Durch den Gestus der Originaltöne, so der Covertext der CD, gelinge es der Autorin Marianne Weil, einen ironisierenden Subtext herzustellen, der den ersten Bundeskanzler sowohl persifliere als auch würdige. Die Persiflage darf man als gelungen betrachten. Dass das Hörspiel Konrad Adenauer würdige, erschließt sich demgegenüber nur schwer. Denn die Botschaft der O-Ton-Montage ist klar, das zeigt schon ihr Titel: Adenauers Behauptung, die Wiedervereinigung sei Ziel seiner Politik, sei ein Märchen gewesen, und keiner habe das besser gewusst als der Märchenerzähler selbst. Wenn auch stellenweise durchaus witzig, zeichnet Marianne Weil hier ein Bild Adenauers und seiner Deutschlandpolitik, wie es typisch war für den Nationalneutralismus der 1950er-Jahre, zu dem sich mit Kurt Schumacher, Gustav Heinemann oder Martin Niemöller die schärfsten Gegner der Westintegrationspolitik des ersten Kanzlers bekannten. Wer also von Weils CD einen zwar distanzierten, kritischen, durch die Montagetechnik gelegentlich verfremdenden, aber letztlich doch gelassen abwägenden Blick auf Adenauer und seine Deutschlandpolitik erwartet, der wird enttäuscht. Hier wird nicht, wie angekündigt, ironisiert, sondern ins Lächerliche gezogen. Und wer sich nur über die Adenauer-O-Töne, seinen uns heute ungewohnten rheinischen Singsang amüsieren möchte, der ist mit anderen Audioprodukten besser – und noch amüsanter – bedient: beispielsweise mit den alten, schon aus den 1960er-Jahren stammenden Adenauer-Parodien eines Karl-Heinz Wocker („Lernt Rheinisch mit dem Bundeskanzler“).
Und doch ist die CD hörenswert – jenseits ihrer überraschend altbackenen politischen Botschaft. Verlässt man nämlich den Hauptstrang der Erzählung, Adenauers Deutschlandpolitik, und konzentriert sich auf die Nebenstränge, dann vernimmt man andere Töne. Man entdeckt dann Facetten eines (Ton-) Bildes der Ära Adenauer, das zwar geprägt wird von kritischer Ironie und humorvoller Distanz, das aber nicht in wohlfeilem retrospektivem Besserwissen den Stab über dem „Alten aus Rhöndorf“ bricht. Dieses Einfühlungsvermögen, das Gespür für den Geist vergangener Zeiten und ihren Eigen-Sinn hatte bereits andere Dokumentationen oder O-Ton-Hörspiele von Marianne Weil ausgezeichnet, die sich immer wieder mit der Zeit des Kalten Krieges und der Geschichte von Bundesrepublik und DDR beschäftigt hat. Dass diese Qualitäten auch in Weils jüngstem Hörspiel nicht völlig verloren gehen, liegt nicht zuletzt an Elke Heidenreich als Sprecherin. Es sind ihre Töne und ihr Sprachstil, die Adenauer, die Deutschen und ihre Zeit nicht verächtlich machen.
Man muss freilich schon recht gut über die Gründerjahre der Republik informiert sein, wenn man die Andeutungen und knappen Hinweise, die witzelnden Anmerkungen über die 1950er-Jahre wahrnehmen und einordnen möchte. Ist man dazu in der Lage – und man muss dazu kein Zeithistoriker sein –, dann taucht, gleichsam als Bühnenbild zum „Märchen von der Wiedervereinigung“, ein buntes kulturgeschichtliches Gemälde der Ära Adenauer auf, das ideengeschichtliche Entwicklungslinien (Antikommunismus, Antitotalitarismus, „Abendland“-Denken) ebenso enthält wie Hinweise auf Alltagskultur oder Konsumverhalten der Wirtschaftswundergesellschaft. Als roter Faden zieht sich durch diese Passagen des Hörspiels, wenn auch nicht so formuliert, die These von der Dynamik eines zukunftsorientierten Wiederaufbaus, der zwar als Referenzhorizont vielfach die verloren gegangene Normalität der Vorkriegsjahre, wenn nicht gar des Kaiserreichs vor 1914 hatte, der aber gleichzeitig die Vergangenheit hinter sich zu lassen bestrebt war.1 Insofern ist der in das Hörspiel eingeblendete Schlagertext „Morgen lacht uns wieder das Glück – Gestern liegt schon so weit zurück“ zwar auf den ersten Blick passend, auf den zweiten Blick indes nur halb zutreffend. Aber Schlagertexte sind ja bekanntlich keine differenzierten wissenschaftlichen Aussagen.
