Besprochene Sektionen:
Diktaturdeutungen: Zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in Europa und Lateinamerika seit 1990
Die DDR-Aufarbeitung im „Zeitgeschichtsbiotop“ der 1990er-Jahre. Akteure – Themen – Diskursbedingungen
Denationalisierung als Gegenstand und Perspektive der Zeitgeschichte
Geschichte spielen, wie es eigentlich gewesen ist – Das Digitale Spiel im Spiegel seiner Authentizitätsdebatten
Covid-19 und die Folgen für historische Forschung in Archiven und Bibliotheken
Deutungskämpfe sind zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umgangs mit der Vergangenheit. In besonderer Weise mag dies für die jüngste Vergangenheit zutreffen: Nicht nur die intensive Beforschung der Zeitgeschichte produziert eine Vielzahl konkurrierender Deutungen, auch die Teilnahme nicht-wissenschaftlicher Akteurinnen und Akteuren – vor allem Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – prägt die Auseinandersetzung um vermeintlich richtige oder auch nur zulässige Interpretationen. Es verwundert daher nicht, dass die Zeitgeschichte wie in den Vorjahren stark beim diesjährigen Historikertag vertreten war und fast die Hälfte der rund hundert Sektionen auf ebenjene Epoche entfiel. Ein Querschnittsbericht zu den zeitgeschichtlichen Beiträgen muss deshalb schlaglichtartig bleiben. Gleichwohl soll der folgende Überblick die Vielfalt der debattierten Themenfelder aufzeigen und wesentliche Diskussionsstränge herausarbeiten. Vorgestellt sei zuerst die Sektion „Diktaturdeutungen“, die sich der Interpretation autoritärer Regime in Spanien, Russland und Chile nach 1990 widmete.
In ihrem Vortrag skizzierte BIRGIT ASCHMANN (Berlin) den Wandel der spanischen Transitionserzählung von einer Erfolgs- zu einer Problemgeschichte in den 1990er-Jahren. Infolge des „Memoria-Booms“ sei der Wille zur unbedingten Versöhnung einer exzessiven Beschäftigung mit der Vergangenheit gewichen, die anstelle des Franquismus die Transition selbst in den Mittelpunkt gestellt und unter anderem das Verhältnis von Geschichte und Justiz problematisiert habe. Die um die spanische Transition entbrannten Deutungskämpfe interpretierte sie dabei einerseits als Ausdruck einer vitalen Demokratie, andererseits als Ausweis für den prekären Status ihres gesellschaftlichen Kitts.
STEFAN RINKE (Berlin) befasste sich mit der Transition und ihrer Deutung in Chile. Auch Rinke stellte das Motiv der Versöhnungsbereitschaft heraus und betonte die vorsichtige Aufarbeitung der Vergangenheit durch die regierende Concertación, die auf einen Schlussstrich gerichtet gewesen sei. Wie umstritten die Deutung der Vergangenheit blieb, illustrierte er am Wandel der Begriffe, mit denen die Militärherrschaft bezeichnet wurde und wird. Der gegenwärtige Verfassungsprozess in Chile könne Rinke zufolge das Ende der Transitionsära einläuten, werde jedoch zu wenig beachtet.
Einen geschichtspolitischen Zugang wählte ROBERT KINDLER (Berlin), der sich Stalinismuskontroversen im postsowjetischen Raum zuwandte. Am Beispiel des Hitler-Stalin-Paktes und der Hungersnot in der Ukraine und Kasachstan stellte er heraus, dass der Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit vielfach auf binäre Täter-Opfer-Dichotomien hinauslaufe und Verantwortung zu externalisieren suche. Eine sich selbst verstärkende Dynamik würde differenzierte Betrachtungsweisen dabei zunehmend erschweren. Kindler argumentierte, dass die Stalinismusdebatte nur im transnationalen Kontext zu verstehen sei, da sich die evozierten Geschichtsbilder stets auch an Adressatinnen und Adressaten in den anderen postsowjetischen Staaten richteten.
Die Diskussion kreiste unter anderem um die Bedeutung struktureller Faktoren, unter denen der Wandel der Kontroversen stattfindet. Herausgestellt wurden etwa die Generation und damit die persönliche Betroffenheit durch das autoritäre Erbe. Daneben wurde die Rolle neuer Medien als Plattform von Deutungskämpfen diskutiert, die nicht nur eine Drehschreibe von Geschichtsdeutungen seien, sondern zugleich die Chance böten, konkurrierende Interpretationen in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen.
