An vielen Universitäten weltweit hat sich die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus allgemein und der kolonialen Vergangenheit der jeweiligen Institution in den letzten Jahren erheblich intensiviert, zuletzt vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung. Dies gilt in besonderem Maße für die Universitäten des (west-)europäisch-transatlantischen Raums. Die Fragen, mit denen sie konfrontiert werden, sind vielfältig: Inwieweit waren die Universitäten an der Sklaverei beteiligt und/oder haben daraus materielle Gewinne erzielt, haben sie sich Landrechte autochthoner Menschen angeeignet? Damit sehen sich besonders US-amerikanische und kanadische Universitäten konfrontiert. Wie fest war die Universität in die Heranziehung und Ausbildung Weißer Funktionseliten für die kolonialen Herrschaftsapparate integriert, spielte sie gar eine tragende Rolle? Sciences-Po in Paris beispielsweise hat sich mit dieser Frage intensiv befasst. Findet die koloniale Vergangenheit in der universitären Erinnerungskultur einen angemessenen Raum, wird sie hinreichend kritisch aufgearbeitet? Hierfür wären (bei allen Unterschieden) die „Rhodes Must Fall!“-Initiativen in Cape Town und Oxford gute Beispiele. Finden koloniale Themen und postkoloniale Perspektiven Raum in den Curricula? Das wurde etwa an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) heiß diskutiert („Why is my curriculum white?“). Und, damit verbunden, öffentlich etwas weniger sichtbar, in vielen Lehrveranstaltungen jedoch präsent, wird ganz grundsätzlich die Frage nach einer Hegemonie ‚westlicher‘, in der europäischen Aufklärung wurzelnder Episteme in den Wissenschaften aufgeworfen und in Lehrveranstaltungen immer wieder und immer nachdrücklicher gestellt.
Blickt man allein auf Mobilisierungskraft, Nachdruck der Fragestellungen und öffentliche Wirksamkeit, fallen die deutschen Universitäten weit hinter Cape Town, Paris, London oder Princeton zurück. Aber auch hierzulande hat das Interesse an der kolonialen Vergangenheit von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in den letzten Jahren ganz erheblich zugenommen, wie generell in der deutschen Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit für den eigenen Anteil am westlichen Kolonialismus in der Welt stark zugenommen hat. Die heftigen Kontroversen um das Berliner Humboldt-Forum dürften hierfür einen beschleunigenden und intensivierenden Impuls gegeben, wenngleich nicht am Anfang der Debatten gestanden haben.
In etlichen deutschen Universitäten werden die Forderungen nach „Dekolonisierung“ aufgegriffen und haben sich diesbezügliche Initiativen entwickelt. An manchen Standorten gaben anstehende Universitätsjubiläen dafür den Impuls, traditionell der Moment, sich der eigenen Geschichte zu vergewissern und, wo noch nicht substanziell vorhanden, umfangreiche Studien dazu in Auftrag zu geben und zu finanzieren. Um erinnerungspolitisch aktiv zu werden, bedarf es aber anstehender Jubiläen nicht mehr; auch das ist in den letzten ein-zwei Jahrzehnten deutlich geworden. An einigen Orten sind es studentische Initiativen, die historische Fragen an ihre Alma Mater richten; andernorts sind es aktivistische Interventionen von außen, die starke Impulse setzen. In der Atmosphäre gesellschaftlichen Interesses am deutschen Kolonialismus ergreifen aber auch vielfach Universitätsleitungen, Fakultäten oder einzelnen Wissenschaftler:innen die Initiative und greifen die „koloniale Frage“ auf.
In Berlin als einem der großen deutschen Wissenschaftsstandorte haben sich kolonialhistorische Initiativen bislang vor allem auf die Geschichte der universitären und (häufig aus diesen hervorgegangenen) musealen Sammlungen konzentriert und auf diesem Gebiet viele Aktivitäten entfaltet; das Humboldt-Forum sei genannt, für den Kontext dieser Tagung fast wichtiger ist die diesbezügliche Arbeit des (bis 2009 zur Humboldt-Universität gehörenden) Museums für Naturkunde. Die drei großen Berliner Universitäten jedoch stehen bestenfalls am Anfang, ihre koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, ebenso die weiteren Forschungs-einrichtungen der Stadt.
Die geplante Tagung setzt sich vor diesem Hintergrund zwei wissenschaftliche Ziele:
Erstens sollen laufende Initiativen an Universitäten in Deutschland miteinander in einen Dialog gesetzt und vernetzt werden. Dies ist bislang systematisch noch nicht geschehen. Deutlich weiter vorangeschritten ist die Vernetzung der universitären Sammlungen, für die eine gemeinsame Koordinierungsstelle entstanden ist (https://wissenschaftliche-sammlungen.de/de/). Bei der Tagung sollen die Sammlungen daher eher nachrangig behandelt werden.
Es kann und soll bei dieser Tagung nicht um eine vollständige Erhebung sämtlicher kolonial-bezogener Initiativen an deutschen Universitäten gehen, das kann Gegenstand eines Zusammentreffens in einigen Jahren sein, wenn tatsächlich „kritische Masse“ zusammengekommen ist.
Zweitens sollen die Erfahrungen, die andernorts gesammelt wurden, genutzt werden, um das entstehende Konzept für Berlin weiterzuentwickeln. Identifiziert werden sollen best practices genauso wie nicht umgesetzte/umsetzbare Ideen. Identifiziert werden sollen aber auch und vor allem die Fragen, die die Referent:innen an ein umfassendes Berliner Projekt richten.