Der Begriff der Schnittstelle
Die Mediävistik ist ein per definitionem interdisziplinär ausgerichtetes Fachgebiet. Aufgrund ihrer heterogenen, oftmals fragilen und nicht leicht zugänglichen Forschungsgegenstände und ihrer besonderen Anforderungen haben sich Mediävist:innen schon früh der Möglichkeiten des Computers bedient und sich damit als Pionier:innen der digitalen Geisteswissenschaften erwiesen. Eine Vielzahl geisteswissenschaftlich-kultureller Praktiken blickt auf Vorläufer und Vorbilder aus dem Mittelalter zurück, aus philologischer Tradition zählen hierzu etwa Übersetzungshilfen, Thesauri, Konkordanzen und Annotationen. Die adäquate Darstellung der Quellen und ihre Erfahrbarkeit im digitalen Raum sind besondere Herausforderungen, für die die Mediävistik Lösungen entwickeln muss. Wegen der Vielfalt der Forschungsgegenstände, ihrer Historizität und ihrer kulturhistorischen Bezugssysteme handelt es sich dabei um hochgradig interdisziplinäre Aufgaben. Computergestützte Ansätze und digitale Praktiken erweitern das Methodenspektrum und schaffen neue Möglichkeiten eines nachhaltigen und vernetzten Wissensfundus. Die Mediävistik hat in den letzten Jahren viele Ressourcen digital aufbereitet und von den technischen Möglichkeiten profitiert, etwa im Bereich der Editionsphilologie zur Darstellung synoptischer Editionen oder der Einbindung von Digitalisaten. Doch zumeist bleiben die erarbeiteten Mittel Insellösungen. Nur in Ansätzen wurden theoretische Überlegungen entwickelt, wie einzelne Projekte mit-einander verbunden werden können.
Das Themenheft „Schnittstelle Mediävistik“ widmet sich der computationell arbeitenden Mittelalterforschung in ihrer verbindungsstiftenden Funktion. Als Schnittstelle vermittelt sie zwischen den Disziplinen, Digitalem und Analogem, heterogenen Forschungsgegenständen und vielfältigen Methoden. Dabei integriert sie nicht nur Ansätze und Wissen aus anderen Fachbereichen, sondern trägt auch zum Erkenntnisgewinn über ihre eigene Disziplin hinaus bei, indem etwa Daten zu Handschriften für historische Netzwerkforschung oder Geovisualisierungen weitergenutzt werden.
Das Themenheft adressiert Interdisziplinarität auf zwei Seiten: auf der Seite der Forschungsgegenstände, die abhängig von den Fachdisziplinen z.B. historische Daten, literarische Texte, philologische Themen, Schrift- und Bild-Zusammenhänge und anderes untersuchen; auf der Seite der Herangehensweisen, die je nach Fachdisziplinen ‚traditionelle‘ Arbeitsweisen und computationelle Herangehensweisen, Annotationen, MachineLearning-Ansätze, Modellierung, Linked Open Data (LOD) und vieles mehr nutzen. Über die „Schnittstelle Mediävistik“ lassen sich fachliche Heterogenität und Vielfalt der Gegenstände mit der Vielfalt der Methoden produktiv verbinden.
Die „Schnittstelle Mediävistik“ hat in ihrer vermittelnden Funktion auch unmittelbare Auswirkungen auf Aspekte der Nachhaltigkeit. Denn nur durch nachhaltig verfügbare und genormte Daten, durch die Einhaltung von Standards und die Verwendung persistenter Identifikatoren kann eine langfristige interdisziplinäre Forschung bzw. Nachnutzung der Daten im Wechselspiel verschiedener Disziplinen und Methoden ermöglicht werden.
Unter zeitgemäßer digitaler Mittelalterforschung verstehen wir außerdem auch nationale und in-ternationale Forschungsinfrastrukturen, die von Mediävist:innen mit einem gemeinsamen Inte-resse an einer tiefgreifenden Erschließung von Forschungsgegenständen kollaborativ gepflegt und gestaltet werden. Dies impliziert eine Offenheit, die sich nicht nur auf die Verwendung offe-ner Standards und die interdisziplinären Perspektiven auf heterogene Forschungsgegenstände bezieht, sondern durch die auch eine gesamtgesellschaftliche Teilhabe am zu bewahrenden kulturellen Erbe angestrebt wird.
