Die Welt von gestern deuten. Historische Anthropologie als Zugang zu einer komplexen Vergangenheit

Die Welt von gestern deuten. Historische Anthropologie als Zugang zu einer komplexen Vergangenheit

Veranstalter
Europäische Kulturanthropologie / Historische Anthropologie
Veranstaltungsort
Universität des Saarlandes, Graduate Center, Campus Saarbrücken
PLZ
66123
Ort
Saarbrücken
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
20.06.2024 - 22.06.2024
Von
Simone Egger, Historische Anthropologie / Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes

Welche Rolle spielt das Deuten der Vergangenheit in einer Zeit, in der das Bewusstsein für – historische – Zusammenhänge insgesamt abnimmt, während Rückwärtsgewandtheit auf dem Vormarsch ist, wie der Soziologe Zygmunt Bauman (2017) schreibt? Mit dem Symposium soll ausgelotet werden, welche historischen Fragestellungen derzeit in kulturwissenschaftlicher Bearbeitung sind und was insbesondere die Perspektive der historischen Anthropologie dazu beitragen kann.

Die Welt von gestern deuten. Historische Anthropologie als Zugang zu einer komplexen Vergangenheit

Das Symposium für Prof. Dr. Barbara Krug-Richter wird sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit dem Deuten der Welt von gestern befassen. Der Fokus liegt dabei auf der historischen Anthropologie, einem Zugang, den der Historiker Richard van Dülmen an der Universität des Saarlandes maßgeblich weiterentwickelt hat. Als interdisziplinärer Denkansatz zeichnet sich die historische Anthropologie gerade dadurch aus, dass sie nicht auf der Makroebene ansetzt bzw. stehen bleibt, sondern in Analogie zur kulturwissenschaftlichen Alltagsgeschichtsschreibung nach Handlungsspielräumen und Erfahrungen einzelner, auch weniger privilegierter Menschen und deren Lebenswelten jenseits der bürgerlichen Mitte fragt. Aus Sicht der historischen Anthropologie geht es immer auch um politische und ökonomische Bedingungen, vor allem aber um Gestaltungsspielräume, „die Wahrnehmungsweise, die Gefühlswelt und die Subjektivität“ handelnder Akteur:innen (van Dülmen 1997: 8). Eine solche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit interessiert sich nicht nur für vermeintlich vernunftgesteuerte Entscheidungen, „sondern gleichermaßen [für] … Gefühle und Stimmungen, die nicht weniger rational verankert sind als die Vernunft selbst“ (van Dülmen 2020: 34). Als Felder und Gegenstände der Analyse schließt die historische Anthropologie sowohl Arbeits- oder Protestkulturen als auch Volksfrömmigkeit oder den Diskurs um Fremdheit sowie Kommunikations-, Geschlechter- oder Kolonialgeschichte mit ein, um nur einige wenige Bereiche zu nennen (vgl. u.a. van Dülmen; Habermas; Tanner; Zemon Davis).
Das Erfassen von Beziehungen und Relationen in Gegenwart und Zukunft ist untrennbar mit dem Nachdenken über historische Entwicklungen verbunden. Etwa im Kontext der Public History tauchen heute viele Aspekte wieder auf, die in der historischen Anthropologie bereits thematisiert worden sind: die Forschung zu marginalisierten Akteur:innen, das Wissen um transnationale biografische Erfahrungen oder auch die Vielstimmigkeit von Narrativen, die im Rahmen von Ausstellungen oder auch Sammlungskonzepten vermittelt werden. In der Volkskunde, empirischen Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie hat die historische Forschung immer eine zentrale Rolle gespielt und ist programmatisch weiterentwickelt worden (vgl. u.a. Bausinger; Fenske; Göttsch-Elten; Greverus; Kienitz; Lindner; Lehmann; Lipp; Wietschorke).
Welche Rolle spielt das Deuten der Vergangenheit nun in einer Zeit, in der das Bewusstsein für – historische – Zusammenhänge insgesamt abnimmt, während Rückwärtsgewandtheit auf dem Vormarsch ist, wie der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Band „Retrotopia“ (2017) schreibt? Barbara Krug-Richter war als Kulturwissenschaftlerin zwölf Jahre lang für das Fach „Historische Anthropologie“ in Saarbrücken zuständig, ihre Forschung setzt in der Frühen Neuzeit an, ebenso beschäftigen sie Phänomene und Prozesse der jüngeren Vergangenheit. Am Übergang zur „Europäischen Kulturanthropologie“, wie das Fach an der Universität des Saarlandes inzwischen heißt, wollen wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit nach dem Potential der historischen Anthropologie als kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektive fragen. Mit dem Symposium soll ausgelotet werden, welche historischen Fragestellungen derzeit in kulturwissenschaftlicher Bearbeitung sind und was insbesondere die Perspektive der historischen Anthropologie dazu beitragen kann.

Für eine Teilnahme bitten wir um zeitnahe Rückmeldung an sek-kulturanthropologie@uni-saarland.de. Der Tagungsbeitrag ist 30 Euro/20 Euro.

