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Title
Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945.


Author(s)
Trevisiol, Oliver
Series
Studien zur historischen Migrationsforschung 18
Published
Göttingen 2006: V&R unipress
Extent
237 S.
Price
39,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Murat Akan, Freier Mitarbeiter der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums Berlin

Oliver Trevisiol versucht mit seiner zum Zwecke der Veröffentlichung überarbeiteten Dissertation aus dem Jahre 2004, die Einbürgerungspraxis des deutschen Nationalstaats im Zeitraum der Jahre 1871 bis 1945 einmal umfassender darzustellen. Dieses Projekt erscheint gleich aus mehrerer Hinsicht interessant. Zum einen findet sich bis heute keine wissenschaftliche Aufbereitung des tatsächlichen Verlaufs der Einbürgerung für diesen Zeitraum. Des Weiteren wirkt die Einbürgerungspraxis des Deutschen Reiches bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus Trevisiols Sicht trotz aller Umbrüche dieser Zeit als ein mehr oder weniger kontinuierlicher geschichtlicher Prozess. So gesehen erweist sich Trevisiols Buch auch für die gegenwärtige Migrationsdebatte als durchaus erhellend, denn es zeigt, dass sich hinter der vordergründig auf Dauer angelegten gesetzlichen Bedeutung der deutschen Staatsangehörigkeit 1 je nach gewähltem Zeitpunkt mitunter ganz unterschiedliche Praxisformen der Einbürgerung verbergen können. Neben der historischen Interpretation der bloßen Rechtslage und der behördlichen Umsetzung dieser Richtlinien liefert Trevisiols Beitrag aber auch Zugänge zum sozialstrukturellen Hintergrund, den jeweiligen Traditionen und der daraus resultierenden Motivlage des einzelnen Migranten.

Als Quellenbasis für sein Buch zieht Trevisiol die (mitunter nicht immer vollständig erhaltenen) amtlichen Akten der Bundesländer Preußen, Bayern und Baden heran. Die Einwanderungssituation in diesen drei Ländern war vergleichbar: In allen drei Bundesländern waren die Einwanderungsraten nach einem generellen Anstieg um 1890 stets relativ hoch; die Bevölkerungsgruppe der Eingebürgerten sowie der Antragssteller war, nach Herkunftsländern sortiert, durchweg heterogen angelegt.

Trevisiols Buch umfasst sieben thematisch klar gegliederte Kapitel. Zunächst werden die Gesetze und deren Anwendung in den drei behandelten Ländern erläutert. Dann wird auf die konkreten Antragsteller und deren sozialen Hintergrund näher eingegangen. Im dritten Kapitel werden demgegenüber die Veränderungen der Verwaltungspraxis behandelt. An diese zeitliche Darstellung schließt ein Kapitel an, in dem Trevisiol innerhalb der Entwicklung der Einwanderungspolitik in den drei untersuchten Ländern einige Diskriminierungsmuster näher herausarbeitet. Diese Veränderungen der Einbürgerungspraxis werden von Trevisiol danach mit dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des NS-Regimes abgeglichen. Am Schluss gibt Trevisiol einen Ausblick auf die Nachkriegszeit in Deutschland.

Zu Anfang stellt Trevisiol verstärkt auf die Veränderungen der deutschen Gesetzeslage ab. Zentral scheint hier vor allem die erste reichsweite Verwaltungsrichtlinie vom 1. Juni 1921, die den bis dahin recht großen Ermessensspielraum der einzelnen mit der Einbürgerung betrauten Behörden mit weitreichenden Auflagen versah. Mit der Verwaltungsrichtlinie von 1921 wurde allerdings zum ersten Mal von der im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Einzelbetrachtung des Antragsstellers abgegangen: wichtig war jetzt, ob das Kollektiv, dem man den Einbürgerungswilligen zuordnete, auf deutscher Seite generell erwünscht war oder nicht. Der Anlass für diese Veränderung war das durch die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg entstandene politische Bedürfnis, jene Menschen aus den betreffenden Regionen einzugliedern, die ethnisch-kulturell eine gewisse Beziehung zum Deutschen Reich besaßen. Erst durch diese Verwaltungsrichtlinie wurden die Prädikate „fremdstämmig“ und „deutschstämmig“ beim Thema Einbürgerung zum wichtigsten Kriterium. Wie Trevisiol aber auch zeigt, existierte die Tendenz der Verwaltung, sich an der Idee der „Volkszugehörigkeit“ zu orientieren, im Grunde schon vorher. Diese These begründet er unter anderem damit, dass das Prinzip des „ius sanguinis“ aus dem preußischen Untertanengesetz von 1842 im gesamten Verlauf der deutschen Geschichte über als wichtige Grundlage der Einwanderungspraxis durchweg erhalten geblieben ist – wobei die Anwendung dieses Prinzips im Rahmen von Einbürgerungsverfahren seiner Ansicht nach immer auch zu weitergehenden Definitionsversuchen des Begriffs der „Volkszugehörigkeit“ führt.