Ziel des Bandes
Das Forschungsfeld des Themenhefts reicht somit von methodologischen über daten- oder objektbezogene Fragestellungen hin zu infrastrukturellen Aufgaben, die unter den Aspekten der digitalen Nachhaltigkeit und Vernetzung vereint werden. Ziel des Bandes ist, kollaborative Verfahren der Digital Humanities forschungsorientiert und praxisnah vorzustellen und die hierfür angewandten Methoden und Praktiken zu evaluieren und zu diskutieren.
Das Themenheft soll in erster Linie dazu einladen, das methodische Feld in Bezug auf Verfahren der Verknüpfung und Kontextualisierung zu erweitern. Mithilfe quantitativer und kontextualisierender Ansätze wird eine neue Qualität von Forschungsdaten erreicht, indem verstreute Informationen systematisch miteinander verknüpft werden, sodass komplexe Zusammenhänge sichtbar und neue Zugänge geschaffen werden. Hier bieten digitale Verfahren auch neue Perspektiven für eine global ausgerichtete Mediävistik. Erst diese Art der Vernetzung befördert auf lange Sicht einen Kulturwandel. Er zeichnet sich durch transparente, offene und nachhaltige Wissenschaft ebenso aus wie durch kollaborative und innovative Forschung und die Übernahme der gemeinsamen Verantwortung für den Aufbau und langfristigen Betrieb digitaler Arbeitsumgebungen und Forschungsinfrastrukturen. Zu diesen Herausforderungen der digitalen Mediävis-tik will der Band einen Beitrag leisten.
Themenheft „Digitale Mediävistik“ (2019)
Durch seinen Bezug zu digitalen Forschungsthemen knüpft das Themenheft an das Heft „Digitale Mediävistik und der deutschsprachige Raum“ (Band 24, Heft 1) an, wählt aber durch den hier vorgeschlagenen methodischen Fokus einen anderen Zugang zu dem Forschungsfeld. Dieser ermöglicht es nicht nur, einzelne Aspekte des Heftes aus dieser Perspektive neu aufzugreifen, sondern insbesondere, die Thematik um andere Aspekte zu ergänzen – und dabei das Potenzial vernetzter Ressourcen interdisziplinär wie international zu denken. Darüber hinaus sind die Entwicklungen in den Digitalen Geisteswissenschaften in den letzten fünf Jahren rasant fortgeschritten.
Mögliche Themenvorschläge und Fragestellungen
Die „Schnittstelle Mediävistik“ bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre nationale wie internationale Themen von hoher Aktualität, die im Themenheft versammelt werden sollen:
Zentrale Themen sind beispielsweise Normdaten, Forschungsdatenmanagement und Infrastrukturprojekte wie vernetzte Repositorien- und Speichersysteme, besonders CLARIN/DA-RIAH und die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI). Dazu zählen mit Text+, NFDI4Culture, NFDI4Memory und NDFI4Objects vier geisteswissenschaftliche Konsortien, die sich der Bewahrung des materiellen wie immateriellen Kulturerbes widmen. Für die Mediävistik sind sie alle relevant, was den Charakter der fachlichen Schnittstelle unterstreicht. In diesem Kontext spielt zudem einerseits die Gemeinsame Normdatei (GND) eine bedeutende Rolle, die Standards für die Erfassung von Informationen entwickelt und die (im deutschsprachigen Raum) größte Normdatensammlung bereitstellt. Andererseits ergeben sich durch die Nutzung von offenen und kollaborativen Wissensplattformen wie Wikidata auch für die Wissenschaft neue Möglichkeiten.
Auch Fragen nach der Modellierung von Informationen sind von Interesse, insbesondere hin-sichtlich spezifisch mediävistischer Herausforderungen wie unsicherer Quellenlage oder ambiger Informationen. Nach wie vor gibt es keinen einheitlichen Umgang mit unscharfen Daten oder Ambiguitäten. Des Weiteren stellen textimmanente Ambiguitäten (die gar nicht disambiguiert werden sollen) eine Herausforderung insbesondere für die digitale Erfassung von Daten dar. Hier kann die Mediävistik also nicht auf allgemeine Standards zurückgreifen, sondern muss (auch) fachspezifische Lösungen hervorbringen.
Die Editionsphilologie kann ebenfalls wesentlich von den hier skizzierten Möglichkeiten profitieren. Für sie stellen quantitative und kontextualisierende Verfahren ein wertvolles Werkzeug dar, das zur weiteren Generierung von Wissen und der nachhaltigen Nutzung digitaler Editionen führen kann. Beiträge könnten etwa durchleuchten, wie das Gebiet der mediävistischen Editionspraxis durch kollaborative Verfahren und digitale Arbeitsmethoden an Komplexität gewinnt oder die Daten interdisziplinär nachgenutzt werden können (z.B. Geovisualisierung).
