Seit 1931 ist „Keesing’s Archiv der Gegenwart“ (AdG) ein treuer, meist nüchterner, aber nichtsdestoweniger zeitgebundener Beobachter der aktuellen Politik. Eine in St. Augustin bei Bonn arbeitende Redaktion fasst die Meldungen der großen Nachrichtenagenturen, Tages- und Wochenzeitungen zusammen und bemüht sich dabei um eine möglichst neutrale Berichterstattung. Nun endlich hat es dieses einmalige Nachschlagewerk auch in die Reihe der „Digitalen Bibliothek“ geschafft (als Band 78), allerdings nicht in seinem Gesamtumfang, sondern in Form der im Jahr 2000 in zehn Bänden erschienenen Sonderausgabe zur deutschen Nachkriegsgeschichte, immer noch stattliche 10.236 Buchseiten dick.
Zum Inhalt: Das Schwergewicht der Darstellung liegt auf der Innen- und Deutschlandpolitik. Danach folgen die Außen- und Wirtschaftspolitik sowie Angelegenheiten der Bundesländer, schließlich Rechtswesen, gesellschaftliche und kulturelle Themen, sofern sie in die Sphäre der Politik reichen. Langfristige, strukturelle sowie eher unpolitische Entwicklungen treten - wie bei einem positivistischen Ansatz nicht anders zu erwarten - kaum in Erscheinung.
Gerade die großen innen- und deutschlandpolitischen Debatten prägen diese Chronik: Der Weg vom Marshallplan 1948 bis zur doppelten Staatsgründung 1949, die zahlreichen deutschlandpolitischen Konferenzen und Krisen der 50er-Jahre, gipfelnd in der Berlinkrise 1958/61 und begleitet von innerer Konsolidierung, die gesellschaftlichen Umbrüche der 60er, die sozialdemokratische Ostpolitik und die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus in den 70ern, das „Wiederaufleben“ des Kalten Kriegs um 1980, die 18 Jahre dauernde Ära Honecker und die 16 Jahre der Ära Kohl, die Wiedervereinigung 1989/90 und ihre innen-, gesellschafts- und außenpolitischen Folgen. Besonders gut dokumentiert sind insbesondere die zahlreichen Wahlen und Regierungsbildungen. Aber auch etliche Ereignisse von lediglich mittelfristiger Bedeutung bleiben hier festgehalten, beispielsweise die Aufstände in der DDR 1953, die Aufsehen erregenden NS-Prozesse um Adolf Eichmann in Israel und Auschwitz in Frankfurt, Ölkrise, KSZE, Parteispendenaffären, Tschernobyl, Oderhochwasser – die Liste ließe sich nach Belieben verlängern.
Der ereignisbezogene aktuelle Blick lässt indes auch manchmal Bedeutendes unbeachtet: Die Frauen- und die Umweltbewegung tauchen in dieser Chronik kaum auf. Wichtige Episoden der bundesdeutschen Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fehlen, beispielsweise der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 oder der Historikerstreit 1986. Auch das Lüth-Harlan-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958, das für die Entwicklung des westdeutschen Rechtsstaates und die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur bestimmend geworden ist, fehlt vollständig. Die Vernachlässigung insbesondere der kulturellen Sphäre ist bereits genannt worden.
Zur Darstellung: Während in den ersten Jahrzehnten die tagesbezogene Berichterstattung dominiert, überwiegen seit den 80ern Artikel, die die um ein Thema kreisenden Ereignisse mehrerer Wochen zusammenfassen. In den letzten Jahren gibt es fast nur noch Sammelartikel, die auch unterschiedlichste Ereignisse bündeln. Informationsumfang und Detailreichtum nehmen über die Jahre hin deutlich ab: Bis Anfang der 70er-Jahre werden pro Jahr durchschnittlich zwischen 1.000 und 1.400 Seiten gefüllt (mit einigen Spitzen 1954, 1970 und 1972), in den 80er und 90er-Jahren schwankt die jährliche Seitenzahl dann nur noch zwischen 500 und 800 (mit einem Ausreißer 1990). Die Texte wurden in ihrem Originalzustand belassen, lediglich die Fußnoten in den Fließtext integriert. Abbildungen gibt es keine, dafür ist zu jedem Datum der Wochentag mit angegeben. Etwas störend sind die zahlreichen Rechtschreib- bzw. Texterkennungsfehler.
Zum Quellenwert: Die Artikel geben veröffentlichte Meinung wider, also das, was ein interessierter Zeitgenosse aktuell lesen und wissen konnte. Nachträgliche Richtigstellungen findet man allenfalls zwischen den Zeilen. Ausführlich wird aus Pressemitteilungen, Parlamentsreden, Gesetzestexten, Richtersprüchen und Zeitungsartikeln zitiert. Gerade der intensive Meinungsaustausch zwischen West- und Ostdeutschland in Form von Regierungserklärungen, Ansprachen, Debattenbeiträgen, Beschlüssen, offenen Briefen usw. ist in dieser Ausführlichkeit und Vollständigkeit in keiner anderen Publikation zu finden. Zitate werden durch ihren Kontext motiviert und erläutert, wissenschaftliche Quellenkritik sollte man hingegen nicht erwarten.
Zur Software: Zu den Vorzügen der mittlerweile bewährten Arbeitsoberfläche der Digitalen Bibliothek braucht nicht mehr viel gesagt zu werden. Die umfangreichen Suchfunktionen bewähren sich gerade bei einem so umfangreichen Text wie diesem. Allerdings sollte man mit Platzhaltern und booleschen Operatoren umgehen können. Gerade bei der Suche nach Institutionen und Staaten empfiehlt es sich, mehrere Synonyme und Abkürzungen durch ein „ODER“ zu verknüpfen (z.B. „Bundesverfassungsgericht / BVG“ oder „Kambodscha / Kampuchea“). Auch die Schreibweise von Personen- und Ortsnamen ist bisweilen eigentümlich (z.B. „Kadhafi“), nicht zu vergessen die deutschen Namen osteuropäischer Städte. Beim Kopieren von Text in andere Anwendungen werden die bibliografischen Angaben einschließlich der Seitenzahlen der Buchausgabe mit übernommen. Etwas ungewöhnlich ist allenfalls, dass an Stelle eines Personen- und Sachregisters eine Liste aller Artikel in der Rubrik „Tabellen“ zu finden ist. Für Neulinge liegt eine 30-seitige Einführung in die Software bei. Glücklicherweise unterstützt die Digitale Bibliothek seit kurzem auch MacOS.
Fazit: Ein wichtiges Nachschlagewerk, eine wichtige Quellensammlung zur deutschen Zeitgeschichte liegt endlich in digitaler Form vor. Diese gewaltige Datenbasis zum politischen Leben in „Deutschland (West-) (Ost-)“ wird durch die Suchfunktionen der „Digitalen Bibliothek“ vorzüglich erschlossen. Eine Empfehlung für jeden Zeithistoriker.