Das Schlagwort von der ,Krise der Demokratie‘ ist derzeit in aller Munde. Stimmen aus der Philosophie, der Soziologie und den Politikwissenschaften haben bereits ein Zeitalter der „Postdemokratie“ (Jacques Rancière/Colin Crouch) ausgerufen, das von einer Erosion demokratischer Verfahren und politischer Partizipation geprägt sei. Auch und gerade in den beiden größten Ländern der Europäischen Union, in Deutschland und Frankreich, wächst die Unzufriedenheit mit den bestehenden Formen demokratischer Entscheidungsfindung, Regierung und Verwaltung. Der Unmut artikuliert sich etwa in einer hohen Zahl von Nichtwähler:innen, in einer zunehmenden Radikalität und Kompromisslosigkeit politischer Forderungen oder in wachsenden Zustimmungswerten für rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) und den Rassemblement national.
Die Reaktionen auf diese Symptome und Diagnosen sind ebenso vielfältig wie widersprüchlich: Auf der einen Seite stehen Forderungen nach neuen Partizipationsformen wie ,direkter Demokratie‘, ,Schwarmintelligenz‘ oder Bürgerräten. Auf der anderen Seite wird die Legitimität bestehender demokratischer Institutionen und Verfahren infrage gestellt, werden Wahlergebnisse angezweifelt und Politiker:innen offen attackiert. In Deutschland und Frankreich tragen Protestbewegungen unterschiedlicher politischer Couleur und mit höchst divergierenden Anliegen wie ,Pegida‘, ,Nuit debout‘ und die ,Gelbwesten‘, ‚Querdenker‘ und ,Fridays for Future‘ ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen auf die Straße. Viele von ihnen bringen den vermeintlichen ,Volkswillen‘ gegen die politischen ,Eliten‘ in Stellung, die angeblich gegen die Interessen einer Mehrheit handeln.
Partizipation und die Möglichkeit von Protest sind unverzichtbar für demokratisches Denken und Handeln. Allerdings können Forderungen nach allumfassender Mitsprache und radikaler Protest ihrerseits zur Bedrohung für repräsentative Demokratien werden. Dies gilt gerade dann, wenn der Gedanke der Mitbestimmung nicht inklusiv und integrativ formuliert, sondern mit exklusiven Konzepten von ,Volk‘ und ,Nation‘ verknüpft wird. Außerdem waren und sind inszenierte Plebiszite, organisierte Partizipation und gelenkter Protest seit dem 19. Jahrhundert auch in autoritären Staatswesen gängige Praxis. So haben jüngere Debatten über das wilhelminische Kaiserreich und die nationalsozialistische ,Volksgemeinschaft‘ gezeigt, dass politisch-gesellschaftliche Teilhabe und ,Demokratisierung‘ nicht deckungsgleich sind. Ähnlich ließe sich auch mit Blick auf das französische Zweite Kaiserreich argumentieren.
Die Tagung soll die „normative Ambivalenz“ von Partizipation und Protest (Anja Kruke/Philipp Kufferath) ausleuchten und ihr Spannungsverhältnis zu Demokratisierungsprozessen und demokratisch verfassten Staatswesen in historischer Perspektive diskutieren. Sie fragt danach, wie ,Demokratie‘ als Idee und als Rahmen politischen Handelns immer wieder durch konkrete Praktiken hervorgebracht, verändert und in Frage gestellt wurde. Sie blickt also auf die Schaffung, Mehrung und Verteidigung, aber auch auf die Infragestellung, Erosion und Abschaffung von ,Demokratie‘ – wobei sie Partizipation und Protest gleichermaßen als Voraussetzung und potenzielle Bedrohung demokratisch verfasster Gesellschaften versteht.
Dem praxeologischen Ansatz entsprechend gehen wir nicht von einem feststehenden, analytischen ,Demokratie‘-Begriff aus. Vielmehr interessieren wir uns dafür, wie ,Demokratie‘ durch individuelles und kollektives Handeln konstruiert bzw. dekonstruiert wurde. Dabei gilt es zu differenzieren zwischen Dynamiken ,von unten‘ und ,von oben‘, zwischen friedfertigen und gewaltsamen Praktiken, zwischen alltäglichen, routinierten und oft unbewussten Formen des (Ab)Schaffens von ,Demokratie‘ einerseits und bewusstem, zielgerichtetem und revolutionärem Handeln andererseits. Ziel ist es, die historische Vielfalt demokratiebezogener Praktiken abzubilden und die vielschichtige(n) Vorgeschichte(n) unserer Gegenwartsdebatten über ,Demokratie‘, Partizipation und Protest aufzudecken.
