichen Aushandlungsprozessen, die vielmehr zu ihrer Stabilität beitrügen. Dabei fiel auf, dass sich die Vorträge – sicher auch aufgrund der begrenzten Zeit – vor allem mit Friedensdiskursen innerhalb eines politischen Systems auseinandersetzten (zwischen Herrschern und Beherrschten, innerhalb der politischen Elite sowie der Bürgerschaft insgesamt), die aber ebenfalls naheliegenden Kommunikationsprozesse auf der zwischenstaatlichen Ebene jedoch weitgehend unberücksichtigt blieben. Vermutlich könnte der in der Sektion vorgestellte Ansatz, Friedensordnungen als grundsätzlich dynamisch und verhandelbar zu interpretieren, auch in diesem Bereich weitere Ergebnisse für das Verständnis antiker Friedensvorstellungen hervorbringen.

In der dritten althistorischen Sektion „Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation: Gerüchte, Leumund und üble Nachrede im klassischen Athen“ unter der Leitung von Christopher Degelmann (Berlin) wurde die Bedeutung des Hörensagens, des Rufes und von Verleumdungen im Athen klassischer Zeit untersucht. Hierbei nahmen die Vortragenden vor allem die möglichen Auswirkungen in den Blick, die ein solches, außerhalb der politischen Institutionen zirkulierendes, Gerede auf die Entscheidungsprozesse der athenischen Demokratie haben konnte.

Die Rolle der akoe (Hörensagen) in der Debatte um die geplante Sizilienexpedition im Jahr 415 v.Chr. untersuchte CHRISTOPHER DEGELMANN. Anhand der bei Thukydides nachgezeichneten Reden des Nikias und Alkibiades vor der ekklesia (Volksversammlung), ergänzt um einige Zusätze aus Plutarchs Viten der beiden Redner, zeigte er, wie sehr ihre Argumentationen auf den unterschiedlichen mündlichen Berichten über die Verhätnisse auf Sizilien aufbauten. Die Debatte zeuge von einem Ringen der Redner um die Deutungshoheit in einer unsicheren Situation, in der letztlich wohl auch die pheme (Ruf) von Alkibiades und Nikias über ihre Chancen, sich vor der Volksversammlung durchzusetzen, mitentschied.

RAFAŁ MATUSZEWSKI (Salzburg) nahm sich der bürgerlichen pheme im vierten Jahrhundert v.Chr. an. Dabei legte er dar, dass nicht nur die Angehörigen der prominenten Elite Athens in besonderem Maße auf ihren Ruf hätten achten müssen, sondern auch für die einfachen Bürger die Notwendigkeit bestand, ihre Reputation im Blick zu haben. Sowohl in politischen wie vermeintlich privaten Angelegenheiten hätten sie zumindest versuchen müssen, das Gerede über sich zu kontrollieren, denn zahlreiche Faktoren, wie eine verdichtete Bürgerkommunikation und ein verändertes Sozialgefüge, hätten die Wirkmacht von Gerüchten im vierten Jahrhundert verstärkt.

Das Verhältnis zwischen dem demokratischen Wert der parrhesia (Freimütigkeit) und den athenischen Gesetzen gegen Verleumdungen war das Thema des Votrags von MIRKO CANEVARO (Edinburgh). Er ging der Frage nach, inwieweit die attische Freimütigkeit, die durchaus der sozialen Kontrolle der Mitbürger gedient hätte, von diesen Gesetzen beschränkt gewesen sei. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass solche Gesetze nur ganz spezifische Arten übler Nachrede, wie solche gegenüber den Toten oder an bestimmten Orten, unterbanden und damit die parrhesia eher schützten als sie einschränkten. Denn sie hätten einen konkreten Handlungsrahmen definiert, innerhalb dessen das Gerede über Mitbürger legitim und folgenlos gewesen sei.

