Die verschiedenen Felder der Geschichtskultur 1 in Deutschland zwischen 1850 und 1950 sind von der Geschichtswissenschaft und – in geringerem Umfang – von der Geschichtsdidaktik unterschiedlich intensiv erforscht worden. Generell kann gelten, dass Gebiete, die mit den traditionellen hermeneutischen und exemplarischen Verfahren untersucht werden können, das meiste Interesse gefunden haben; dazu gehören Denkmäler und Festkultur, historische Vereine und Museen, Historiengemälde und Jahrestage, Schullehrpläne und -bücher. Auch der wissenschaftliche Teil der Geschichtskultur, also die Historiker und ihre großen Themen, Thesen und Schriften, aber auch ihre Forschungskultur, etwa Historikertage, Netzwerke und Berufungspolitik, sowie schließlich ihre öffentliche und publizistische Wirkung können inzwischen in weiten Teilen als erhellt angesehen werden.
Grundsätzlich unstrittig ist auch, dass in dem genannten Zeitraum die im überwiegenden Teil der Bevölkerung herrschenden Vorstellungen über die Vergangenheit, aber auch über die Welt der Gegenwart außerhalb des eigenen Lebensbereichs, tatsächlich außer durch Erzählungen in einem erheblichen Ausmaß auch visuell vermittelt wurden. Bevor das Kino mit Spielfilm und Wochenschau in den 1920er-Jahren zum Massenmedium wurde, spielten in der Alltagswelt Bilder eine wesentliche Rolle, die von Künstlern oder Grafikern gestaltet und mit erläuternden Texten versehen waren. Diese fanden sich zum einen in verbreiteten Zeitschriften (‘Gartenlaube’, ‘Leipziger Illustrierte Zeitung’ u.a.), in illustrierten Büchern wie der ‘Geschichte Friedrichs des Großen’ von Franz Kugler mit den Bildern von Adolph von Menzel, auf Bildpostkarten 2 und eben in den Reklamesammelbildern, die mit unüberschaubar zahlreichen Motiven bis in die 1950er-Jahre in Serien Produkten des einfachen und gehobenen täglichen Bedarfs wie Zigaretten, Schokolade, Waschmittel, Schuhcreme u.a. beigegeben wurden. Eine Wirkung konnten diese Reklamebilder auch deshalb entfalten, weil sie gesammelt, getauscht und (abgesehen von den so genannten Kaufmannsbildern) in Alben eingeklebt wurden. Von Briefmarken, Streichholzschachteln und Geldscheinen unterschieden sie sich durch ihre Bildsprache, die einerseits mehr Informationen und ‘Narration’ bot, andererseits aber nicht so symbolisch und dicht war wie dort und daher keiner Dekodierung bedurfte. 3 Hinzu kamen natürlich die erläuternden Texte auf der Rückseite und dann im Sammelalbum.
Gerade diese Reklamesammelbilder im Format bis zu 12x8 Zentimeter, einfach und meist nicht von Künstlern höheren Ranges gestaltet, auf leichtem Karton farbig gedruckt, eignen sich wegen ihrer Verbreitung und der großen Vielfalt der Themen und Bildmotive sehr gut für eine nähere Untersuchung des „kollektiven Bildwissens“ und der „historischen Imagination“, wie Bernhard Jussen in dem wissenschaftlichen Aufsatz, der das Booklet bildet und bescheiden als ‘Einleitung’ bezeichnet wird, instruktiv begründet. Bildwissen und Imagination bildeten (und bilden) in hohem Maße das Repertoire und den Mechanismus der gedanklichen Konstruktion der (vergangenen) Wirklichkeit als Geschichte. Diese Konstruktion ist nur als komplexes kulturelles Phänomen zu verstehen; die Sonde der herrschaftskritischen Ideologieanalyse versagt hier weitgehend, da es keine Anzeichen dafür gibt, dass die ‘Macher’ der Sammelbilder ähnlich starke Lenkungsabsichten verfolgten, wie das etwa für den gesamten Bereich der obrigkeitlich organisierten Bildungseinrichtung Schule vorauszusetzen und auch nachgewiesen ist. Welche Rolle eine mögliche Marktorientierung bei der Auswahl und Gestaltung spielte, ist unklar, zumal es noch keine Marktforschung gab.
