Die Doktorandenforen des HAIT widmen sich dem Spannungsfeld der Demokratie- und Diktaturforschung im 20. und 21. Jahrhundert. Nachdem zuletzt die Methoden, Theorien und Perspektiven Gegenstand des Forums waren, wird dieses Mal der Herrschaftsalltag in den Blick genommen werden. Wir wollen uns diesem Aspekt über die Biographie- und Organisationsforschung zuwenden. Für unser Doktorandenforum laden wir dafür Nachwuchswissenschaftler:innen ein, die in diesen Bereichen forschen, ihre Projekte vorzustellen. Wir wollen dabei sowohl die Mikroebene betrachten, z.B. durch die Perspektive von Mitgliedern in Massenorganisationen, als auch die Makroebene, z.B. durch die Darstellung von Ministerien und Führungspositionen. Wir hoffen, dass wir auf diese Weise das Verhältnis von Individuum und Organisation gemeinsam ausleuchten können, und anhand von theoretischen Erörterungen und konkreten Fallbeispielen aus Historie und Gegenwart über dieses Spannungsfeld in einen Austausch treten können.
Wie prägten/prägen Individuen die Organisationen, in denen sie aktiv waren/sind, welche Spielräume hatten/haben sie? Und auf welche Weise formten/formen Organisationen die in ihnen aktiven Individuen? Lassen sich eigen-sinnige Handlungen der verschiedenen Akteure erkennen oder aber auch Resistenzen gegenüber Einflüssen und Herrschaftspraktiken?
Diese Fragen beschränken sich selbstverständlich nicht auf den Nationalsozialismus und die DDR, sondern sind an die gesamte Bandbreite der Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts anschlussfähig.
Im Geiste des letzten interdisziplinär angelegten Doktorandenforums des HAIT sollen auch diesmal Nachwuchswissenschaftler:=inen verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen Punkte in den laufenden Dissertationsprojekten austauschen. Wie können die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Organisation beschrieben werden? Bewähren sich die jeweils erprobten Beschreibungen und Fokussierungen aus der Politik- Sozial- und Alltagsgeschichte, so dass eine neue Entfachung des Streits über das Individuum unnötig erscheint? Oder ist es notwendig, die Frage nach der Wirkmächtigkeit des Individuums neu zu stellen? Lässt sich dadurch der Blick auf Gruppen und Gesellschaften erweitern? Ist es aufgrund neuer Quellen, Methoden, Theorien und technischen Möglichkeiten gar geboten, das Wirken des Individuums in Organisationen und das Verhältnis von Individuum und Organisation neu zu beschreiben und zu untersuchen? Falls dem so ist: aus welchen Gründen und mit welchen Ansätzen sollte dies geschehen? Folgende Aspekte sollen dabei für das Forum als Leitthemen dienen:
Kontinuitäten und Brüche
An historischen Wendepunkten lassen sich Wechselwirkungen zwischen Individuen und Organisationen beobachten - Was ist entscheidend bei der Diktaturdurchsetzung beziehungsweise Demokratisierung? Inwieweit hatten Individuen (im Rahmen ihrer persönlichen Handlungsspielräume) Einfluss auf die Neugestaltung von Organisationen in sich verändernden Gesellschaften aus? Oder konnten neue Organisationen ganz im Gegenteil auch die Individuen und ihre Anschauungen im Hinblick auf neu entstehende Gesellschaftsformen prägen? Dieser Aspekt lässt sich nicht nur auf das Feld staatlicher Organisationen beschränken, sondern ganz im Gegenteil auch auf Parteien, Wirtschaft, Freizeitbereiche sowie Kultur- und Sportorganisationen ausweiten.
Unterschiede und Gemeinsamkeit zwischen Stadt und Land, Großstadt und Provinz
Der Einfluss von Organisationen auf das Leben der Bevölkerung kann erheblich zwischen Stadt und Land variieren. In beiden Räumen gleichmäßig Bedeutung zu erlangen, stellt Organisationen vor große Herausforderungen. Erreichen staatliche oder parteiliche Organisationen auch ländliche Regionen oder haben lokale Organisationen, wie z. B. Vereine, einen größeren Einfluss in der Provinz? Oder bietet der anonyme urbane Raum dem Individuum eher Möglichkeiten sich dem Zugriff von Organisationen zu entziehen?
Verhältnis Führung und Untergebene
Was macht eine Organisation und ihre Abläufe effektiv und funktionierend? Hier lassen sich verschiedene Führungsstile der Leitungsebene betrachten als auch die Suborganisation der “Untergebenen”. Welche Rolle spielt der Geschlechteraspekt dabei? Dies lässt sich auf wirtschaftliche Organisationen, wie Unternehmen, Betriebe etc., und ihre Leitungsebenen sowie die Angestellten und deren mögliche Zugehörigkeit zu Gewerkschaften oder Verbundenheit mit den Betriebsräten übertragen. Aber natürlich kommen hier auch andere Organisationen wie Parteien, mit ihrer Führungsebene und der “Basis”, als auch große Sportvereine mit ihrer Vereins- bzw. Geschäftsführung und den Mitgliedern und Fangruppierungen in Betracht.
Internationale Perspektive
Die Fragen und Komplexe die bisher aufgeworfen wurden, sollen sich ausdrücklich nicht auf den deutschen Raum beschränken. Dabei bieten sich die verschiedenen staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas an, aber natürlich auch das faschistische Italien sowie das franquistische Spanien. Hier können die Organisationen und die in ihnen wirkenden Individuen sowohl im Übergang von der Demokratie in die Diktatur als auch umgekehrt betrachtet werden. Die Betrachtung außereuropäischer Gesellschaften sind ebenfalls erwünscht.
Wir laden alle Nachwuchsforscher:innen ein, die sich in ihren Arbeiten mit Biographie-und Institutionsgeschichte im weitesten Sinne beschäftigen, zusammenzukommen, und über die hier skizzierten Fragestellungen ins Gespräch zu kommen und in Austausch zu treten.
Das HAIT Doktorandenforum versteht sich als interdisziplinär ausgerichtete Tagung. Wir laden Doktorandinnen und Doktoranden aus den Geschichts- und Politikwissenschaften sowie ihren Nachbardisziplinen ein, zu dem Thema “Organisation und Individuum”, Aspekte aus ihren laufenden Dissertationsprojekten als Beiträge einzureichen.