Die Sektion nahm sich mit zirkulierenden Gerüchten und Verleumdungen im klassischen Athen einem Thema an, das in der älteren Forschung wenig beachtet worden ist, sich zwar in jüngerer Zeit einer höheren Aufmerksamkeit erfreut4, aber sicher noch Raum für weitere Forschungsaktivität bietet. Dass die Deliberation in der athenischen Demokratie dank der hohen Bedeutung des individuellen Rufes und der Wirkmächtigkeit des öffentlichen Geredes auch außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen, auf der Agora oder in den Barbierstuben, stattfand oder sich im Nachgang fortsetzte, und sich in der Folge nicht nur auf die entscheidungsberechtigten Bürger beschränkte, wurde in den Vorträgen deutlich. Damit geraten mit den Frauen, Nichtbürgern und Sklaven auch jene Akteure stärker in den Blick, die in den klassischen Arbeiten zur athenischen Demokratie zumeist wenig berücksichtigt worden sind. Dass solche vielfältigen und sich in aller Öffentlichkeit vollziehenden Kommunikationsprozesse eine ideale Grundlage für sich widersprechende Deutungen hinsichtlich einer Einzelperson, bestimmter Gruppen oder nur schwer überprüfbarer Sachverhalte boten, liegt in der Natur der Sache und zeigte sich auch in dieser anregenden Sektion.

Dass es sich für Historiker:innen immer lohnt, durch einen Perspektivwechsel vertraute Denkmuster in Frage zu stellen oder gar aufzubrechen, zeigte die Sektion mit dem Titel „Dezentrierte Antike? Zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung von Städten und Regionen Ostroms in der Spätantike“ unter der Leitung von Hartmut Leppin (Frankfurt am Main). In den Vorträgen wurden verschiedene Städte und Ortschaften Ostroms dahingehend untersucht, inwieweit sie über die Reichsgrenzen hinaus anziehend auf die Menschen der Spätantike wirkten.

HARTMUT LEPPIN eröffnete die Sektion mit einem Vortrag zu der Stadt Edessa, in der die syrische Sprache standardisiert wurde und die sich dank ihrer Bildungsstätten zu einem herausragenden kulturellen Zentrum in der syrisch-sprachigen Welt entwickelte. Dies habe eine Selbstwahrnehmung befördert, die sich von der Konstantinopels deutlich unterschied. Während aus römischer Sicht die Stadt an der Peripherie des Reiches lag, habe sich Edessa selbst als bedeutenden Ort mit überregionaler Bedeutung wahrgenommen, der zahlreiche Besucher auch jenseits der Reichsgrenzen anzog.

Der Verbindung zwischen dem spätantiken Palästina und der Kaukasus-Region widmete sich BALBINA BÄBLER (Göttingen). Anhand von griechischen Inschriften aus jüngsten Grabungen in der Hafenstadt Ashdod Yam (Azotos Paralios) wies sie auf verschiedene lokale Besonderheiten des Ortes wie die relative Gleichbehandlung von Diakoninnen und Diakonen hin und kam zu dem Urteil, dass die Stadt eine überregionale Bedeutung, z.B. für Pilger aus Georgien, gehabt habe.

Die Einflüsse Alexandrias auf die kirchliche Geschichte Äthiopiens und Nubiens untersuchte PHILIP FORNESS (Frankfurt am Main), indem er die historiographischen Berichte des Rufinus von Aquileia und Johannes von Ephesos über die Christianisierung dieser beiden Regionen mit lokalen Quellenzeugnissen, in Form von Übersetzungen christlicher Texte in altäthiopischer und altnubischer Sprache, in Beziehung setzte. Er kam zu dem Ergebnis, dass sich neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede der äthiopischen und nubischen Kirche mit der alexandrinischen Mutterkirche feststellen ließen.

Dass den Kaisern in Konstantinopel die in den drei Vorträgen zuvor thematisierten Anziehungskräfte anderer städtischer Zentren und Regionen nicht verborgen blieben und sie sich darum bemühten, diesem Trend aktiv entgegenzuwirken, zeigte ALEXANDRA HASSE-UNGEHEUER (Frankfurt am Main) anhand der Versuche Justinians I., die Bedeutung Konstantinopels als Glaubens- und Bildungszentrum gegenüber anderen Konkurrenzstädten zu stärken. Diese zum Teil repressiven Bemühungen um eine Rezentrierung der Kaiserstadt erzielten jedoch ihr zufolge nicht den gewünschten Effekt, sondern begünstigten eine weitere Polyzentrierung des Reiches.

