Ende des 19. Jahrhunderts veränderten sich Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Industrialisierung und Urbanisierung – die Menschen hatten andere Tagesabläufe und mehr Freizeit als je zuvor. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes brachte Mobilität für weite Kreise der Bevölkerung mit sich, technische Entwicklungen eröffneten in allen Bereichen neue Möglichkeiten (Maschinen, Beleuchtung, Fotografie und Film etc.). Ab etwa 1880 entwickelte sich die Vergnügungskultur rasant und vielfältig – Zirkus, Varieté, Kino, Lunaparks und Vergnügungsangebote im Kontext von Großveranstaltungen wie Gewerbeausstellungen, Messen oder Sportfesten hatten Konjunktur. Die angebotenen Attraktionen folgten international erfolgreichen Mustern. Einzelne Unternehmen wie beispielsweise die Hannoveraner Firma von Hugo Haase agierten deutschlandweit oder sogar grenzübergreifend. Viele Artistinnen und Akrobaten waren internationaler Herkunft und vermittelten dem Publikum ein ‚exotisches‘ Flair. Spaß und Lebensfreude kamen oft ohne Worte aus: Unterhaltung war universal verständlich, brauchte als Tanz, Musik oder Artistik keine gesprochene Sprache. Schaulust verband alle gesellschaftlichen Kreise – vom Arbeiterkind bis zum Kaiser, über nationale, sprachliche, ethnische Grenzen hinweg.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich stark auf die Großstadt (z.B. Die tausend Freuden der Metropole, hg. v. Tobias Becker u.a., 2014; Die Vergnügungskultur der Großstadt, hg. v. Paul Nolte, 2016). Die geplante Tagung nimmt Vergnügungskultur als kulturelles Phänomen auch kleinerer Städte in den Blick und richtet dabei den regionalen Fokus auf das östliche Europa im Zeitraum zwischen 1880 und 1945 – einer Periode der Modernisierungen, die in diesen Regionen zugleich eine Zeit einschneidender politischer Umbrüche war: der Fall der Imperien, die neu entstandenen Nationalstaaten Ostmitteleuropas der Zwischenkriegszeit, der Zweite Weltkrieg. Welche Rolle spielte Vergnügungskultur in diesen spezifischen Kontexten? Wie stellte sich das Spektrum von Akteur/innen, Aktivitäten und Schauplätzen zwischen Stettin, Breslau und Kattowitz/Katowice, Olmütz/Olomouc und Preßburg/Bratislava bis nach Budapest oder Odessa/Odesa dar? Wodurch zeichnete sich das Rezeptionsverhalten des Publikums aus?
Folgende Themenkomplexe stehen zur Diskussion:
Kontexte und Formate
- Wer setzte die administrativen Rahmenbedingungen, erteilte Genehmigungen für Vergnügungsangebote auf staatlicher und/oder kommunaler Ebene?
- Welche Formate und Angebote – von lokal bis transnational – wurden aufgegriffen? Welche Orte der Vergnügungskultur konnten sich herausbilden?
- Welche Rolle spielten dabei die Größe der jeweiligen Stadt und die soziale Zusammensetzung ihrer Einwohnerschaft?
- Wie veränderte sich das Angebot in Zeiten von Wirtschaftskrisen und Weltkriegen?
Akteur/innen und Netzwerke
- Welche Akteur/innen (lokale oder externe) waren prägend?
- Welchen Anteil hatten jüdischer Akteur/innen, und wie entwickelten sich ihre Biographien und Unternehmungen?
- Welche Rolle spielten Frauen in der Vergnügungskultur?
- Wer etablierte welche Strukturen im Arbeitsfeld „Vergnügungskultur“?
- Wie wurden überregionale Tourneeplanungen organisiert?
- Gab es Netzwerke von Unternehmern, Schaustellern, Artisten, die regional und/oder national übergreifend tätig waren? Welche Medien und Praktiken des Austauschs waren relevant?
- Wie wurden deutschsprachige Kommunikationsplattformen - etwa die Zeitschriften „Der Komet“, „Der Artist“ oder „Das Programm“ – damals genutzt? Gab es vergleichbare Plattformen in anderen Sprachen? Und wie sind sie heute für die Forschung nutzbar?
Rezeptionen
- Welche Formate der Vergnügungskultur fanden besonderen Anklang?
- Welche Rolle spielte die Vergnügungskultur in den multiethnisch geprägten Gesellschaften des östlichen Europas? Wo verband sie, wann trennte sie soziale Gruppen (und warum)?
- Unterschied sich das Rezeptionsverhalten des Publikums im östlichen Europa von demjenigen in Städten vergleichbarer Größe im westlichen Teil des Kontinents?
Diesen und weiteren Fragen möchten wir vom 24.-25. März 2025 auf einer interdisziplinären Tagung des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte des östlichen Europas in Oldenburg in Kooperation mit dem Willy Brandt Zentrum der Universität Wrocław nachgehen. Beiträge (20 Minuten) in deutscher oder englischer Sprache, vergleichende Perspektiven ebenso wie Fallstudien, sind willkommen. Eine spätere Publikation ist geplant. Reisekosten können erstattet werden, sofern entsprechende Mittel zur Verfügung stehen.
Bitte senden Sie ein kurzes Exposé Ihres unveröffentlichten Beitrags (2.000 Zeichen) und Angaben zu Ihrer Person bis zum 31.10.2024 an Maria Luft (maria.luft@bkge.bund.de) oder Dr. Andrzej Dębski (andrzej.debski@uwr.edu.pl).