Im Auftrag des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen herausgegeben, bildet die vorliegende Publikation den ersten Beitrag zu einem „Atlas des Historischen Bildwissens“, der nunmehr in Bielefeld weitergeführt wird. 4 Dieser soll in bewusstem Anschluss an Aby Warburg das Material aufbereiten und zur Verfügungen stellen, das nötig ist, um den ‘iconic turn’ in der neueren Kultur- und Sozialgeschichte auf eine belastbarere empirische Basis zu stellen. Dabei geht es generell um massenhaft verbreitetes bildliches Material, „das bislang weder die Kunstgeschichte noch die Geschichtswissenschaft interessant genug für eine Bearbeitung hielten und das von Museen und Bibliotheken nicht oder nur unsystematisch gesammelt worden ist“, das aber für die Erforschung der „visuellen Popularisierungstechniken von Epochenvorstellungen“ von großem Wert ist (S. 4, 6). Sollte der Atlas, für den die CD bzw. DVD-ROM die ideale Publikationsform darstellt, dereinst einen Großteil des je verbreiteten Materials erfassen, werden sich viele der von Jussen (S. 7) gestellten Fragen vielleicht beantworten lassen: ob es etwa Konjukturen für bestimmte Themen gab, ob sich für die Zeit nach 1933 Akzentverschiebungen oder gar massive Umdeutungen beobachten lassen, etwa im Bild Karls des Großen, der damals zum Sachsenschlächter stigmatisiert wurde (und nach 1945 zum Vater eines integrierten (West-)Europa aufstieg), oder woher die seriell arbeitenden Grafiker die Ideen und Vorlagen für ihre Bilder hatten (manches war offenbar zeitgenössischen oder späteren, historisierenden Kunstwerken nachgebildet).
Den Auftakt des Atlas bilden nun „Liebig’s Sammelbilder“, „das langlebigste Produkt dieser Art, von der Druckqualität das beste und von der Ausführungsqualität der Bilder unter den besten“ (S. 8). Die knapp 7.000 Bilder in 1.138 Serien werden als geschlossenes Corpus vollständig vorgelegt, einschließlich der Stücke ohne historisches Thema. Damit erlangt die Sammlung auch einen Quellenwert für Fragen etwa nach dem Bild des technischen Fortschritts in der Zeit der Hochindustrialisierung, der zeitgenössischen Arbeitswelt in der Stadt und auf dem Land, der Darstellung fremder Völker oder der Geschlechter- und Generationenrollen. Man kann vereinfacht Ereignisbilder und Genrebilder unterscheiden. Anders als bei den Zigarettenbildern fehlen Film- und Sportstars ganz, die aktuelle Politik wurde nur gelegentlich thematisiert. Da die Bilder zusammen mit dem Produkt international vertrieben wurden, findet sich unter ihnen weniger Nationalistisches und generell auch weniger Politisches, als man ansonsten erwarten würde. 5 Allerdings gab es in der Zeit des Nationalsozialismus häufiger deutsche Serien als zuvor. Daneben standen aber zu allen Zeiten universalhistorische Serien nach dem Muster „xy im Wandel der Epochen“.
Das Produkt: Das war „Liebig’s Fleischextract“, seit 1864 von der „Liebig Extract of Meat Company“ mit Sitz in Antwerpen vertrieben und einer der ersten und zugleich bekanntesten Markenartikel in der Palette industriell hergestellter Lebensmittel. Der Erfolg der Werbung für das durchaus nicht preiswerte Produkt, das sich nur eine gehobene bürgerliche Minderheit der Bevölkerung leisten konnte 6, beeindruckt. Jussen zitiert einen Artikel im Fachorgan der Werbewirtschaft aus dem Jahr 1895: „Wer Liebig ist, das wissen wir ebenso, wie wir wissen, wer Bismarck oder Bebel ist.“ Die Liebigbilder im Format 11x7 Zentimeter gab es von 1873 bis 1940; sie waren künstlerisch anspruchslos, aber aufwendig im Chromolithografie-Verfahren gedruckt und erfreuten sich bald großer Beliebtheit bei Sammlern. Mit ihren Erläuterungstexten auf der Rückseite waren sie nicht zum Einkleben in Alben bestimmt.