Nach den historischen Veränderungen auf der Ebene der jeweils herrschenden Gesetzeslage geht Trevisiol auf den Bereich der Umsetzung solcher Einbürgerungsbestimmungen ein. Dabei stellt er fest, dass in den einzelnen Ländern auch noch bei gleicher Gesetzeslage zum Teil ganz unterschiedliche Anwendungsregeln vorherrschten. Folgt man Trevisiol, lassen sich für den gesamten Beobachtungszeitraum seiner Analyse immer wieder Hinweise darauf finden, dass es zwischen den Vorschriften zur Einbürgerung und der tatsächlichen Ausgestaltungspraxis dieser Regeln durchaus Diskrepanzen gab – etwa in der Weimarer Republik, wo Einbürgerungen am Widerstand der einzelnen Bundesländer vorbei durchgeführt wurden; oder für die Zeit des generellen Einbürgerungstopps ab 1942. An diesen Stellen des Buchs wird besonders deutlich, dass den Behörden bei der Ausgestaltung der vordergründig standardisierten Einbürgerungsverfahren durchweg ein recht weiter Ermessensspielraum zur Verfügung stand. Im Anschluss an die Darstellung der Diskrepanzen, die im Verlauf der deutschen Einbürgerungspraxis immer wieder entstehen, untersucht Trevisiol weitergehend, welchen Einfluss die jeweils herrschende politische Lage auf die Durchführung der Einbürgerungen besaß. Dieser Zusammenhang wird in seinem Buch anhand von drei Beispielen erörtert: im Bezug auf die politische Auseinandersetzung zum Thema der doppelten Staatsbürgerschaft; im Hinblick auf den Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg; und drittens im Bezug auf gewisse nichtstaatliche Akteure, die im Rahmen der politischen Gestaltung der einzelnen Einbürgerungsverfahren eine Rolle spielten.

Rassismus und Antisemitismus werden im Buch als eigenständige Wirkungsfaktoren der Einbürgerungspraxis in einem gesonderten Abschnitt behandelt. An diesen Stellen geht es Trevisiol darum, bestimmte, zeitlich überdauernde Diskriminierungsmuster aufzuzeigen, zu denen er neben den soeben genannten auch politische und die geschlechtsspezifische Diskriminierungsformen zählen. Politisch aktive Sozialisten wurden zum Beispiel meist grundsätzlich nicht eingebürgert. Die Staatsangehörigkeit der Frauen hing dem damaligen Verständnis nach ohnehin allein von der Nationalität ihres Ehemannes ab. Trevisiol verweist aber auch auf generelle Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten. „In Bayern existierten keine besonderen Einbürgerungsvorschriften für Juden. Die jüdische Religion an sich galt nicht als Ablehnungsgrund.“ (S. 157)

Die im NS-Staat entwickelten Formen der kollektiven Einbürgerungen werden im Buch gesondert behandelt. Trevisiol geht hier vor allem auf die Bedeutung der Deutschen Volksliste von 1941 ein, sowie auf die ab 1942 gültige generelle Einbürgerungssperre. Am Ende seiner argumentativen Ausführungen betont Trevisiol, dass das Reichseinbürgerungsgesetz von 1913 trotz aller politischen Umbrüche im Grunde genommen bis ins Jahr 1999 gültig war. So erinnert beispielsweise die Einbürgerungsrichtlinie von 1953 ihrem Wortlaut nach stark an die Richtlinie von 1921. Zur Bestätigung dieser These fehlt bislang noch das Datenmaterial, denn die Einbürgerungsakten aus der Zeit nach 1945 sind aufgrund der Sperrfristen bis heute nicht einsehbar. Zu betonen ist, dass Trevisiol bei seiner historischen Betrachtung der deutschen Einbürgerungspraxis nicht nur auf die langfristige Ähnlichkeit der dahinter stehenden Rechtssätze hinweist, sondern auch die wichtigen diesbezüglichen politischen Zäsuren der damaligen Zeit verdeutlicht; der Einfluss des NS-Regimes etwa, oder auch die Einführung des bundesrepublikanischen Grundgesetzes.

Das Bemerkenswerte an Trevisiols Buch „Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945“ sind die plastischen Darstellungen der herangezogenen Quellen und deren Arrangement innerhalb des Textes. So findet man etwa im 4. Kapitel detaillierte Beschreibungen zum Ablauf einzelner Einbürgerungsverfahren. In Trevisiols Schilderungen gehen an dieser Stelle sowohl die Anträge einzelner Einbürgerungswilliger als auch die dementsprechenden Reaktionen und Vermerke der jeweils betrauten Behörden ein. Wie Trevisiol bemerkt, bekam der Antragssteller meist überhaupt keinen Einblick in die Richtlinien und die Entscheidungsroutinen, die im Rahmen der eigenen Einbürgerung unter Umständen angefallen waren. Von amtlicher Seite konnten oftmals schon die gesetzlichen Mindestanforderungen (1. Geschäftsfähigkeit 2. Unbescholtenheit 3. Wohnung oder Unterkommen und 4. Unterhaltsgewährleistung) überaus dehnbar interpretiert werden.

Trevisiol zeigt auch mit seinem Buch, dass Deutschland schon seit langer Zeit als ein Einwanderungsland bezeichnet werden kann – dass über ein Drittel der deutschen Staatsbürger aus dem familiären Hintergrund einstmals Zugereister entstammen, ist eine Erkenntnis, die verwundern mag.

Anmerkungen:
1 Vgl. Gosewinkel, Dieter, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen, 2001; in: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft (Band 150) 2004.

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