Die Beiträger:innen der Sektion zeigten mit ihren Vorträgen, dass das oströmische Reich der Spätantike nicht nur, wie bekannt, eine polyzentrische Struktur besaß, sondern die verschiedenen kulturellen und religiösen Zentren neben Konstantinopel auch weit über die Reichsgrenzen hinaus Menschen anzogen und damit in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung eine überregionale Bedeutung erreichten. Damit stellten diese die kaiserliche Deutung der Zentrumsfunktion Konstantinopels durchaus in Frage, was unweigerlich zu unterschiedlichen Auslegungen und Deutungen und damit zu Konflikten führen musste. Der in der Sektion vorgestellte Ansatz, die Reichsgrenzen überschreitende Zentrumsfunktion einzelner Regionen und Städte in den Blick zu nehmen und durch den so vollzogenen Perspektivwechsel ein neues Verständnis der Bedeutung dieser Orte zu entwickeln, erscheint sinnvoll und gewinnbringend.

Die Sektion „Deutungskämpfe um die antike Divination im Spiegel spätrepublikanischer und kaiserzeitlicher Texte“ unter der Leitung von Christopher Schliephake (Augsburg) und Gregor Weber (Augsburg) hatte das antike Vorzeichenwesen in den Schriften Ciceros, Plutarchs und Artemidors von Daldis zum Thema. Jedem der Autoren war ein eigener Vortrag gewidmet.

In seiner Hinführung zum Thema machte GREGOR WEBER vor allem auf den Umstand aufmerksam, dass sich, im Gegensatz zu vielen anderen Themenfeldern der antiken Geschichte, Deutungskämpfe um die „korrekte“ Weise der Divination gut anhand der umfänglichen Schriftquellen nachvollziehen ließen. Diese erlaubten eine Untersuchung nach unterschiedlichen Leitaspekten, die neben einer Positionierung der einzelnen Autoren zum Thema Divination, unter anderem auch die Analyse eines kulturspezifischen Umgangs mit den Arten der Zeichendeutung möglich machten.

Mit der Unterscheidung zwischen der natürlichen und der künstlichen Wahrsagung, die Cicero in seiner Schrift de divinatione einführte, setzte sich ANDREE HAHMANN (Peking) auseinander. Er interpretierte den philosophischen Schlagabtausch im Dialog zwischen Marcus und seinem Bruder Quintus als einen zeitgenössischen Deutungskampf der zwischen den Philosophenschulen der Stoiker und Peripatetiker, aber auch innerhalb dieser Schulen selbst stattgefunden hätte. Die beiden im Diaolog vorgetragenen Positionen seien dabei aber nicht vollständig deckungsgleich mit bekannten peripatetischen oder stoischen Denkhaltungen. Dies sei jedoch kein Indiz für Ciceros philosophische Unzulänglichkeiten, sondern eher für seine Eigenständigkeit als Philosoph.

Die Traumdeutung im Dialog de genio Socratis von Plutarch stand im Fokus des Vortrages von CHRISTOPHER SCHLIEPHAKE. Sie erscheine dort als eine Art Geheimwissen, das losgelöst von staatlichen Praktiken der Divination wirke und damit zu unterschiedlichen Deutungen einlade. Statt sich selbst eindeutig zu positionieren, diene der Dialog Plutarch vielmehr dazu, die verschiedenen Praktiken und Deutungskonflikte rund um das Themenfeld zu thematisieren. So kämen darin sowohl die professionellen Seher als auch die an theoretischen Fragen der Mantik interessierten Philosophen zu Wort.

Die Oneirokritika Artemidors waren Thema des zweiten Vortrages von RAFAŁ MATUSZEWSKI (Salzburg). Artemidor erkenne nur solche Arten der Divination an, die in römischer Tradition von Experten durchgeführt würden. Die Ausnahme bilde dabei die Traumdeutung, die er aber mit Hilfe seines Werkes in denselben Rang wie die von ihm anerkannten Formen des Vorzeichenwesens zu heben suche. So könnten die Oneirokritika als Zeugnis eines Deutungskampfes des Artemidor um die „korrekten“ Arten der Divination interpretiert werden.