Die Handhabung ist einfach; die Scheibe läuft unter Windows (95 bis XP) und MacOS. Versuche, das Rezensionsexemplar unter der Software der ‘Digitalen Bibliothek’ aufzurufen, scheiterten allerdings auf mehreren Rechnern, auch nach einer Neuinstallation von der mitgelieferten Installations-CD: Die eingelegte CD wurde nicht erkannt. Dagegen gab es mit dem speziellen Yorck-Browser keine Probleme. Man sollte im Verlauf der Installation der Empfehlung folgen und das gesamte Material in Diagröße und Voransichtsgröße auf der Festplatte ablegen; die Recherche geht dann sehr viel schneller. Die Menüführung ist übersichtlich, man findet sich rasch zurecht. Das Material kann nach Seriennummern und Erscheinungsjahren aufgerufen werden, aber die Recherche wird sich meist der Volltextsuchfunktion bedienen. Jede Serie ist zusätzlich mit bis zu fünf Klassifikationen aus einer Liste von 48 verschlagwortet, darunter etwa Allegorische Darstellung, Arbeitswelt, Geschichte (wirft 1.302 Bilder aus), Lebensalter, Sagen, Militärwesen, Religion und Städte. Die hohe Auflösung der eingescannten Bilder ermöglicht auch Detailstudien im Vollbildmodus. Export in andere Anwendungen und Ausdruck bereiten ebenfalls keine Schwierigkeit. Angesichts des moderaten Preises ist die Edition auch für Nutzer attraktiv, die keine wissenschaftliche Untersuchung im o.g. Sinn vorhaben, sondern ‘nur’ für den Unterricht an Schule und Hochschule ein unverbrauchtes Bildmotiv suchen. Großen Spaß macht es auch, einfach in die Sammlung einzutauchen und sich auf Entdeckungsreise in eine Zeit zu begeben, als man noch neugierig auf die Welt war (die vergangene wie die zeitgenössische) und sie zugleich anschaulich erschlossen in der Sammelkiste haben konnte, geordnet in Sechserpacks.
Anmerkungen:
1 Hier mit J. Rüsen verstanden als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft“: Rüsen, Jörn, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Historische Orientierung, Köln 1994, S. 211-234, hier: S. 213. Der Begriff umfasst alle Formen tätigen Umgangs mit Geschichte, neben der wissenschaftlichen Forschung auch die künstlerische Gestaltung, politische Instrumentalisierung, mediale Verbreitung, schulische und außerschulische Vermittlung und Aneignung von Geschichte.
2 Auch sie werden jetzt gesammelt publiziert, wenngleich Vollständigkeit dabei nicht zu erreichen sein wird. Vgl. Deutsches Historisches Museum (Hg.), Kaiser, Führer, Republik. Politische Postkarten vom Kaiserreich bis zur Besatzungszeit (Digitale Bibliothek 92), Berlin 2003; Jaworski, Rudolf, Alte Postkarten als kulturhistorische Quellen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 88-103.
3 Für ein ‘Schulbeispiel’ s. Walter, Uwe, Germania, Zahnrad, Hansaruhm – Der „blaue Hunderter“ von 1908 als Quelle für die Mentalität der wilhelminischen Epoche, in: Geschichte lernen 54 (1996), S. 55-58; für eine andere Quellengruppe vgl. jetzt Eilers, Silke, Handbuch der Phillumenie. Zündholzetiketten als historische Quelle. Eine bildkundliche Untersuchung, Ahlen-Dolberg 2003.
4 Vgl. www.bielefelder-schule.de.
5 Generell auffallend selten für eine Zeit, in der die „Judenfrage“ so intensiv diskutiert wurde, kommen Juden und jüdische Themen vor. In der Serie 746 von 1909 wurde das Laubhüttenfest beschrieben; in der Serie 923 „Alte Volksheiligtümer“ aus dem Jahr 1925 gab es ein Bild zur Klagemauer.
6 Also das Publikum, das auch ein mehrbändiges Lexikon im Hause hatte. Ein Vergleich mit dessen Bebilderung könnte interessant sein, wenn es z.B. darum geht, den ‘kolonialen Blick’ auf die so genannten ‘Naturvölker’ zu untersuchen.