Der blinde Fleck (post-)romantischer Naturemphase. Zur Versäumnisgeschichte der Nachhaltigkeit im 18. und 19. Jahrhundert

Der blinde Fleck (post-)romantischer Naturemphase. Zur Versäumnisgeschichte der Nachhaltigkeit im 18. und 19. Jahrhundert

Veranstalter
Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher
PLZ
52062
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.07.2023 - 07.10.2022
Deadline
15.12.2022
Von
Martin Bartelmus, Institut für Germanistik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Tagung des Instituts für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen in Kooperation mit dem Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 06. bis 07. Juli 2023 in Aachen.

Der blinde Fleck (post-)romantischer Naturemphase. Zur Versäumnisgeschichte der Nachhaltigkeit im 18. und 19. Jahrhundert

Veranstaltende: Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher

In der Debatte um Nachhaltigkeit existiert eine große Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Tauglichkeit und gesellschaftlicher Präsenz des Begriffs. Seit einigen Jahren steht die ‚Leitbildfähigkeit‘ des Nachhaltigkeitsbegriffs aufgrund seiner Vagheit, Mehrdeutigkeit oder sogar Sinnlosigkeit in Frage (Schlechtriemen 2019), während aus erkenntnistheoretischer Warte die Prämisse eines optimalen Gleichgewichts sowie die prognostischen Schwierigkeiten und in kapitalismuskritischer Hinsicht das inhärente Technologie- und Effezienzdenken problematisiert werden. (Alaimo 2012) Zu häufig existieren auch zwischen den vier Säulen Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft und Kultur unlösbare Interessenskonflikte. Dennoch zeichnet die ‚Nachhaltigkeit‘ eine große Wirkmächtigkeit aus, die sich nicht nur im inflationären Gebrauch des Begriffs seit der Jahrtausendwende manifestiert. Vielmehr rahmt er gegenwärtige Kulturphänomene wie das greenwashing oder den sustainable life style.

Dieser Workshop geht von der Annahme aus, dass Erklärungen für diese Persistenz weniger in der logischen Stringenz und der handlungspragmatischen Steuerungsfunktion als in der ästhetischen Verfasstheit, der künstlerischen Vermittlung und der kulturellen Valorisierung von Theorien und Konzepten der Nachhaltigkeit zu suchen sind. Nicht nur erfolgt die Popularisierung des Nachhaltigkeitskonzeptes in den 1970er-Jahren über Buch- und Filmpublikationen, die gezielt an die Formsprache des nature writing oder an die Imaginationsgeschichte des Treibhauses anschließen (Rickenbacher 2021), sondern auch die Anfänge des ökologischen Denkens in der späten Aufklärung und in der Romantik bewegen sich weitgehend im ästhetischen Diskurs (Detering 2020). In Abgrenzung zu rezenten wissenschaftlichen Ansätzen soll aber die Ästhetik nicht als Sensibilisierungstechnik in der Rekonfigkuration des Verhältnisses der Beziehung zur nicht-menschlichen Umwelt (Hamel 2021) oder gar als Grundlage einer nachhaltigen (Text-)Kultur (Zapf 2018) verstanden werden. Vielmehr soll danach gefragt werden, inwiefern ästhetische Muster, künstlerische Subjektbegriffe und Gattungs- sowie Kunstkonventionen des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl an der gegenwärtigen Popularität des Handlungskonzepts als auch an der (Dys-)Funktionalität des notwendigen Gleichgewichts von Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur teilhaben.

Seit den Anfängen der modernen Ökologie gegen Ende des 18. Jahrhunderts weist das Nachhaltigkeitsdenken eigentümliche Dialektiken zwischen ökologischer Sorge, ökonomischer Prosperität und kultureller Bewahrung auf, die in diesem Workshop identifiziert, kontextualisiert und historisiert werden sollen. Besonders auffällig ist die Ambivalenz zwischen literarischer Apotheose der Natur und ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung, die bis in die Gegenwart in Kunstdiskurs und -produktion strukturbildend ist (Kagan 2011). Dieses Nebeneinander kann anhand der vier zentralen Bereiche der Ressourcenwirtschaft im 19. Jahrhundert untersucht werden: der Forstwirtschaft, des Bergbaus, der Landwirtschaft und der Wasserwirtschaft.