In ihrem abschließenden Kommentar wies SARA CHIARINI (Hamburg) unter anderem auf die Möglichkeit hin, dass sich die von Hahmann und Schliephake thematisierten Deutungskämpfe bei Cicero und Plutarch auch als innere Deutungskämpfe interpretieren ließen. Beide Autoren seien aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Träger von Priesterfunktionen mit verschiedenen Praktiken und Ausdeutungen der Divination vertraut gewesen. Auseinandersetzungen mit konkreten Deutungen anderer Autoren und Experten der Mantik hätte dann freilich Artemidor mit seinen Oneirokritika ausgefochten.

Dass die in der gesamten Antike praktizierte und stark ausdifferenzierte Vorzeichendeutung nahezu zwangsläufig die unter Praktikern und Theoretikern der Mantik diskutierte Frage nach sich zog, welche Praktiken des Vorzeichenwesens als legitim und illegitim anzusehen sind, kann kaum verwundern. Die erhaltenen Texte zur Divination, das konnten die Beiträger:innen überzeugend darlegen, geben Einblicke in ein durchaus viel und kontrovers diskutiertes Themenfeld. Doch zeigte sich hier ebenfalls, dass der Verlust der Texte von denen sich die in der Sektion behandelten antiken Autoren möglicherweise abgrenzten, einer Analyse von Deutungskämpfen, auch in diesem verhältnismäßig gut dokumentierten Genre, Grenzen gesetzt hat.

Die Beiträger:innen der letzten althistorischen Sektion „Lokale Deutungshoheit im antiken Griechenland“ unter der Leitung von Hans Beck (Münster) und Uwe Walter (Bielefeld) analysierten das Spannungsverhältnis zwischen überregionalen Erzählungen und lokalen Deutungen, wobei sie den Fokus vor allem auf die Orientierungsmuster und Sinnangebote legten, die aus der lokalen Welt selbst erwuchsen.

Das Fehlen einer antiken Gesamtgeschichte Griechenlands war der Ausgangspunkt für eine forschungsgeschichtliche Bestandsaufname von UWE WALTER zu dem bekannten Umstand, dass die griechische Geschichte der Antike als Großerzählung eine moderne Konstruktion, mit ihren eigenen Deutungskämpfen, ist. Er formulierte dabei drei aktuelle Herausforderungen, die bei dem Versuch eines Gesamtnarrativs der griechischen Geschichte berücksichtigt werden müssten: Neben einer innergriechischen, die auf die unterschiedlichen Lokalitäten der hellenischen Poliswelt Rücksicht nehme, und einer soziopolitischen Dezentrierung, die eine stärkere Berücksichtigung der nichtadligen und nichtbürgerlichen Bevölkerungsgruppen einfordere, müsse auch eine postkoloniale und konstruktivistische Dezentrierung miteinbezogen werden, die gängige Geschichtsnarrative aus hierarchiekritischer Perspektive in Frage stelle.

Mit den verschiedenen Geburtsmythen des Zeus auf Kreta und in Arkadien beschäftigte sich ANGELA GANTER (Regensburg). Dabei nahm sie zum einen die Deutungskämpfe zwischen den beiden griechischen Regionen, zum anderen aber auch die lokalen Kommunikationsräume selbst in den Blick. So fänden sich von der Antike an bis zur Gegenwart Kontroversen um diese Mythen und die in diesen Regionen gepflegten Zeus-Kulte. Dass die vielen lokalen Kulttraditionen mit ihren individuellen Mythen die Versuche antiker Gelehrter erschwerten bis verunmöglichten, die griechische Mythenwelt zu vereinheitlichen, könne man unter anderem auch an Autoren wie Kallimachos beobachten, der bewusst unentschieden ließ, ob die Kreter oder die Arkader den „wahren“ Mythos von der Geburt des Zeus erzählten.