Der Politikstil und die politische Rhetorik der Nachkriegszeit – und damit wesentliche Elemente der politischen Kultur – sind uns heute fremd geworden. In den O-Tönen des Hörspiels tauchen sie wieder auf: die Schärfe der politischen Auseinandersetzung, die Simplizität von Argumentation und Sprache oder eine politische Metaphorik, die klare, aber einfache Weltbilder und Politikverständnisse widerspiegelte. Adenauer mag diese Simplizität in besonderer Weise verkörpert und artikuliert haben – das demonstriert das Hörspiel durchgängig, wenn auch in durch die Montagetechnik zugespitzter Form. Aber der „Alte“ stand damit keineswegs allein, sondern repräsentierte mindestens eine ganze Generation nicht nur von Politikern, sondern von Deutschen, deren Sprache auch ihre Ernüchterung und Desillusionierung nach Diktatur, Krieg und Völkermord reflektierte. Mit dieser Übereinstimmung wird man einen wesentlichen Teil von Adenauers politischem Erfolg erklären können. Das ist heute nicht leicht zu verstehen und nachzuvollziehen, und auch Weil tut sich erkennbar schwer damit. Doch beginnen wir nicht heute zuweilen die klar konturierten, wenn auch oft holzschnittartigen und übermäßig polarisierenden politischen Positionsbestimmungen der Vergangenheit zu vermissen, an deren Stelle ja nicht Differenzierung und Nuancierung getreten sind, sondern inhaltsleere Phrasen und belanglose Floskeln? Man muss Adenauer nicht mögen, um darüber ins Nachdenken zu geraten.
Was Adenauers Außen- und Deutschlandpolitik angeht, so irritiert nicht nur deren politische Verurteilung. Man mag die Politik des ersten Bundeskanzlers kritisieren, und dafür gibt es Ansätze genug. Aber muss man nicht, gerade mit Blick auf die Situation der sich verschärfenden und vertiefenden deutschen Teilung zu Beginn der 1950er-Jahre, jeder deutschlandpolitischen Konzeption, stamme sie nun von Kurt Schumacher, Jakob Kaiser oder Konrad Adenauer, eine grundsätzliche Ernsthaftigkeit zubilligen und ihr die prinzipielle Zielsetzung einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zugestehen? Weils These, ja ihr Vorwurf eines „Märchens von der Wiedervereinigung“ tut das nicht. Vielleicht kann sie es nicht tun, weil uns heute das Verständnis für diese Ernsthaftigkeit von politischem Handeln abhanden gekommen ist. Dass „alles anders gekommen ist, als Adenauer es vorhergesagt hatte“, ist ein zu billiges Argument gegen seine Politik. Es bedarf gar keiner präzisen Verweise auf Quellenlage und Forschungsstand, um zumindest die grundsätzliche Plausibilität des Adenauerschen Arguments erkennen zu können, nur über die feste Westintegration der Bundesrepublik als Teil einer westlichen „Politik der Stärke“ werde man die Wiedervereinigung „in Frieden und Freiheit“ erreichen. Ob man diesen Kurs dann – in der Zeit selbst wie in der Retrospektive – für richtig hält, ist eine andere Frage. Wer Adenauers Westpolitik verurteilt, der darf ihr allerdings nicht die Ostpolitik Willy Brandts als das bessere und Erfolg versprechendere Konzept entgegenhalten, sondern müsste sich vor allem mit den nationalneutralistischen Modellen der 1950er-Jahre auseinandersetzen, nicht zuletzt den Deutschlandplänen der SPD.
Dies freilich kann nicht die Aufgabe eines Hörspiels sein, welches sich an ein breites Publikum richtet. Dennoch gilt: Nicht nur wissenschaftliche Geschichtsbetrachtungen entwerten sich selbst, wenn sie ihre Urteilsbildung um den Preis der Fairness betreiben. Auch künstlerische Freiheit kann in diesem Fall kein Argument sein. Das „Märchen von der Wiedervereinigung“ hat es in der Geschichte der Bundesrepublik durchaus gegeben. Doch nicht Adenauer hat es erzählt. Das „Märchen von der Wiedervereinigung“ stammt aus den 1970er und 1980er-Jahren. Es trug den Untertitel „Lebenslüge der Deutschen“ und markierte damals – durchaus über Parteigrenzen hinweg – einen altbundesrepublikanischen Grundkonsens. Doch das ist eine andere Geschichte, die ebenso ein O-Ton-Hörspiel wert wäre.
Anmerkung:
1 Als grundlegendes Werk vgl. dazu Schildt, Axel; Sywottek, Arnold (Hgg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.