Inwiefern die Shoah als ein europäisches Projekt zu verstehen ist, fragten jüngst so prominente Holocaust-Forschende wie Mary Fulbrook und Thomas Sandkühler. Die Deutschen waren seit der nationalsozialistischen Machtübernahme die Vordenker und Praktiker einer systematischen Diskriminierung, Ausgrenzung und schließlich Ermordung der Juden in Deutschland. In den Kriegsjahren waren die deutschen Besatzer unbestritten die Initiatoren, Architekten und Vollstrecker der Judenvernichtung in Europa. Doch überall fanden sie Helfershelfer und Partner bei der Ghettoisierung, Deportation und Ermordung von Juden. Während es bereits wichtige Studien zur Mittäterschaft in einzelnen besetzten Ländern gibt, fehlt bislang ein interpretatorischer Rahmen, mit welchem die Verstrickung in die Shoah als transnationales Phänomen beschrieben und erklärt werden kann. Denn obschon die Holocauststudien in den letzten Jahrzehnten zunehmend internationaler geworden sind, wird in diesem so prominenten Forschungsfeld das Instrumentarium der transnationalen Geschichte (d. h. die Frage nach Transfers von Wissen und Praktiken, der systematische Vergleich, die Suche nach einem übergeordneten interpretatorischen Rahmen) wenig genutzt, wenn es um die (Mit-)Täterschaft nichtdeutscher Gesellschaften geht. Die Tagung will dazu beitragen, die europäische Dimension der Täterschaft während der Shoah konzeptionell, komparatistisch und begrifflich zu erfassen, um nach den Möglichkeiten einer shared oder entangled history auf diesem Feld zu fragen.
Themen und Forschungsfragen
Eine Beschäftigung mit den Formen der Verstrickung in die Shoah muss die unterschiedlichen Ausprägungen der deutschen Besatzungsregime bzw. der Zusammenarbeit in verschiedenen Teilen Europas Rechnung tragen. Die Menschen agierten innerhalb unterschiedlicher Handlungsrahmen, die von den Deutschen als den Vollstreckern des Massenmords an den europäischen Juden gesetzt wurden.
Unter Berücksichtigung solcher unterschiedlichen Kontexte und der deutschen Verantwortung soll während der Tagung nach Vergleichen, Verflechtungen sowie möglichen Transfers von Wissen und Praktiken in europäischer Perspektive gefragt werden. Grundsätzlich muss zunächst herausgearbeitet werden, welche Phänomene, Gruppen oder Institutionen sich überhaupt für einen Vergleich oder die Untersuchung von Transferprozessen eignen, wenn wir die unterschiedlichen Besatzungsbedingungen und Formen der politisch-staatlichen Zusammenarbeit in den besetzten Gesellschaften Europas als Ausgangspunkt nehmen. Die Verständigung darüber kann Desiderate sichtbar machen und eine zukünftige Forschungsagenda setzen.
In einem weiteren Schritt soll die Konferenz der Frage nachgehen, inwiefern und wie die deutschen Täter bewusst die lokale Bevölkerung, Institutionen und Verwaltungen in den Völkermord an den Juden verstrickten. Wie effektiv war diese Strategie in verschiedenen Regionen und Kontexten? Darüber hinaus verfolgten die Besatzer eine Minderheit, die bereits vor dem Krieg in den besetzten Ländern stigmatisiert war: Welche Bedeutung kam also antisemitischen Praktiken und Diskursen aus der Vorkriegszeit zu?
Berücksichtigt man die Rahmenbedingungen deutscher Besatzung, welche Formen der Kooperation und Zuarbeit lassen sich jeweils ausmachen? Verschiedene Kategorien von nichtdeutschen Tätern möchten wir im Rahmen der Konferenz diskutieren:
- Partner bei Massenverbrechen, die Juden auf eigene Initiative ermordeten (z. B. rumänische Armee),
- Europäer in deutschen mobilen Tötungseinheiten und in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ (z. B. Trawniki-Männer),
- lokale Täter und Polizeikräfte, die unter deutschem Kommando standen,
- Kooperationspartner (z. B. Polizeikräfte, Institutionen, Verwaltungen und Gendarmerie in verschiedenen europäischen Ländern) – nicht unter deutschem Kommando,
- Zivilbevölkerung, Denunzianten, Nutznießer der „Arisierung“,
- Untergrundeinheiten (Widerstand gegen die Deutschen und zugleich Täter gegenüber den Juden).