Die Sektion „Die DDR-Aufarbeitung im ‚Zeitgeschichtsbiotop‘ der 1990er-Jahre“ zielte auf die Historisierung von Deutungskämpfen nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit. Ausgangspunkt bildete die These, dass die Debatten um die DDR gemäß der Diskursbedingungen der alten Bundesrepublik geführt wurden, in die sich die Protagonistinnen und Protagonisten einzufügen hatten.
Am Beispiel beider Enquete-Kommissionen des Bundestages führte SEBASTIAN RICHTER (Berlin) aus, dass ehemalige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler in den geschichtspolitischen Kontroversen nach 1989 nur dann geschichtspolitischen Einfluss ausüben konnten, sofern sie die in der alten Bundesrepublik bestehenden Narrative über die DDR zumindest teilweise bestätigten. Zwar habe der kritische Umgang mit der Vergangenheit regelrecht zur „DNA der DDR-Opposition“ gehört, dennoch habe sie sich nicht von der Pfadabhängigkeit des Aufarbeitungsdiskurses lösen können. In der alten Bundesrepublik entwickelte Sichtweisen auf die DDR seien somit konserviert worden.
KRIJN THIJS (Amsterdam) widmete sich der Evaluierung der Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR. In seinem Beitrag plädierte er dafür, die Evaluierung als Begegnungsgeschichte zweier zuvor getrennter Wissenschaftssysteme zu verstehen, in deren Rahmen Selbst- und Fremdbilder verhandelt wurden. Thijs zeigte, dass sich die Erwartungskategorien der vornehmlich westdeutschen Gutachter in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft kaum anwenden ließen und zu gegenseitigen Enttäuschungen führte, die das Ausbleiben eines innerdeutschen Diskurses nach den Begehungen weiter förderten. Im Ergebnis hätten die Evaluierungen polarisiert statt integriert.
Der Beitrag von HERNIK BISPINCK (Berlin) und ANN-KATHRIN REICHARDT (Berlin) thematisierte die Rolle von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Deutungskämpfen um die DDR-Geschichte. In diesen sei das vielzitierte Vetorecht der Quellen durch das „Vetorecht der Zeitzeugen“ abgelöst worden, wobei in den 1990er-Jahren gerade Oppositionelle Deutungshoheit über die DDR beansprucht hätten. Als langfristige Folge stellten Bispinck und Reichardt die Verquickung von politischer Aufarbeitung und historischer Forschung heraus.
ELKE STADELMANN-WENZ (Berlin) befasste sich mit dem Diskurs um hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Diese seien zwar wesentlicher Gegenstand der öffentlichen Aufarbeitung gewesen, hätten aber selbst kaum als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen partizipiert. Auch die Forschung habe sich primär auf die schriftliche Überlieferung gestützt. Hierdurch seien Leerstellen entstanden, die durch die Torwächterfunktion der Stasiunterlagen-Behörde noch verschärft worden seien. Wie Bispinck und Reichardt betonte auch Stadelmann-Wenz geschichtspolitische und zivilgesellschaftliche Einflüsse auf die Forschung.
In seinem Kommentar betonte DETLEF POLLACK (Münster), dass Auskünfte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gerade nach 1989 unabdingbar gewesen seien, um die bis dato weithin unbekannte DDR zu erschließen. Der Forschung gestand er zu, sich auf die Perspektive von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einlassen und, falls notwendig, auch distanzieren zu können. Die Verschränkung von Aufarbeitung und Forschung führte er unter anderem auf die Eigenlogik der Medien zurück, die ein großes Interesse an der Aufdeckung inoffizieller Mitarbeiter entwickelt hätten.
In der Diskussion wurde erneut die Frage nach dem Verhältnis von Zeitzeugeninnen und Zeitzeugen und Forschung aufgeworfen. Nach wie vor dienten Zeitzeugenaussagen, so Bispinck, zur Legitimation von Forschungsergebnissen, was insbesondere für nachgeborene oder westdeutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelte. Mehr noch als in der vorherigen Sektion, in der vor allem Rinke die Teilnahme von Historikerinnen und Historikern am Aufarbeitungsdiskurs pointiert hatte, wurde in den Beiträgen die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsforschung und -aufarbeitung aufgeworfen.
Die Sektion „Denationalisierung als Gegenstand und Perspektive der Zeitgeschichte“ befasste sich mit der Erosion des nationalen Denkrahmens und der „gedachten Ordnung des Nationalen“ seit den 1990er-Jahren und den hieraus resultierenden Deutungskämpfen. Trotz jüngerer Profilierungsversuche habe das Konzept des Nationalen seine ehemals hegemoniale Stellung eingebüßt. Dieser Verlust an Selbstverständlichkeit habe zur Neujustierung von Ordnungsvorstellungen gezwungen und wirke nach wie vor auf Gesellschaft, Politik und Geschichtsschreibung.
