Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte (gtg) und des Interdisziplinären Gremiums Technikgeschichte des VDI (IGTG), in Kooperation mit dem Deutschen Technikmuseum Berlin und der TU Berlin (Fachgebiet Technikgeschichte)
Smartphone, T-Shirt oder die in Marokko gepulte Nordseekrabbe sind prägnante Bei-spiele einer gegenwärtigen Fertigung, die global distribuiert entlang von sogenannten Güter- bzw. Produktionsketten abläuft. Multilokales Fertigen ist jedoch keine neue Erscheinung der Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts und ihrer postfordistischen Reorganisation von Produktion. Die Geschichte von Arbeit und Produktion weist zahl-reiche ältere Variationen auf, bei denen das Produzieren bzw. Verarbeiten kleinteilig zerlegt wurde, um einzelne Fertigungsabschnitte dort ausführen zu lassen, wo die Kosten geringer, Sozial-, Sicherheits- und Umweltstandards niedriger oder Arbeitskräfte verfügbarer waren. Multilokales Fertigen bildete in anderen Fällen außerdem eine Alternative zur zentralisierten Massenproduktion, um in Bereichen einer flexiblen Nischenproduktion schnell auf sich ändernde Bedarfe reagieren zu können (Piore/Sabel).
Schlagworte wie „globale Liefer- und Warenschöpfungsketten“ oder die „verlängerte Werkbank“ im System einer internationalen Arbeitsteilung sind inzwischen – auch in der Forschung – allgegenwärtig. Sie verschleiern jedoch die konkreten Arbeitspraktiken und Arbeitsbedingungen ebenso wie die logistischen Strukturen, die jedes räumlich desintegrierte Fertigen benötigt, wie auch dessen problematische Externalisierungseffekte und Machtasymmetrien. Die Tagung möchte daher dazu anregen, anhand konkreter (technik)historischer Fallbeispiele hinter solche „Waren-, Produktions- und Lieferketten“ zu blicken: Wie veränderten kleinteiliges Zerlegen und räumliches Auslagern von Fertigungsstufen Arbeit und Produktionstechnik? Inwieweit waren multilokale und globale Produktionsnetzwerke auf bestimmte Technik angewiesen? Welche Logistik war nötig und wie wurden Transport, Zwischenlagerung, Kommunikation, Koordination und Kontrolle abgesichert? Welche Rolle nahm Technik in den intersektionalen Benachteiligungen ein? Und inwieweit ist es angemessen, mit unseren historischen Narrativen und Analysen an der Ketten-Metapher anzuknüpfen oder sollten wir diese enge Beziehung lösen?
Die Tagung bringt damit ein klassisches Themenfeld in den Fokus der Technikgeschichte zurück und spitzt es auf den Fall der multilokalen und globalen Fertigung zu, die zuletzt wesentlich von der Global-, Wirtschafts- und Geschlechtergeschichte sowie der neuen Geschichte des Kapitalismus untersucht wurde. Das Thema lädt überdies zu stoff- und materialgeschichtlichen Perspektiven ein, die auch für Museen bei der Vermittlung entsprechender multilokaler und globaler Geschichten umfassende Potentiale bieten.
Insbesondere zu folgenden Schwerpunkten laden wir zu Beitragseinreichungen ein:
Outsourcing, Offshoring und die Verschiebung globaler Machthierarchien: Historische Fallbeispiele
Outsourcing und Offshoring sind Schlagwörter eines fluiden Wirtschaftssystems, das seine Produktions- und Investitionsorte in den letzten Jahrzehnten immer dynamischer global zu verschieben scheint. Dass Unternehmen ihre Produktionsprozesse oder auch das Aufbereiten und Weiterverarbeiten von Rohstoffen zu Waren räumlich verteilt organisieren, lässt sich aber auch bereits in vergangenen Jahrhunderten antreffen. Technik- und Regionalgeschichte haben dies insbesondere für das vormoderne Verlagssystem und die Frühindustrialisierung gezeigt. Auch die Massenproduktion kam nicht ohne komplexe Netzwerke aus formellen und informellen Fabriken, Hinterhof- und Heimarbeitsstätten aus, wie es das „sweatshop“-System der Konfektionsindustrie prägnant verdeutlicht. Regionale Produktionsnetzwerke wuchsen sich früh zu globalen aus und die Auslagerung so mancher Produktionsstufe in Billiglohnländer begann weit vor dem späten 20. Jahrhundert.
Die Technikgeschichte bietet derzeit allerdings wenig Erklärungsansätze, wenn nach der Historisierung von Phänomenen wie dem inzwischen sogenannten „Lieferkettenkapitalismus“ (Tsing) oder den „mechanical turks“ der „Gig Economy“ gefragt wird. Wie eine multilokale und zunehmend globale Arbeitsteilung mit veränderten regionalen und globalen Machthierarchien wechselwirkte, thematisieren derzeit insbesondere Studien aus der Wirtschafts- und der neueren Kapitalismusgeschichte, etwa anhand der globalen Vernetzungen und Verschiebungen von Baumwollanbau und Baumwollverarbeitung (Beckert) oder entlang weiterer kolonialer Stoffe und Waren. Uns interessieren einschlägige Beispiele der jüngeren Vergangenheit ebenso wie solche aus der Vormoderne oder der Industrialisierungsphase.