HANS BECK nahm sich lokaler Deutungen des boiotischen Thebens im späten sechsten und frühen fünften Jh. v.Chr. an und kontrastierte diese mit den bekannten Narrativen über die mit den Persern kollaborierende Stadt aus dem Geschichtswerk Herodots. Anhand jüngerer Inschriftenfunde legte Beck plausibel dar, dass sich in diesen Zeugnissen eine abweichende Diskurswelt mit eigenen Deutungsmustern zeige. Am Ende des Vortrages zog er ein positives Fazit der althistorischen Forschungsbemühungen der jüngeren Zeit, einen stärkeren Fokus auf lokale Perspektiven der griechischen Polis zu legen. Diese trügen zu einem deutlich differenzierteren Blick auf die Geschichte des antiken Griechenlands bei.

Die letzte Sektion der Alten Geschichte auf dem Historikertag knüpfte an einen neueren Trend der althistorischen Forschung an, die Lokalität des antiken Griechenlands einer Neubewertung zu unterziehen und ihr deutlich mehr Bedeutung einzuräumen als es in älteren Arbeiten geschehen ist, in denen die überregionale Geschichtsschreibung häufig gegenüber der lokalen vorgezogen wurde. Die Beiträger:innen unterstrichen mit ihren Vorträgen noch einmal, dass der heuristische Mehrwert eines solchen Perspektivwechsels hin zum Lokalen groß ist. Er führt zu einem besseren Verständnis des vielstimmigen Griechenlands mit seinen über 1.000 Gemeinwesen, aber mit einer gemeinsamen Kultur und zahlreichen Ebenen und Orten der Kommunikation, auf denen die unterschiedlichsten Deutungen vorgetragen und mitunter in Konflikt geraten konnten.

Die althistorischen Sektionen des 53. Deutschen Historikertages widmeten sich dem Dachthema „Deutungskämpfe“ aus unterschiedlichen Perspektiven und mittels einer Vielzahl methodischer Ansätze; sie nahmen dabei Deutungskontroversen aus allen Epochen von der Archaik bis zur Spätantike in den Blick. Obwohl aufgrund der besonderen Umstände des rein digitalen Formates, dessen großen organisatorischen Aufwand die LMU München mit Bravour meisterte, der wissenschaftliche Austausch in Form der anschließenden Diskussionen erschwert war und die für den Historikertag so wichtigen Kommunikationsräume – mit Ausnahme kleiner digitaler Meetings – weitgehend fehlten, litt darunter das Niveau der Fachsektionen nicht. Alle sechs besprochenen Sektionen setzten wichtige Akzente und führten neuere Forschungstrends und Untersuchungsansätze fort.

In der Zusammenschau der Sektionen und Vorträge fällt jedoch hinsichtlich des Rahmenthemas „Deutungskämpfe“ eines auf: Es wurde sich zwar mit vielfältigen, einander mitunter widersprechenden und konkurrierenden Deutungen in den antiken Quellenzeugnissen auseinandergesetzt, aber ob die analysierten Fälle wirklich alle als Deutungs-kämpfe bezeichnet werden sollten, stand in keiner der Sektionen ernsthaft zur Diskussion. Lediglich Angela Ganter unterschied in ihrem Vortrag zwischen zahlreichen Deutungsvarianten der von ihr analysierten Mythen und nur gelegentlichen Deutungskämpfen in diesem Bereich. Dies ist aber m.E. nicht auf ein Versäumnis der beteiligten Althistoriker:innen zurückzuführen, sondern auf die Kategorie des Deutungskampfes selbst.