Am Beispiel der liberalen Demokratie befasste sich JULIA ANGSTER (Mannheim) mit der Frage, welche Folgen der Verlust der Selbstverständlichkeit ehemals unhinterfragter Deutungsmuster zeitigt. Angster interpretierte die mehrfach ausgerufenen Krisen der liberalen Demokratie als Krisen der nationalen Ordnung, in die die liberale Demokratie in vielfältiger Weise eingeschrieben sei. Die Pluralisierung der – häufig mit der Nation gleichgesetzten – Gesellschaft produziere neue Bruchlinien, während die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates angesichts der zunehmenden Transnationalisierung schwinde.
In ihrem Vortrag zur nationalen Identität in Großbritannien skizzierte ALMUTH EBKE (Mannheim) die Debatte um Britishness in den 1990er- und 2000er-Jahren, die sie als Teil der Neujustierung des nationalen Rahmens innerhalb der britischen Politik und Gesellschaft deutete. Beachtenswert sei dabei, dass die zentralen Parameter der Debatte primär als innerbritische Probleme und nicht als Globalisierungsfolgen betrachtet wurden. Hiermit biete sich eine Perspektive, um die sozialwissenschaftlichen Deutungen vom Ende des Nationalstaats zu historisieren und die Neujustierung der nationalen Ordnung neu zu vermessen.
Der Beitrag von SILKE MENDE (Münster) lotete aus, inwiefern sich die Zeitgeschichte der Demokratie in Europa jenseits von Nationalstaaten perspektivieren lässt. Hierbei verwies sie erstens auf Mehr-Länder-Analysen, die den transregionalen Austausch akzentuieren, zweitens auf eine Geschichte Europas „von seinen Rändern her“ und drittens auf eine Geschichte des institutionellen Europa. Dabei warb Mende für eine verstärkte Berücksichtigung transnationaler Vernetzungen und Grenzziehungen, die nationalstaatliche Räume überschreiten und das Ringen um die Semantik und Praxis der Demokratie in Europa charakterisieren.
In seinem Kommentar warf ANDREAS WIRSCHING (München) die Frage auf, wohin eine Zeitgeschichte steuere, die sich – zumindest ihrem Anspruch nach – vom Modell des Nationalstaats verabschiedet habe. Ebenso stellte er zur Debatte, inwiefern De-Nationalisierung in Beziehung zu einer Re-Nationalisierung zu betrachten ist und von einem dialektischen Verhältnis gesprochen werden kann. Die Aktualität national(staatlich)er Kategorien beweise nicht zuletzt die geradezu reflexhafte Schließung nationaler Grenzen im Zuge der Corona-Pandemie.
Die folgende Diskussion griff diese Impulse auf und konzentrierte sich auf den Begriff der De-Nationalisierung als ergebnisoffenen Rekonfigurationsprozess, der treffender sei als die Annahme einer bloßen Erosion des Vorhandenen und eine partielle Re-Nationalisierung nicht ausschließe. Auch das Verhältnis von Nation und Region wurde, etwa am Beispiel des Europas der Regionen, von mehreren Rednerinnen und Rednern problematisiert. Hervorzuheben ist schließlich der Hinweis auf die Ungleichzeitigkeit von Denationalisierungsprozessen in Ostmitteleuropa, die zu einer differenzierten Betrachtung anregt.
Die Sektion „Geschichte spielen, wie es eigentlich gewesen ist“ widmete sich digitalen Spielen, die sich eines historischen Settings bedienen und damit nicht nur Produkt, sondern zugleich Produzent geschichtskultureller Vorstellungen sind. Fixpunkt der meisten Vorträge bildete die Authentizität als Bewertungskriterium von Spielen.
EUGEN PFISTER (Bern) stellte das oftmals teleologische Geschichtsbild digitaler Spiele heraus, obwohl das Medium prinzipiell über das Potenzial verfüge, Geschichte ergebnisoffen zu erzählen. Dies gelte sowohl für handlungsgetriebene Titel als auch für Aufbau- und Strategiespiele, die nur selten kontingente und multiperspektivische Erzählungen entwerfen. Gleichwohl sei eine zunehmende Diversifizierung von Spielmechaniken erkennbar, die neuen Geschichtsdeutungen den Weg ebnen könnten.
