Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Veranstalter
Christoph Nonn und Hedwig Richter in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung
PLZ
10117
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
22.03.2023 - 23.03.2023
Von
Pia Froese, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Workshop zum Thema "Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970" am 22. und 23. März 2023, Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, Berlin.

Organisation: Christoph Nonn und Hedwig Richter in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung

Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte in westlichen Gesellschaften eine Politisierung der breiten Bevölkerung ein: Parlamente wurden geschaffen oder bekamen mehr Kompetenzen, das Wahlrecht weitete sich vielfach zu einem allgemeinen Männerwahlrecht, die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht schuf mit der Lesefähigkeit der breiten Bevölkerung die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der Massenpresse und die Zensur wurde gelockert, Massenverbände, Massenparteien und zivilgesellschaftliche Strukturen entwickelten sich. Erste sozialstaatliche Interventionen, die wesentlich die Inklusion unterer Schichten ermöglichten, begannen in dieser Zeit. Die weltweit entstehenden Frauenbewegungen nutzten die neue Öffentlichkeit, ihr Protest wurde hörbar und rief aggressiven Widerstand hervor. In einem widerspruchsvollen Prozess voller Ab- und Einbrüche etablierten sich bis 1970 im nordatlantischen Raum liberale Demokratien.
Diese Tagung will die Entwicklungen aus der Perspektive der Bevölkerung verfolgen, also der „Massen“, wie man sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert oft nannte, die in dieser Zeit zum Subjekt wurden: Gegenstand von Analysen, Utopien und Schreckensszenarien, aber auch Akteur:innen mit politischer Macht. Was bedeutete die Massenpolitisierung und Demokratisierung konkret für die Bürger:innen? Wie verstanden sie ihre Rechte, wie interpretierten sie ihr Verhältnis zum Staat, wie deuteten sie politische Partizipation und Demokratie? Welche Rolle spielten Religion und Identitätszuschreibungen wie Geschlecht, Klasse und Rasse? Zu welchen Exklusionen führten staatsbürgerliche Integrationsprozesse? Inwiefern entsprachen sich Massenpolitisierung und Nationalisierung?
Selbstverständnis und Handlungen von Staatsbürger:innen sollen dabei mit Blick auf vier verschiedene Rollen betrachtet werden:
1) Teilnehmer:in am öffentlichen Diskurs. Die Massenpresse sprach seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Bürger ebenso an wie die Redner im Parlament oder die sich formierenden Parteien. Was bedeutete die Zeitungslektüre, die Diskussion von Artikeln oder Parlamentsreden für die Menschen in staatsbürgerlicher Hinsicht? Fühlten sich die Menschen dadurch ermächtigt oder eher als Zuschauer:innen?
2) Empfänger:in von sozialstaatlichen Leistungen und Kämpfer:in für soziale Gerechtigkeit. Die Einführung von staatlichen Sozialversicherungen war nicht zuletzt Folge von Wahlrechtserweiterungen, und die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungen schufen neue Möglichkeiten zur Partizipation. Frauen waren von Anfang an in die „soziale Frage“ involviert, in Sozialreformen, im Kampf gegen soziale Ungleichheit, und spielten in den zahlreichen religiösen (christlichen und jüdischen) und sozialdemokratischen Wohltätigkeitsvereinen eine entscheidende Rolle. Zu fragen ist dabei, welche Bedeutung der Sozialstaat in unterschiedlichen Systemen über die Zeit hinweg hatte, wie stark die Loyalität der Bürger:innen davon abhing, aber auch wie wichtig diese Leistungen waren, um Inklusion und Partizipation zu realisieren.
3) Konsument:in und Produzent:in. Vieles spricht dafür, dass Massenpolitisierung und Demokratisierung in einem Zusammenhang mit zunehmendem Wohlstand stehen und das staatsbürgerliche Selbstverständnis mit ökonomischer Sicherheit korreliert. Manche Demokratietheorien verwiesen auf die Zusammenhänge kapitalistischer und demokratischer Logik im Hinblick auf Vertragstheorie, Wahlfreiheit oder Konkurrenz. Maß man den Wert von Staatsbürger:innen in der Öffentlichkeit vorher oft nach ihrer Produktivität, wurden sie nach 1945 vielfach primär als Konsument:innen adressiert. Die neue Stabilität der Demokratie in der Nachkriegszeit wurde häufig mit dem ökonomischen Erfolg in Zusammenhang gebracht. Staatliche Stellen betrieben systematisch die „Erziehung“ zur Demokratie und Erziehung zum „rationalen Verbraucher“, häufig lief beides Hand in Hand. Wie weit sahen die Menschen selbst Zusammenhänge zwischen politischer und wirtschaftlicher Sphäre?
4) Mitglied von Organisationen und Teilnehmer:in an Aktionen. Die reiche Forschung über Parteien- und Vereinsarbeit soll aufgegriffen werden, aber auch über Feste und Masseninszenierungen wie Vereinsfeierlichkeiten, Militärparaden, Wahlkampfveranstaltungen oder faschistische Massenspektakel. Beachtung sollen dabei auch die Kirchen und andere vermeintlich „unpolitische“ Organisationen finden, die häufig für Frauen mehr Zugänge boten als beispielsweise Parteien.