Diese benötigt zunächst einmal Diskurse, die umfänglich analysierbar sind. Zweifellos wurde unentwegt in der griechisch-römischen Welt um die Deutungshoheit zu den unterschiedlichsten Fragen gerungen und selbstverständlich lassen sich unzählige Diskurse in der antiken Literatur nachweisen und damit auch untersuchen. Aber der Verlust eines Großteils der antiken Literaturproduktion führt zu dem Phänomen, dass die meisten dieser Diskurse nur noch unvollständig fassbar sind und sich nur sehr bedingt durch materielle Zeugnisse ergänzen lassen. Die Sektionen haben das Problem der Quellenarmut sehr unterschiedlich zu lösen versucht. So wurden beispielsweise mit „wandernden Texten“, „Gerüchten“ oder der „lokalen Geschichtsschreibung“ mit großem heuristischem Gewinn solche Themenfelder in den Blick genommen, die in älteren Forschungsarbeiten als vermeintlich unergiebig, störend oder qualitativ minderwertig zur Seite geschoben wurden. Doch valide Aussagen zur Intensität des möglichen Konflikts der nachgewiesenen verschiedenen Deutungen, die eine Bezeichnung als „Kampf“ rechtfertigen, lassen sich wohl in vielen Fällen nicht mehr treffen. Häufig müssen wir die Gegenpositionen aus demselben Zeugnis rekonstruieren, das eine möglicherweise umstrittene Deutung bietet. Provozierten die Oneirokritika Artemidors denn Gegenreaktionen oder führte er einen einsamen Kampf? War denn das Ergebnis der kaiserlichen Abänderung des alexandrinischen Gesuchs einen Kult für die pax Augusta Claudiana einzurichten, eine tiefere Spannung zwischen der Stadt und dem Kaiserhof? Wir wissen es nicht.

Aber selbst wenn sich einander widersprechende Deutungen relativ gleichberechtigt erhalten haben, lässt sich das Problem der Intensität kaum lösen, wenn der Konflikt nicht merklich eskaliert. Ist es wirklich ein Deutungskampf, wenn zwei Redner vor der athenischen Volksversammlung dieselben unsicheren Berichte unterschiedlich auslegen, um ihre Argumentation zu stützen oder wenn zwei Geschwister in einem philosophischen Werk miteinander über unterschiedliche Deutungsansätze zur Divination diskutieren? Folgt man der eingangs von mir zitierten Definition, dass Wirklichkeit nicht erkannt, sondern nur gedeutet werden könne und es folglich immer einen Streit um die Gültigkeit der behaupteten Wahrheit gebe, dann mit Sicherheit. Aber wenn bei mehr als einer existierenden Deutung immer gleich ein Kampf vorausgesetzt werden muss, welchen heuristischen Nutzen hat dann noch die Kategorie des Deutungskampfes, zumal sich Historiker:innen ohnehin hauptberuflich mit Deutungen aus vergangenen Zeiten auseinandersetzen? Führt diese Unbestimmtheit nicht vielleicht sogar zu einer Überbetonung des Konflikts bei überwiegend doch recht normalen Kommunikationsvorgängen? Und hat dies nicht möglicherweise auch zur Folge, dass sich für tatsächlich verschärfende Gegensätze in öffentlichen Auseinandersetzungen, wie sie aktuell hinsichtlich verschiedenster Themen – auffälliger Weise häufig solche, in denen es um Gerechtigkeit und Teilhabe geht – geführt werden und die dank der modernen Massenmedien auf eine ganz neue Weise erfahrbar sind, noch stärkere Kategorien gefunden werden müssen? So konstatierte PETER STROHSCHNEIDER in seinem Eröffnungsvortrag zum Historikertag eine Verhärtung und Verabsolutierung der Positionen in den aktuellen, global und lokal ausgetragenen Deutungskämpfen und sprach schließlich von regelrechten „Deutungskriegen“, die geführt würden. Sollte es also tatsächlich so schlimm um die öffentliche Kommunikation stehen, dann sollte man dieser Bedrohung vielleicht mit Abrüstung begegnen und nicht überall von „Kämpfen“ sprechen, wo miteinander diskutiert wird oder werden sollte.

Anmerkungen:
1 Jörn Rüsen, Geschichte denken. Erläuterungen zur Historik, Wiesbaden 2020, S. 3.
2 Margarete Jäger/ Siegfried Jäger, Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007, S. 7f.
3 Stephen Greenblatt, The Touch of the Real, in: Representations 59, Special Issue: The Fate of "Culture": Geertz and Beyond (1997), S. 14-29.
4 U.a. Rafał Matuszewski, Räume der Reputation. Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr., Stuttgart 2019; Christian Mann, Politik und Pheme. Zur (Dys)funktionalität von Klatsch in der athenischen Demokratie, in: Werner Riess (Hrsg.), Colloquia Attica III. Neuer Forschungen zu Athen im 4. Jahrhundert v.Chr. (Dys-)Funktionen einer Demokratie, Stuttgart 2021, S. 99-114.

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