Der Verknüpfung von Authentizitäts- und Identitätsdiskursen wandte sich KATHRIN TRATTNER (Bochum) zu. Sie argumentierte, dass der von Spielerinnen und Spielern ausgelöste Streit um den vermeintlichen Authentizitätsmangel des jüngsten „Battlefield“-Ablegers im Kern eine Identitätsdebatte sei, bei der eine sich als homogen inszenierende Spielergemeinde versuche, ihre Erwartungen gegenüber dem Entwicklerstudio durchzusetzen.
Am Beispiel der „Anno“-Serie thematisierte TOBIAS WINNERLING (Düsseldorf) das Ausbleiben von Deutungskämpfen. Obwohl die Reihe für ihre einseitige und weithin positive Kolonialismusdarstellung mitunter kritisiert werde, sei es nie zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte gekommen. Winnerling führte dies auf die unterschiedlichen Ansprüche an Authentizität und Korrektheit zurück, die Spielerinnen und Spieler einerseits und Forscherinnen und Forscher andererseits erheben. Es gebe keinen Konsens darüber, wie man gesellschaftlich wirkungsvoll über historische Korrektheit in Spielen streiten solle, obwohl dies in Anbetracht ihrer kulturellen Bedeutung dringend geboten sei.
Ebenfalls am Beispiel von „Anno“ stellte FELIX ZIMMERMANN (Köln) den Begriff der Vergangenheitsatmosphäre vor. Er argumentierte, dass Authentizitätsgefühle von Spielerinnen und Spielern aus dem unbewussten Abgleich von Erwartungen mit der Vergangenheitsatmosphäre resultieren, die Entwicklerstudios durch die audiovisuelle Gestaltung von Spielen zu beeinflussen suchen.
Die Vorträge der Sektion illustrierten, wie unterschiedlich Ansprüche an die Authentizität digitaler Spiele sind, die ihrerseits verschiedenen definiert wurde. Der prekäre Status des Authentischen wurde auch in der von CHARLOTTE JAHNZ (Bonn) moderierten Diskussion deutlich, schließlich seien die Referenzen, an denen Authentizität bewusst oder unbewusst bemessen werde, doch in der Regel selbst nur vermittelt. Letztlich blieb festzustellen, dass die Authentizitätskriterien der Spielerinnen- und Spielergemeinde mit denen der Geschichtswissenschaft kaum in Deckung zu bringen sind. Zu begrüßen wäre es, wenn der von Winnerling angeregte Diskurs tatsächlich in Gang käme; die zahlreichen Beiträge zur Diskussion so wie die breite Teilnahme an der Sektion insgesamt lassen auf ein entsprechendes Interesse der Forschung schließen.
Organisatorisch der Zeitgeschichte zugeschlagen wurde auch die Diskussionsrunde zur Corona-Pandemie und ihren Folgen für die historische Forschung in Archiven und Bibliotheken. In ihrer Einleitung gaben EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) und SIMONE LÄSSIG (Washington / Braunschweig) einen ersten Überblick über die Auswirkungen der Pandemie im Wissenschaftsbetrieb. FRANK BÖSCH (Potsdam) vertrat die These, die Pandemie habe als Katalysator für positive wie negative Entwicklungen gewirkt: Während es in einigen Archiven und Bibliotheken zu einem Innovationsschub gekommen sei, seien ohnehin restriktivere Einrichtungen, darunter Unternehmensarchive, nun noch schwieriger zugänglich. Der Mangel an Digitalisaten treffe dabei insbesondere Historikerinnen und Historiker der Zeitgeschichte. ANDREA HÄNGER (Berlin) konkretisierte die Pandemiefolgen am Beispiel des Bundesarchivs, das vor allem am Standort Berlin-Lichterfelde mit einem massiven Andrang von Nutzerinnen und Nutzern konfrontiert wird. Trotz der Vervierfachung des digitalen Angebots des Bundesarchivs seit 2019 liege erst ein Prozent des Gesamtbestandes digital vor. Die verschiedentlich geforderte Priorisierung von Nutzungsvorgängen lehnte Hänger ab: Anders als in Regional- oder Landesarchiven gebe es schlichtweg kaum nicht-wissenschaftliche Nutzerinnen und Nutzer, deren Vorgänge zugunsten der Forschung zurückgestellt werden könnten. Bei wissenschaftlichen Vorhaben wiederum sei eine Priorisierung nicht durchführbar, da es an stichhaltigen Kriterien zur Beurteilung mangele. ANNA CATHARINA HOFMANN (Halle) betonte die gravierenden Folgen der Pandemie für Qualifikationsarbeiten und sprach von einer „Panik im Mittelbau“, die nur unzureichend durch Gegenmaßnahmen abgefedert werde. So habe der Gesetzgeber die maximale Befristungsdauer zwar um insgesamt ein Jahr erhöht, zugleich seien aber nur die wenigsten Hochschulen bereit, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese Verlängerung voll zu gewähren. Hofmann sprach sich für eine größere Sensibilität gegenüber den Problemen von befristet Beschäftigten aus. In Ergänzung zu Bösch beschrieb CHRISTOPH MACKERT (Leipzig) die Lage an Forschungseinrichtungen für die vormoderne Geschichte: Am Beispiel Leipzigs hob er den hohen Digitalisierungsgrad bei Münz- und Handschriftenbeständen hervor.