Ein weiterer zentraler Punkt des Themenheftes können kollaborative Tools und Systeme, kollektiv praktizierte De-facto-Standards und der erkenntnisgeleitete Einsatz von Forschungsinfrastrukturen sein. Gemeinsame Initiativen wie beispielsweise Fragmentarium, Handschriftenportal, RI OPAC, Biblissima+, IIIF, Transkribus und eScripta sind Lösungsansätze zur Bewältigung und nachhaltigen Verfügbarmachung von Daten und der projektübergreifenden Nutzbarkeit von HTR und OCR Software. Nach wie vor fehlt es aber an Dokumentationen und der Beschreibung von Methodologien zur Anwendung neuer Technologien auf bestehende Forschungsdaten. Welche Erkenntnisse, positive wie negative, konnten in den Vorhaben gewonnen werden? Besonders interessant erscheinen uns hier auch experimentelle Ansätze in der Nachnutzung von Forschungsdaten aus dem Bereich der interdisziplinären Mittelalterforschung sowie Ergebnisse aus kollaborativen Forschungsprojekten.
Ein besonderes Augenmerk legen wir auf LOD, die durch die Verknüpfung strukturierter, eindeutig identifizierbarer Daten nicht nur die Qualität und Erschließungstiefe von Daten optimieren, sondern durch deren Kontextualisierung auch zu einem vertieften Verständnis führen. LOD-Verfahren stellen eine vielversprechende Option dar, Ressourcen zu erschließen, weiter anzureichern und somit sichtbar, verfügbar und nachnutzbar zu machen. Gleichzeitig werden sie den FAIR-Prinzipien gerecht und spiegeln damit den Anspruch einer interdisziplinären, offenen Forschung im Sinne von Open Science wider. Es liegt in der Natur von LOD, multimodale Verlinkungen herzustellen, sodass auch perspektivische, disziplinenübergreifende Kollaborationen beleuchtet werden können. Hierzu gehören insbesondere Methoden zur Kontextualisierung, die das Erschließen jeweils geltender Episteme – eine besondere Herausforderung für historische Bestände – ermöglichen, um eine digitale Hermeneutik zu implementieren, von der die Qualität der Erschließungstiefe ebenso profitiert wie das Verständnis der Rezipient:innen.
Disziplinen, die sich für Beiträge zu diesem Themenheft anbieten, sind demnach beispielsweise Archäologie, Byzantinistik, Didaktik, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Philosophie, Religionswissenschaft, Romanistik, Theologie uvm. Auch interdisziplinäre Digital-Humanities-Vorhaben sind willkommen, etwa aus den Bereichen Citizen Science, Open Science und Open Education sowie Vorhaben, die den „computational turn” von händischen zu zunehmend automatisierten Verfahren reflektieren (z.B. Deep Machine Learning).
Von reinen Projektbeschreibungen ist abzusehen, das Augenmerk soll auf Kontextualisierung, Vernetzung und Methodenreflexion im Sinne der „Schnittstelle” gelegt werden.
Wir bitten um Abstracts von etwa 300–500 Wörtern auf Deutsch oder Englisch bis zum 15.11.2023. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die Herausgeberinnen: info@offenesmittelalter.org
Herausgeberinnen:
Dr. Luise Borek – Technische Universität Darmstadt, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Deutschland
Dr. Katharina Zeppezauer-Wachauer – Universität Salzburg, Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB), Österreich
Dr. Karoline Döring – Universität Salzburg, Interdisziplinäres Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit, Österreich
Bitte beachten Sie folgenden Hinweis: Das Themenheft erscheint bei Heidelberg University Publishing im Open Access unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0.
Planung des weiteren Ablaufs:
- Mitte Dezember 2023: Auswahl der Beiträge und Zusage an die Autor:innen
- Mitte Juni 2024: Einsendung der Beiträge; Weitergabe der Beiträge in die Begutachtung
- vorauss.10./11. Oktober 2024, Salzburg: Heft-Workshop im Stil einer Autor:innenkonferenz zur Diskussion der Beiträge
- Anfang November 2024: Abgabe der auf der Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion überarbeiteten Beiträge
- 28. Februar 2025: Versand der lektorierten Beiträge zur letzten Prüfung an die Autor:innen
- April 2025: Versand der Druckfahnen an die Autor:innen
- Mai/Juni 2025: Erscheinungstermin online und im Buchhandel