Seit dem frühen 18. Jahrhundert wird der Wald nicht mehr als unerschöpflicher Holz und Wildspeicher wahrgenommen, was zur Formulierung des Nachhaltigkeitsparadigmas in der Forstwirtschaft durch Carlowitz‘ Sylvicultura oeconomica (1713) und zur Ökonomisierung des Forstes führt. Knappheit und ökonomischer Wert des Holzes lassen den Wald auch zum Ort von realen und fiktiven Herrschaftskonflikten mit ökologischen Konsequenzen werden. Diesem Ringen um die „Ressource“ Wald steht die Naturemphase des Sturm und Drang sowie der Romantik gegenüber, die zwar stets eine Befreiung von staatlichen und gesellschaftlichen Autoritäten und die Annäherung an einen ursprünglichen Zustand bemühte, aber eben auch unbegrenzten Wachstum voraussetzte (Radkau 2011). Der unberührte, wilde und unendliche Wald erscheint dabei bereits in der nostalgischen Optik des Vergangenen. Nicht zuletzt liegen literarische Zentren wie Göttingen und Jena nahe an Bergbaugebieten, die durch ihren massiven Holzbedarf bekannt sind.

Besonders deutlich tritt die Differenz zwischen lebensweltlicher Erfahrung und literarischer Verwertung im Bereich des Bergbaus hervor. Nicht nur gewinnen die Bodenschätze um 1800 zunehmend an Bedeutung – zunächst Erze und Metalle, im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann fossile Brennstoffe –; auch sind verschiedene Autoren unmittelbar im Bergbau beschäftigt (z.B. Friedrich von Hardenberg, Achim von Arnim, Johann Wolfgang Goethe, Alexander Humboldt). Obwohl die zum Teil massive Veränderung der Landschaft sowie die Folgen der Montanwirtschaft für das Ökosystem und die Bergleute seit der Antike bekannt waren (De Agricola 1556, Stensen 1669, Linné 1734, Hutton 1795, Schreiber 1962) und sich im 19. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Endlichkeit der Bodenschätze bildete, blieben die Folgen in der Literatur um 1800 entweder unerwähnt (z.B. in Ludwig Tiecks Runenberg oder Novalis’ Heinrich von Ofterdingen) oder nebensächlich (z.B. E.T.A. Hoffmanns Die Bergewerke zu Falun).

Auch die Produktions- und Organisationsformen der Landwirtschaft ändern sich ab dem 18. Jahrhundert. Die steigenden Bevölkerungszahlen verändern die Menge der Produkte, die durch monokulturellen Anbau gesichert und sichtbar werden (Scholz 2022). So endet, wie Bernd Marquardt schreibt, das „alteuropäische[] Umweltregime[]“, als Formen der Allmende durch Privatisierung abgelöst werden und sich so der Agrarkapitalismus – Morton spricht von ‚Agrologistics‘ – durchsetzt (vgl. Thirsk 1997). Forstwirtschaft, Agrikultur und Montanwirtschaft stehen zudem punktuell in einem Konkurrenzverhältnis (De Agricola 1555, Carlowitz, Böhme 1988), das auch im literarischen Diskurs zu finden ist.

Eine entscheidende herrschaftliche Praxis für die Landnahme ist in der Moderne die Wasserwirtschaft. So wird zum Beispiel 1753 der Oderbruch auf Befehl des Preußischen Königs Friedrich II. trockengelegt (Blackbourn 2007), der Rhein wird in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Stück für Stück begradigt. Das Trockenlegen von Sumpf- und Moorgebieten, zwischen 1750 und 1850 als „Vereinödung“ verstanden (Konold 2017), bediente gleichermaßen ökonomische wie hygienische Interessen. Der Morast wurde zum Ackerland aufgewertet, die mäandernden Flüsse wurden durch die begradigende Kanalisierung zu sicheren Transportwegen und die geschaffene Strömung dient als Energielieferant für frühindustrielle Wirtschaftszweige wie die Papierindustrie. (Maxwell/Miller 2012) In auffälligem Kontrast zur ökonomischen Erschließung von Gewässern und der landschaftsbaulichen Zurichtung steht die (nach-)romantische Konjunktur unberührter Wasserlandschaften, die sich angesichts der weitgreifenden hydrologischen Transformation als Imaginarium obsoleter Erfahrungsräume erweist.

In diesem Rahmen könnte etwa folgenden Themen und Fragen nachgegangen werden:

