Das Symposium für Prof. Dr. Barbara Krug-Richter wird sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit dem Deuten der Welt von gestern befassen. Der Fokus liegt dabei auf der historischen Anthropologie, einem Zugang, den der Historiker Richard van Dülmen an der Universität des Saarlandes maßgeblich weiterentwickelt hat. Als interdisziplinärer Denkansatz zeichnet sich die historische Anthropologie gerade dadurch aus, dass sie nicht auf der Makro-ebene ansetzt bzw. stehen bleibt, sondern in Analogie zur kulturwissenschaftlichen Alltagsgeschichtsschreibung nach Handlungsspielräumen und Erfahrungen einzelner, auch weniger privilegierter Menschen und deren Lebenswelten jenseits der bürgerlichen Mitte fragt. Aus Sicht der historischen Anthropologie geht es immer auch um politische und ökonomische Bedingungen, vor allem aber um Gestaltungsspielräume und „die Wahrnehmungsweise, die Gefühlswelt und die Subjektivität“ handelnder Akteur:innen (van Dülmen 1997: 8). Eine solche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit interessiert sich nicht nur für vermeintlich vernunftgesteuerte Entscheidungen, „sondern gleichermaßen [für] … Gefühle und Stimmungen, die nicht weniger rational verankert sind als die Vernunft selbst“ (van Dülmen 2020: 34). Als Felder und Gegenstände der Analyse schließt die historische Anthropologie sowohl Arbeits- oder Protestkulturen als auch Volksfrömmigkeit oder den Diskurs um Fremdheit sowie Kommunikations-, Geschlechter- oder Kolonialgeschichte mit ein, um nur einige wenige Bereiche zu nennen (vgl. u.a. van Dülmen; Habermas; Tanner; Zemon Davis).
Das Erfassen von Beziehungen und Relationen in Gegenwart und Zukunft ist untrennbar mit dem Nachdenken über historische Entwicklungen verbunden. Etwa im Kontext der Public History tauchen heute viele Aspekte wieder auf, die in der historischen Anthropologie bereits thematisiert worden sind: die Forschung zu marginalisierten Akteur:innen, das Wissen um trans-nationale biografische Erfahrungen oder auch die Vielstimmigkeit von Narrativen, die im Rahmen von Ausstellungen oder auch Sammlungskonzepten vermittelt werden. In der Volkskunde, empirischen Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie hat die historische Forschung immer eine zentrale Rolle gespielt und ist programmatisch weiterentwickelt worden (vgl. u.a. Bausinger; Fenske; Greverus; Lehmann; Wietschorke).
Welche Rolle spielt das Deuten der Vergangenheit nun in einer Zeit, in der das Bewusstsein für – historische – Zusammenhänge insgesamt abnimmt, während Rückwärtsgewandtheit auf dem Vormarsch ist, wie der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Band „Retrotopia“ (2017) schreibt? Barbara Krug-Richter war als Kulturwissenschaftlerin zwölf Jahre lang für das Fach „Historische Anthropologie“ in Saarbrücken zuständig, ihre Forschung setzt in der Frühen Neuzeit an, ebenso beschäftigen sie Phänomene und Prozesse der jüngeren Vergangenheit. Am Übergang zur „Europäischen Kulturanthropologie“, wie das Fach an der Universität des Saarlandes inzwischen heißt, wollen wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit nach dem Potential der historischen Anthropologie als kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektive fragen. Mit dem geplanten Symposium soll ausgelotet werden, welche historischen Fragestellungen derzeit in kulturwissenschaftlicher Bearbeitung sind und was insbesondere die Perspektive der historischen Anthropologie dazu beitragen kann.
Als Kategorien für Beiträge schlagen wir folgende Topoi vor:
- Natur/Kultur, Mensch-Tier, Umwelt, Landschaft
- Geschlechtergeschichte, Gender Studies und queere Anthropologie
- Biografie- und Familienforschung
- Postcolonial Studies, transnationale Geschichte
- Architektur, Baukultur, (widerstreitendes) kulturelles Erbe
- Arbeitskulturen, Ökonomie
- Medien, visuelle Kultur, Populärkultur
Weitere Schwerpunkte sind denkbar, ebenso programmatische Beiträge zur Epistemologie oder Methodologie.
Der Call for Papers läuft bis zum 15. März 2024. Bitte senden Sie einen Vorschlag (300 Wörter) sowie einen kurzen CV an simone.egger@uni-saarland.de. Wir bemühen uns um die Fi-nanzierung von Reisekosten für Teilnehmer:innen, die nicht institutionell angebunden sind. Der Verständigung darüber, wie sich historisch Forschende in der DGEKW sowie Interessierte aus anderen Disziplinen längerfristig vernetzen können, wird im Rahmen der Veranstaltung ebenfalls Platz eingeräumt.
Wir freuen uns über Einreichungen!
Für Rückfragen stehen wir sehr gerne zur Verfügung.
Jun.-Prof. Dr. Simone Egger; Prof. Dr. Barbara Krug-Richter, Leonie Müller, MA