Lineare Ketten oder fragile Logistik? – Ansätze und Narrative
Aktuelle Studien zur Logistikgeschichte sprechen von „Materialflüssen“ (Dommann), kulturhistorische Untersuchungen von „Warenströmen“ und wirtschaftshistorische Arbeiten haben sich „commodity chain“-Ansätze (z. B. Gobal Commodity Chains, Global Value Chains; Grewe, Hesse) angeeignet, um die komplexen Wege, Vernetzungen und verflochtenen Produktionsstufen einer global distribuierten Fertigung verfolgen zu können.
Nicht zuletzt die Debatte um das umstrittene europäische „Lieferkettengesetz“ und seine deutsche Ausformulierung hat jedoch die Frage aufgeworfen, ob dies überhaupt bis hin zum letzten „Kettenglied“ möglich ist.
Wir möchten zu Beiträgen ermuntern, die den Mehrwert wie auch die Fallstricke von dominanten Metaphern und Bildern wie „Kette“, „Strom“ oder „verlängerte Werkbank“ kritisch thematisieren. Gibt beispielsweise die Metapher der – ja linearen, homogen skalierten – Kette die fluiden Vernetzungen und kritischen Abhängigkeiten adäquat wieder? Was passiert im „Dazwischen“ einzelner Fertigungsstufen? Welches Potential liegt diesbezüglich in Mikrogeschichten sowie in neuen Ansätzen einer Geschichte der Logistik?
Kürzlich wurde auf das epistemische Potential verwiesen, den Materialfluss anhand seines Stillstands und der Störung zu analysieren (Dommann).Wie lässt sich die konzeptionelle Idee, den Ketten, Strömen und Stufen der Warenherstellung vom Rohstoff zum Fertigprodukt mit der Vulnerabilität, Fragilität und Krisenanfälligkeit übereinbringen, der eine ausgelagerte Produktion und ihre Umschlagplätze etwa durch Naturgewalten, Sabotage, Krieg oder Krise unterliegen? Und welche historischen Narrative könnten die aktuellen Debatten bereichern, die angesichts der Erfahrungen der Covid-19-Pandemie, des Ukraine-Kriegs und sich ändernder geopolitischer Machtverhältnisse ein „De-Risking“ und ein „Re-, Near- oder Friendshoring“ fordern?
Im Schatten der Externalisierungsgesellschaft: Zwischen Intersektionaler Ungerechtigkeit und dem Recht auf Teilhabe
In der Soziologie wurde das „Leben auf Kosten der Anderen“ (Lessenich) als eines der zentralen Charakteristika westlicher „Externalisierungsgesellschaften“ beschrieben. Der Zusammenhang der räumlichen Distribution von Produktion – und letztlich auch der Entsorgung – mit intersektionalen Ungleichheiten und Diskriminierungen ist evident. Das Auslagern von Produktionsstufen hatte und hat weniger technische, sondern soziale, wirtschaftliche, politische wie ökologische Gründe, etwa ein Gefälle von Arbeits-, Lohn- und Qualifizierungschancen oder niedrigere Sicherheits- und Umweltstandards. Die bisherige historische Forschung legt nahe, dass eine solche intersektionale Benachteiligung insbesondere Frauen, migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter und sozial marginalisierte Gruppen betrifft, die in sogenannten „Billiglohnländern“ produzieren, toxischen „E-Waste“ auseinandernehmen oder unter starker mentaler Belastung Bilderkennungsprogramme für KI-Software trainieren. Die räumlich desintegrierte Arbeitsteilung inkludierte dabei oftmals informelle Ökonomien – von der klassischen Heimarbeit bis hin zur digitalen Plattformökonomie, bei der kurzfristige Aufträge an geringfügig Beschäftigte oder Freiberufler vergeben werden.
Zugleich hinterfragen jüngere Studien zunehmend die stereotypen Erzählungen zu (post)kolonialen Machtasymmetrien (van der Straeten/Hasenöhrl; Dhawan) und plädieren für die Überwindung eurozentristischer Perspektiven, die sich im Spannungsfeld von (sozialer oder Umwelt-) Ungerechtigkeit und Recht auf Teilhabe an den globale Ver- und Entsorgungsketten offenbaren. Mikrogeschichten bzw. „stories from ‚below‘ “ (Hård) unterstreichen in diesem Zusammenhang die Bedeutung von (trans)regionalen Netzwerken und den lokalen Gegebenheiten von Umwelt, Ressourcen und Wissensbeständen ebenso wie lokale Widerständigkeiten und Persistenzen indigener Praktiken.
Eingereicht werden können Einzelvorträge (max. 20 Minuten) ebenso wie ganze Sektionen (3-4 Einzelvorträge) oder (nach Absprache) Formate abseits des klassischen Vortrags. Ihren Vorschlag auf Deutsch oder Englisch (Abstract von max. 500 Worten und max. 1 Seite CV pro Beitrag) senden Sie bitte bis zum 31. Oktober 2024 an technikgeschichte@vdi.de.
Auf der Tagung wird auch der vom VDI gestiftete „Conrad-Matschoß-Preis für Technikgeschichte“ vergeben.
Nähere Informationen hierzu finden Sie unter: https://www.vdi.de/netzwerke-aktivitaeten/technikgeschichte