- Welchen Einfluss besitzt das Kunst- und Subjektverständnis um 1800 (z.B. Kants „interesseloses Wohlgefallen“) für die Latenz jeglichen Kritikpotenzials des ökologischen Denkens?
- Welche widersprüchlichen Konstellationen von individueller Erfahrung und ästhetischer Darstellung können identifiziert werden? (z.B. Novalis’ literarisches Lob des Bergbaus im Vergleich zu den Landschaftstransformationen und -schäden)
- Welche philosophischen Modelle erlauben die ästhetische Überformung von Zerstörung? (z.B. die Verbindung des Bergbaus mit der romantischen Tiefenzeit)
- Mit welchen Figurentypen wird die Dialektik zwischen ökologischer Sorge und ökonomischer Prosperität und mit welchen Konsequenzen verkörpert? (z.B. der Müller in Eichendorffs Taugenichts oder der Förster in Droste-Hülshoffs Judenbuche)
- Wie werden sozio-ökologische Konsequenzen von Armut, Arbeit, Unterernährung oder Krankheit im Kontext von Forst-, Wasser-, Agrarwirtschaft und Bergbau thematisiert? (z.B. in Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König)
- Welche Diskurse werden in literarischen und künstlerischen Verarbeitungen von Nachhaltigkeit in Beziehung gesetzt? (z.B. die Agrikultur bei den Brüdern Grimm oder die Forstwirtschaft bei Achim von Arnim als Metapher der kulturellen Bewahrung; die Verbindung von Hygiene- und Bodenpolitik bei der Austrocknung von Sümpfen)
- Ist der blinde Fleck der Kunst auf Nachhaltigkeit und Ökologie zwischen Imagination und Realität männlich geprägt (die meisten Texte stammen ja von Autoren)? Oder zeigt sich hier noch das Potenzial für eine Reformulierung des Kanons in Hinblick auf geschlechtsspezifische Schreibweisen?
- Welche ästhetischen Muster und künstlerischen Subjektverständnisse wirken in den gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskursen nach?
- Inwiefern befestigt die Literatur- und Kulturwissenschaft die Dysfunktionalität des nachhaltigen Handlungsparadigmas? (z.B. durch die motivgeschichtliche und psychohistorische Analyse der Bergbaugeschichten)

Die genannten Themen und Fragen sind nicht auf literaturwissenschaftliche Gegenstände und Diskurse beschränkt, sondern richten sich natürlich auch an alle angrenzenden geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen.

Der Workshop findet am 06. und 07. Juli 2023 in Aachen statt. Wir erbitten Exposés (max. 300 Wörter) mit bio-bibliographischen Angaben (max. 150 Wörter) bis zum 15. Dezember 2022 an folgende Adressen: y.mohagheghi@germlit.rwth-aachen.de, s.rickenbacher@germlit.rwth-aachen.de und martin.bartelmus@hhu.de.

Auswahlbibliographie:
Agricola, Georgius (Georg Bauer): De re metallica. Basel 1556.
Alaimo, Stacy: Sustainable This, Sustainable That. New Materialisms, Posthumanism, and Unknown Futures. In: PMLA 3/2012, 558–564.
Bachér, Ingrid: Die Grube. Berlin 2011.
Blackbourn, David: The Conquest of Nature: Water, Landscape, and the Making of Modern Germany. New York 2007.
Böhme, Hartmut: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988.
Corbin, Alain: Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire sociale. Paris 1982.
Detering, Heinrich: Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt. Göttingen 2020.
Goldt, Helmut: Erkenntnisse unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik. Wiesbaden 1980.
Hamel, Hanna: Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas. Berlin 2021.
Hutton, James: Theory of the Earth. With proofs and illustrations. Edinburgh 1795.
Kagan, Sascha: Art and Sustainability. Connecting Patterns for a Culture of Complexity. Bielefeld 2011.
Konold, Werner: Cultural Landscapes in Germany – Continuities, Ruptures, and Stewardship. In: Gabriele Dürbeck/Urte Stobbe/Hubert Zapf/Evi Zemanek (Hg.): Ecological Thought in German Literature and Culture. Lanham u.a. 2017, S. 193–212.
Linné, Carl von: Iter Dalekarlicum, 1734.
Maxwell, Richard/Miller, Toby: Greening the Media. New York 2012.
Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. Frankfurt 2011.
Rickenbacher, Sergej: Sonne und Glas, Untergang und Rettung. Zur Genealogie des Narrativs ‚Treibhaus Erde‘, in: Urs Büttner/Dorit Müller (Hg.): Climate Engineering. Berlin 2021, 99–113.
Schlechtriemen, Tobias: Ideen- und Wissensgeschichte [der Nachhaltigkeit], in: Kurwick, Ursula/Zemanek, Evi: Nachhaltigkeit interdisziplinär. Konzepte, Diskurse, Praktiken, Wien u.a. 2019, 27-50.
Scholz, Leander: Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung. Berlin 2022.
Schreiber, Georg: Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur. Köln/Opladen 1962.
Stensen, Niels: Prodromus. o.O., 1671.
Thirsk, Joan: Alternative Agriculture: A History: From the Black Death to the Present Day. Oxford 2000.
Zapf, Hubert: Literature as Cultural Ecology. Sustainable Texts. London u.a. 2016.

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