Sexualität steht im Zentrum gegenwärtiger sozialer Bewegungen. Die #MeToo-Bewegung gegen sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung seit 2017 und die LGBTQ-Bewegungen, die sich für gleiche Rechte, Möglichkeiten und Schutz vor Diskriminierung für queere Menschen einsetzen, haben weltweit an Dynamik gewonnen und auch ein wachsendes geschichtswissenschaftliches Interesse an Sexualität geweckt. Jüngere Arbeiten haben sich auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert und moralische Normen und soziale Praktiken in den Jahrzehnten unter-sucht, die gemeinhin – und sicherlich nicht völlig zu Unrecht – als sexuelle Revolution bezeichnet werden (s. z.B. Benno Gammerl, Anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesre-publik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021; Sonja Levsen, Sexualität und Politik um 1968: Eine transnationale Geschichte?, in: Journal of Modern European History 17, 2019, S. 98–115; Todd Shepard, “Something Notably Erotic”: Politics, “Arab Men,” and Sexual Revolution in Post-decolonization France, 1962–1974, in: The Journal of Modern History 84, 2012, S. 80–115).
Der Workshop wird sich mit der Zeit davor befassen – ohne diesen Zeitraum als Vorgeschichte einer sexuellen Befreiung zu betrachten. Stattdessen sollen Vorstellungen von Zeitlichkeit, von Fortschritt und Rückschritt als ebenfalls kontingente Phänomene diskutiert werden. Wir laden Beiträge ein, die sich mit dem Verhältnis zwischen lustvollen, auf Fortpflanzung zielenden und gewalttätigen Praktiken der Sexualität seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts befassen. Die übergreifende Frage des Workshops lautet: Was sagen konkrete Praktiken von Lust/Unlust, Fortpflanzung/Verhütung und sexualisierter Gewalt über die Organisation von Gesellschaft aus?
Besonders interessiert sind wir an Vorträgen, die sich mit einem oder mehreren der folgenden Themen befassen:
Sozialgeschichte: Welche Praktiken stärkten, welche verwischten Klassengrenzen? Gab es eine Verbürgerlichung sexuellen Verhaltens? Welche Rolle spielte die soziale Schicht bei gewaltvollen sexuellen Kontakten und in potentiell folgenden Gerichtsprozessen?
Religionsgeschichte: Wie versuchten kirchliche Amtspersonen, sexuelles Verhalten zu beeinflus-sen? Inwiefern beeinflussten religiöse Normen tatsächliche Praktiken?
Wissen(schafts)geschichte: Inwiefern beeinflussten neue medizinische, biologische und psycho-logische Konzepte von Sexualität tatsächliche Praktiken?
Kolonialgeschichte: Welche Rolle spielten sexuelle Begegnungen in kolonisierten Gebieten für die Verhandlung von Beziehungen von race und gender?
Geschlechtergeschichte: Welche sexuellen Praktiken trugen zur Vorstellung einander entgegengesetzter Weiblichkeit und Männlichkeit bei? Welche verkomplizierten das binäre Geschlechtsmodell?
Über diese inhaltsbezogenen Fragen hinausgehend möchten wir mögliche und vielversprechende Quellen diskutieren. Welche Quellen und welche Methoden der Interpretation können wir nutzen, um sexuelle Praktiken zu analysieren, die oft nur implizit greifbar sind? Ziel des Workshops ist es, historiografische Strategien zu identifizieren, die das Verhältnis von Normen, Kategorien und Praktiken in der Sexualitätsgeschichte zugunsten der Letzteren verschieben.
Die Deadline, um Abstracts im Umfang von etwa 300-500 Wörtern einzureichen, ist der 31. Oktober 2023. Bitte schicken Sie das Abstract an: veronika.settele@uni-bremen.de. Wir informieren bis zum 15. November 2023 über Annahme oder Ablehnung.