Im März 2013 veröffentlichten die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse einen Artikel, in dem Menasse ein erfundenes, proeuropäisches Zitat von Walter Hallstein unterbrachte, das in dem Text explizit als Wahrheit deklariert wurde. Gegen die folgende Kritik nahm Menasse in Anspruch, dass Schriftsteller – anders als Wissenschaftler – mit fiktionalen Mitteln Wahrheit aus verstreuten Fakten verdichten dürften.
Kritiker dagegen monierten, dass auch Schriftsteller Fiktion nicht als Wahrheit ausgeben dürften – zumal die „Aussage“ Hallsteins danach mehrfach zitiert worden ist, bis Historiker vergeblich das Original suchten. Andererseits haben auch Wissenschaftler:innen immer wieder mit literarischen Techniken gearbeitet, wenn ihnen empirisches Material fehlte, etwa die Historikerin Natalie Zemon Davies oder Alain Boureau. Entscheidend war und ist, dass dieses Vorgehen den Leser:innen im Text offengelegt wurde und wird.
In diesem Sinne soll der Workshop die Grenze zwischen Fiktion und Wissenschaft produktiv ausleuchten. Die Frage ist, auf welchen Ebenen Fiktionen für die wissenschaftliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können, aber auch, ob dadurch eine Gefährdung des Wahrheitsanspruches der Wissenschaft entstehen könnte. Vier Dimensionen sollen aufgefächert werden:
- Fiktion als empirisches Material für die Wissenschaft: Inwieweit können Fiktionen em-pirisches Material substituieren bzw. inwieweit enthalten sie empirisches Material in einer anderen narrativen Form verdichtet?
- Fiktion als Übersetzung von Wissenschaft: Inwieweit können wissenschaftliche Erkenntnisse oder Fragestelllungen in literarischer Form popularisiert werden, und was geht eventuell in dieser Transition verloren?
- Fiktion als Reflexion über Wissenschaft: Inwieweit kann die literarische Transformation wissenschaftlicher Erkenntnisse Produktionsweisen sowie Stärken und Grenzen des wissenschaftlichen Weltzugangs sichtbar machen?
Schließlich:
- Könnte in Zeiten „alternativer Fakten“ die Systemleistung der Wissenschaft – methodisch kontrolliertes, empirisch fundiertes, rational verhandelbares Wissen herzustellen – an Glaubwürdigkeit, also die „Währung“ der Wissenschaft an Wert verlieren, wenn fik tionale Texte innerhalb der Wissenschaft und eine Erosion der Grenze zur Wissenschaft aufgewertet werden? Könnte paradoxerweise die wissenschaftlich eigentlich innovative Verhandlung der Grenze zwischen beiden Feldern das Alleinstellungsmerkmal der Wissenschaft bedrohen?
Referent:innen:
Thomas Alkemeyer, Prof. Dr., Univ. Oldenburg, Soziologie
Beate Binder, Prof. Dr., HU Berlin, Europäische Ethnologie
Thomas Etzemüller, Prof. Dr., Univ. Oldenburg, Kulturgeschichte
Johannes Franzen, Dr., Univ. Siegen, Germanistik
Daniel Fulda, Prof. Dr., Univ. Halle, Germanistik
Thomas Jäkel, Berlin, Improvisationstheater
Thomas Klinkert, Prof. Dr., Univ. Zürich, Romanistik
Anton Kirchhofer, Prof. Dr., Univ. Oldenburg, Anglistik
Achim Saupe, Dr., Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, Zeitgeschichte
Helmut Schmiedt, Prof. Dr. em., Univ. Koblenz-Landau, Germanistik/Schriftsteller
Angela Steidele, Dr., Köln, Schriftstellerin
Jens Wietschorke, PD Dr., LMU München, Empirische Kulturwissenschaft