Unser Ziel ist es, uniformierte Einheiten, Zivilverwaltungen und andere Institutionen in einer vergleichenden und transnationalen Perspektive zu untersuchen: z. B. die Rolle der einheimischen Polizei, der Feuerwehren, des Baudienstes, der unteren Zivilverwaltung oder der Kirche. Wie können wir diese Institutionen länderübergreifend vergleichen? Inwieweit spielte die Aneignung von jüdischem Eigentum durch die Einheimischen eine Rolle bei der Art und Weise, wie sie in die Morde verwickelt wurden? Lässt sich die Denunziation von Juden in verschiedenen Ländern vergleichend beschreiben (was Häufigkeit, administrative Verfahren, gesellschaftliche Normen angeht)? Unweigerlich stellt sich die Frage nach der Gleichzeitigkeit verschiedener Phänomene: Inwieweit waren nichtdeutsche Täter gleichzeitig Opfer der deutschen Besatzung oder am Widerstand beteiligt – und wie waren Täterschaft, Opferstatus und Widerstand gegebenenfalls miteinander verknüpft?
Zentral ist schließlich auch der Wechsel der Perspektive: Betrachteten die jüdischen Opfer ihre Verfolgung als ein europäisches Phänomen, bei dem sie keine Verbündeten hatten, und wie beschrieben sie selbst ihre Situation in den Besatzungsgesellschaften? Wie nahmen sie die Radikalisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und -praxis sowie das Verhalten der lokalen Bevölkerung wahr? Wie zirkulierte das Wissen über die Shoah unter den Juden in Europa?
Unser Ziel ist es ausdrücklich, Konzepte, Begriffe und methodische Ansätze während der Konferenz auf den Prüfstand zu stellen. Der in der Forschung sehr umstrittene und dennoch häufig verwendete Begriff der Kollaboration muss als analytische Kategorie hinterfragt werden. Brauchen wir eine neue „Kollaborationsforschung“ oder eine „neue Täterforschung“, die Nichtdeutsche einbezieht? Sind andere Begriffe wie collusion, Kooperation, Komplizenschaft besser geeignet? Welche Quellen können neu gelesen werden? Welchen Stellenwert kommt den Quellen der Opfer in einer „neuen Täterforschung“ zu?
Wir begrüßen Vorschläge für 20-minütige Vorträge, die nichtdeutsche Täterschaft oder Verstrickung im Kontext deutscher Herrschaft in vergleichender oder transnationaler Perspektive behandeln. Die jüdische Perspektive auf die Frage nach dem europäischen Ausmaß der Shoah sowie auf die Zirkulation von Wissen möchten wir dezidiert miteinbeziehen. Wir sind auch an methodologischen oder konzeptionellen Fragen interessiert. Der Schwerpunkt liegt auf Frankreich und Deutschland sowie Ost(mittel)europa, aber auch Vorschläge zu Süd- und Südosteuropa sowie zu den französischen Kolonien und insbesondere dem Maghreb sind willkommen.
Die Konferenz findet unter Vorbehalt der Finanzierung statt.
Bitte senden Sie Vorschläge in englischer Sprache (max. 500 Wörter) und einen kurzen Lebenslauf bis zum 24. Juli 2022 an Agnieszka Wierzcholska: conference2023@dhi-paris.fr
Organisationskomitee
Frank Bajohr, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Havi Dreifuss, Tel Aviv University/ Yad Vashem, Jerusalem
Jürgen Finger, Deutsches Historisches Institut, Paris
Andrea Löw, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Anna Ullrich, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Agnieszka Wierzcholska, Deutsches Historisches Institut, Paris
Claire Zalc, CNRS-IHMC (Institut d’Histoire Moderne et Contemporaine) / EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales), Paris