Die Diskussion zwischen den Vortragenden und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Panels unterstrich, dass die angesprochenen Entwicklungen und Herausforderungen deutlich über die gegenwärtige Situation hinausweisen – etwa die Beschäftigungssituation im akademischen Mittelbau oder die Digitalisierung und ihre Folgen für die historische Forschungspraxis insgesamt. Digitale Arbeitsformen und Datenkompetenze sind gefragter denn je und werden es auch nach dem Ende der pandemiebedingten Einschränkungen bleiben. Wie gravierend die Folgen vor allem für Qualifikationsarbeiten sind, wird sich indes nur in der Rückschau feststellen lassen.
Die besprochenen Sektionen stehen beispielhaft für den Perspektiv- und Methodenreichtum, mit dem die Beiträge das Motto des Historikertages aufgriffen und selbst in Deutungskämpfe einstiegen – sofern man darunter produktive Debatten und weniger den Streit um verhärtete Positionen versteht.1 Dass hierbei mitunter auch Grundkategorien historischen Arbeitens auf den Prüfstand gerieten, verdeutlichte vor allem die Sektion zur Denationalisierung, die als Forschungsperspektive längst in der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung angekommen ist.2 Wie wenig gerade der öffentliche Diskurs um die eigene Vergangenheit auf die Kategorie Nationalstaat verzichten kann, belegten indes die Sektionen zu Diktaturdeutungen und zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte: Nicht nur als Referenzpunkt für Wir-Identitäten, sondern ebenso im Sinne staatlicher Akteure, die in Deutungskämpfe eingreifen und die Diskursbedingungen festzulegen versuchen, bleiben sie eine kaum zu vernachlässigende Größe.
Überhaupt erweisen sich die Reibungsflächen zwischen Geschichtsaufarbeitung und Geschichtsforschung als zentrale Orte, an denen Deutungskämpfe ausgefochten werden. Mit dem für die Zeitgeschichte spezifischen Hinzutreten der Mitlebenden und Miterinnernden nimmt die Vielstimmigkeit der Debatten weiter zu, was neben den bereits genannten Sektionen vor allem die Beiträge zum Aufarbeitungsdiskurs um die DDR herausstellten. Gerade hierdurch werden Generationswechsel zu Gelegenheiten, hegemoniale Deutungen zu hinterfragen und neue Interpretationen anzubieten. Dies gilt nicht weniger für die Wissenschaft selbst, in die auch Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker stets ihre Primärerfahrungen einbringen.3
Nur am Rande thematisiert wurde die Abwesenheit von Deutungskämpfen, so etwa im Falle der Authentizität von Geschichtsdarstellungen in digitalen Spielen. Infolge weitgehend voneinander getrennter Diskurse um die adäquate Vergegenwärtigung der Vergangenheit büßt die Geschichtswissenschaft hier ihre Funktion als Korrektiv ein – mit dem Ergebnis, dass die transportierten Geschichtsdeutungen unhinterfragt bleiben. Wie die Beiträge der Sektion und die breite Beteiligung belegten, besteht durchaus Interesse daran, populäre und fachwissenschaftliche Debatten zusammenzubringen. Hier ist es Aufgabe der beteiligten Akteurinnen und Akteure, Diskursräume zu schaffen, in denen engagiert gestritten werden kann.
Anmerkungen:
1 Zum Begriff des Deutungskampfes beim diesjährigen Historikertag, vgl. die Überlegungen von Frank Görne, Historikertag 2021: Alte Geschichte, 11.12.2021, URL: https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5339.
2 Siehe hierzu den Beitrag von Julia Angster, Das Ende der Selbstverständlichkeit. Zum Bedeutungsverlust des nationalen Denkrahmens in der deutschen Geschichtswissenschaft, 08.09.2021, URL: https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5254.
3 Vgl. Hans Günther Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: APuZ 28 (2001), S. 15–30.