Programm

22. März
13.00 Begrüßung

13.30-15.30 Uhr Sektion 1: Teilnehmer:in am öffentlichen Diskurs

Frank Bösch (Potsdam): Medienwandel als Katalysator politischer Partizipation

Lara-Marie Hägerling (Braunschweig): (Selbst-)Orientierung in Zeiten des Wandels: Frauen zwischen objektiv-distanzierter Beobachtung und politischer Aktion um 1918/19 am Beispiel der Familie Cartellieri

Ibolya Murber (Budapest): Demokratischer Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg: Politische Imaginationen und Experimente in Österreich und Ungarn

15.30-16.00 Uhr: Pause

16.00-18.00 Uhr Sektion 2: Empfänger:in von sozialstaatlichen Leistungen und Kämpfer:in für soziale Gerechtigkeit

Kerstin Wolff (Kassel): Der Ausbau der (kommunalen) Sozialpolitik und die Frauenbewegung um 1900. Beteiligung ohne Wahlrecht?

Amrei Kempendorf (Tübingen): Pfarrer und Gemeinde als politische Akteur:innen? Das politische (Selbst-)Verständnis der „sozialen“ Predigt im Kaiserreich

Frank-Michael Kuhlemann (Dresden): Staatsbürgertum und Weltanschauung: Zur Politisierung und Mobilisierung der christlichen Arbeiterbewegung in Deutschland 1870/90–1918/45

18.30-20.00 Öffentliche Podiumsdiskussion

Gemeinsames Abendessen

23. März

9.00-11.00 Uhr Sektion 3: Konsument:in und Produzent:in

Frank Trentmann (London): Needs and Wants: Consumer Politics in the Anthropocene

Silke Mende (Münster): Zwischen „Massenpolitisierung“ und neuem „Elitismus“: Alternative Demokratie- und Partizipationskonzepte seit den 1970er Jahren

Christian Möller (Bielefeld): Grüne Aufbrüche in Ost und West: Bürgerinitiative, Umweltbewegung und das Ringen um Teilhabe in Nordrhein-Westfalen und der DDR

11.00-11.30 Pause

11.30-13.30 Sektion 4: Mitglied von Organisationen und Teilnehmer:in an Aktionen

Paul Nolte (Berlin): Das deutsche Jahrhundert der Parteien. Gesinnung, Milieu und Organisation in der Massengesellschaft der Hochmoderne

Michael Krüger/Florian Wittmann (Münster): „Die größte Bürgerinitiative des Landes“: Turnen und Sport als Massenbewegung vom Kaiserreich bis zum Kalten Krieg

Phillip Wagner (Halle): Eigensinnige Demokratisierung: Sozialliberale Bildungsreformen und Massenpolitisierung in West-Deutschland nach 1968

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