Programm

Donnerstag, 20.06.2024

Meet and Greet ab 12.00 Uhr
Kaffee und Getränke

Einführung und Begrüßung 13.00-13.30 Uhr
Stefanie Haberzettl (Saarbrücken): Grußwort der Dekanin
Simone Egger, Leonie Müller (Saarbrücken): Die Welt von gestern deuten

Impuls 13.30-14.30 Uhr
Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (Wien): Historisch-anthropologisches Forschen aus wissenschaftsbiographischer Perspektive (digital)

Kaffeepause 14.30-15.00 Uhr

Transnationale Beziehungen und postkoloniale Diskurse 15.00-18.00 Uhr
Moderation: Joachim Rees (Saarbrücken)
Xenia Müller (Berlin): Im Schatten des Fortschritts. Differenzkonstruktionen im Zeichen von Zeitlichkeits-, Geschichts- und Entwicklungsvorstellungen
Ute Holfelder (Klagenfurt): Die Alpen-Adria-Region – eine „Übergangsgegend“. Historische Lebenswelten anhand von Reisebeschreibungen erschließen
Lisa Gottschall (Wien): Gefangen, objektifiziert und rassifiziert: Anthropologisch-ethnologische Untersuchungen von „Kolonialsoldaten“ in Lagern der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg

Kaffeepause 16.30-17.00 Uhr

Anne-Katrin Broocks und Claudia Pinzon Cuellar (Berlin): Historische, inklusive Diskursanalyse als ‚dekoloniale‘ Methode? Entwicklungen der ‚NaturenKulturen des Amazonas‘ und der ‚MangrovenKulturen‘ Ecuadors (digital)
Simone Egger (Saarbrücken): Seife aus Smyrna und Modemagazine aus München. Historische Netze und transnationale Assemblagen

Gemeinsames Abendessen in Saarbrücken ab 20 Uhr

Freitag, 21.06.2024

Medien und Unterhaltung 9.00-11.00 Uhr
Moderation: Clemens Zimmermann (Saarbrücken)
Marie Helbing (Bocholt): Der Konfektionär – Die vielfältigen Lesarten einer Modefachzeitschrift
Roman Smirnov (Bochum): Empathie-Zeitmaschine: Perspektivität in vergangenheitsbezogenen immersiven VR-Anwendungen
Sabine Eggmann (Zürich): Ländler, Landschaft und Geschichte. Zur volkskulturellen Bildpraxis im Schweizer Fernsehen (1960-1980)
Antje Reppe (Dresden): Inszeniert und zelebriert – „Heimatfeste“ im Kontext der Heimatbewegung um 1900

Kaffeepause 11.00-11.30 Uhr

Archive und Quellen 11.30-13.00 Uhr
Moderation: Simone Egger (Saarbrücken)
Philipp Müller (Bochum): Archive und historisches Wissen. Plädoyer für eine materiale Wissensgeschichte
Christiane Huber (München): Ein Dorf philosophiert. Historisches Wissen als Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung
Nicole Götzelmann (München): Zum (auto-)biografischen Erkenntnispotenzial von Nachlässen. Subjektwerdung im Kalten Krieg

Mittagspause 13.00-14.00 Uhr

Arbeiter:innen 14.00-15.30 Uhr
Moderation: Barbara Krug-Richter (Saarbrücken)
Joana Baumgärtel (Saarbrücken): Zwischen Arbeits- und Lebenswelt. Sozialpolitik und Wohnungsbau im Bergbau der Saarregion nach dem Zweiten Weltkrieg (digital)
Andrea Sommerauer (Innsbruck): Hör mal, wer da spricht. Biografische Fragmente aus der Tiroler Zeitgeschichte: Chancen, Grenzen und Anwendungsmöglichkeiten
Mate Eichenseher (Stuttgart): „Zu Buchstaben geronnene Praktiken.“ Zeitungen als Quellen historisch-ethnographischer Forschung

Kaffeepause 15.30-16.00 Uhr

Stadt und Urbanität 16.00-18.00 Uhr
Moderation: Jens Wietschorke (München)
Philip Hahn (Saarbrücken): War das ein Reenactment? Sinnesgeschichtliche Fragen zu einem Stadtfest des 19. Jahrhunderts
Anna Hoppe (Trier): Das kulturelle Erbe Baden-Badens
Leonie Müller: Von „marginal (wo)men“ und „underdogs“. Kulturanthropologische Perspektiven auf das Frankfurter Bahnhofsviertel
Alexander Schwinghammer (Weimar): Sprudelnde Hähne und rotierende Platten: Automatenrestaurants als futuristische Speisetempel

Öffentlicher Abendvortrag im Filmhaus 19.30-21.00 Uhr
Barbara Krug-Richter (Saarbrücken): Aufbruch in die Mobilität? Zur Entstehung und Wahrnehmung der Saarbrücker Stadtautobahn

Anschließend Empfang mit Crémant

Samstag, 22.06.2024
Geschlechterverhältnisse und soziale Figuren 9.30-11.00 Uhr
Moderation: Jonas Nesselhauf (Saarbrücken)
Alexandra Regiert (Regensburg): „So modern waren ja die Zeiten auch nur auf dem Papier“ – zum Wandel von Paar- und Ehealltagen in der BRD im Licht biografischer Narrationen (1945–1999)
Sarah May (Saarbrücken): Mutter, Kind und „Vater Staat“ – Konzeptionen von Elternschaft(en) in Schwangerschaftsratgebern der langen 1960er Jahre
Manuel Bolz (Hamburg/Göttingen): Der ‚Lude‘. Von einer urbanen Helden- zur Krisenfigur? Kulturelle Aushandlungen von Vergnügen, (Un)Sicherheit, Macht und Geschlecht im Hamburg St. Pauli der 1970er und 1980er Jahre

Kaffeepause 11.00-11.30 Uhr

Die Welt von gestern deuten? 11.30-13.00 Uhr
Moderation und Fazit: Michaela Fenske (Würzburg)
Diskussion mit: Simone Egger (Saarbrücken), Sabine Eggmann (Zürich), Philip Hahn (Saarbrücken), Christiane Huber (München), Jens Wietschorke (München)

Kontakt

sek-kulturanthropologie@uni-saarland.de

https://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/egger.html
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Deutsch
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