2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Voraussichtlich wird dabei wie schon bei den früheren runden Jahrestagen u.a. auch die Geschichte von Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung im östlichen Europa in den Fokus des öffentlichen Interesses und Erinnerns rücken. Mit „Flucht und Vertreibung“ ist hier ein Begriffspaar genannt, unter dem im deutschsprachigen Diskurs eine ganze Bandbreite historischer Ereignisse subsumiert wird und das in diesem synthetischen bzw. verkürzenden Charakter bereits Ausdruck (historisch variabler) erinnerungskultureller Konstellationen ist.
Seit mehreren Jahren bestimmt die Frage nach dem demographischen Wandel und dem damit verbundenen Zurücktreten der Erlebnisgeneration die Debatten über die Erinnerung u.a. an den Holocaust, den nationalsozialistischen Terror, den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen und auch an Flucht und Vertreibung. Was bspw. in den 1990er-Jahren noch als künftige demographische Entwicklung erörtert wurde, wird in unserer Gegenwart zur Tatsache: Altersbedingt wird die Zahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer geringer. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Diskussionen darüber, wie Erinnerungs- oder Geschichtskultur (Fragen der Begriffswahl sind Teil der Debatten) in Zukunft beschaffen sein soll, an Intensität und zeigen in Teilen eine neue Qualität. Die Gegenstände des Erinnerns, ihre gesellschaftliche Relevanz und politische Rahmung werden dabei ebenso verhandelt wie etwa die Formen, Medien und verfügbaren finanzielle Ressourcen. Die Fragen nach der Zukunft des Erinnerns stehen dabei heute zugleich im Kontext von weiter ausgreifenden, immer dringlicher werdenden Zukunftsfragen (v.a. Klimawandel, digitale Transformation und geopolitische Neuordnungsbestrebung) und sind vielfach mit diesen verbunden.
Unter dem Schlagwort der „Zukunft der Erinnerung“ werden, teils vorschlagsweise, teils auch in normativer Absicht, die oben angerissenen Fragenkomplexe diskutiert. Wie muss/soll „Erinnerungskultur“ in einer zunehmend durch Migration und Diversität geprägten Gesellschaft beschaffen sein? Wie müssen/sollen sich bestehende erinnerungskulturelle Diskurse und Praktiken zu postkolonialen Perspektiven verhalten? Welche Potentiale besitzt Künstliche Intelligenz für zukünftige Formen der Zeitzeugenschaft?
Was für diese beispielhaften und explizit auf die Zukunft des Erinnerns bezogenen Fragen gilt, lässt sich zugespitzt auch in Bezug auf erinnerungskulturelle Praktiken und Diskurse, Ausprägungen von Geschichtskultur oder institutionalisierte Formen des „Kulturerbes“ generell behaupten. Auch diese können (sei es als bewusst ausformuliertes Programm oder gar Utopie, sei es als Implikation, Andeutung oder Prämisse) Bezüge auf Zukünftiges besitzen. Erinnerung kann bspw. durch auf die Zukunft bezogene Hoffnungen, Vorstellungen, Ängste, Befürchtungen, Planungen etc. motiviert oder geprägt sein. Das Gedächtnis besitzt eine „Zukunftsorientierung“ (Aleida Assmann). Im Sinne der kulturwissenschaftlichen Zukunftsforschung bringen also auch Bezüge auf die Vergangenheit Zukunft hervor. Selbstverständlich sind auch Praktiken und Diskurse zu beobachten, deren Zukunftsorientierung im Beschweigen, Tabuisieren oder Zensieren besteht.
Im Rahmen der Tagung sollen unterschiedliche Aspekte der Zukunftsorientierungen des Erinnerns analysiert werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Komplex „Flucht und Vertreibung“ der deutschen Bevölkerung im östlichen Europa in unterschiedlichen lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Kontexten.
In zeitlicher Hinsicht interessieren hier v.a. aktuelle Phänomene. Ebenso sind historische Formen der Erinnerung an „Flucht und Vertreibung“ und ihre Zukunftsorientierungen relevant, denn diese Frage war entsprechenden Praktiken und Diskursen von Beginn an vielfach eingeschrieben. Möglich sind auch Vorträge, die nicht oder nicht nur der Erinnerung an „Flucht und Vertreibung“ gewidmet sind, aber Vergleichsperspektiven eröffnen.
Mit Blick auf Zukunftsorientierungen könnten beispielsweise untersucht werden:
- Zivilgesellschaftliche Initiativen, Bewegungen und Zusammenschlüsse
- Institutionen wie Museen und Gedenkstätten, Vereine, Verbände, Akteure der historischen Bildungsarbeit, Parteien
- Phänomene auf der Mikroebene wie das biographische Gedächtnis oder transgenerationales Erinnern
- Politische Diskurse und Praktiken sowie gesetzliche Rahmenbedingungen
- Performative Formate wie Rituale, religiöse Praktiken, Feste, Reenactments oder Events
- Ästhetische und/oder zeichenhafte Phänomene wie Literatur, Kunst, Symbole, Embleme
- Objekte wie z.B. Denkmäler, Kunstwerke, Architektur, Erinnerungsstücke
- Prozesse der Kommodifizierung und Kommerzialisierung etwa im touristischen Kontext
Neben kultur-/sozialwissenschaftlichen Beiträgen, die sich reflexiv-analytisch mit (historischen und aktuellen) Zukunftsorientierungen des Erinnerns an „Flucht und Vertreibung“ beschäftigen, sind auch solche Beiträge willkommen, die sich auf praktische, d.h. eher normative, spekulative oder visionäre Weise mit der Frage nach der Zukunft der Erinnerung beschäftigen. (Nicht nur) An dieser Stelle sind insbesondere Personen aus der musealen, medialen, pädagogischen etc. Praxis angesprochen.
Ihren Vorschlag für einen 30-minütigen Vortrag, bestehend aus
- Arbeitstitel des Vortrags,
- Abstract des Vortrags (1.500-2.000 Zeichen inkl. Leerzeichen) und
- kurzen biographischen Angaben zu Ihrer Person
senden Sie bitte bis zum 15. Oktober 2024 an: tilman.kasten@ivde.bwl.de