Die Tagung soll damit einen Beitrag leisten zu einer (selbst)kritischen Problemgeschichte demokratischer Legitimität vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Erwünscht sind Beiträge aus den Geschichtswissenschaften und historisch arbeitenden Nachbardisziplinen. Ein Schwerpunkt liegt auf Deutschland und Frankreich, wobei neben dem Vergleich der oft sehr unterschiedlichen demokratischen Vorstellungen und Praktiken in beiden Ländern insbesondere auch Fragen nach Transfers, Verflechtungen und Hybridisierungen von Interesse sind. Darüber hinaus freuen wir uns aber auch über Fallbeispiele zu anderen europäischen Ländern und außereuropäischen Weltregionen, insbesondere wenn sie mit vergleichenden, transnationalen oder globalhistorischen Ansätzen kombiniert werden.
Vier Schwerpunkte sollen das Themenfeld strukturieren und gleichzeitig Anregungen für mögliche Problemkomplexe und Fragestellungen geben:
1) Subjekte und Objekte: Welche Akteure beteiligten sich an der (Ab)Schaffung von ,Demokratie‘? Auf welche Gegenstände und gegen wen richteten sich ihre Forderungen nach Partizipation und ihr Protest? Wer wurde – etwa aufgrund von Race, Class, Gender und Age – von Partizipation ausgeschlossen? Wer verzichtete freiwillig auf politische Teilhabe oder lehnte bestimmte Formen des Protests ab? Jenseits klassischer Forschungsgegenstände wie Parteien, Vereinen, Lobbygruppen und sozialen Bewegungen könnten Beiträge sich Themen wie dem Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie, aber auch Gruppen wie ,Nichtwähler:innen‘, ,Protestwähler:innen‘, ,Wutbürger:innen‘ oder der ,schweigenden Mehrheit‘ widmen.
2) Formen und Medien: Wie und mit welchen Mitteln wurden Partizipation und Protest praktiziert – und welcher zeitliche Wandel lässt sich dabei ausmachen? Wie wirkte die Wahl der Mittel auf die Formen und Inhalte von Partizipation und Protest zurück? Und inwiefern veränderten demokratiebezogene Praktiken den Charakter und die Wahrnehmung bestimmter Medien? Mögliche Themen wären eingespielte Formen demokratischer Praxis wie Eingaben, Petitionen, Demonstrationen und Streiks, aber auch in ihrer Zeit originelle und neue Protestformen wie Bankette, öffentliche Feiern, Sit-ins und Teach-ins. Diskutiert werden könnte außerdem die Rolle von Presse, Radio, Fernsehen oder Social Media bei der Herstellung partizipativer Öffentlichkeiten.
3) Räume und Orte: Wo formierten und artikulierten sich Partizipation und Protest – und welche räumliche Reichweite hatten sie? Inwiefern hingen Partizipation und Protest von der Zugänglichkeit oder Abschottung von Räumen ab? Und wie veränderten demokratiebezogene Praktiken die Wahrnehmung, Gestaltung und Nutzung bestimmter Orte und trugen insofern zur (De)Konstruktion von Räumen bei? Beiträge könnten sich etwa befassen mit Salons und Clubs, mit Parlamenten und Bannmeilen, mit ,der Straße‘ als gleichermaßen abstraktem wie konkretem Ort des Protests, mit symbolischen Orten politischer Artikulation wie der Place de la République in Paris oder dem rheinischen Straßenkarneval, mit Protestcamps und Gipfeltreffen.
4) Zeiten und Konjunkturen: Was waren Hochphasen der Partizipation und des Protests – und wann waren demokratiebezogene Praktiken eher unaufgeregt und routiniert? Wie verhielten sich revolutionäre Zäsuren zu Prozessen der ,longue durée‘? Und war die Entwicklung der Partizipation seit dem 19. Jahrhundert eine Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte – oder eher ein (zyklisches) Auf und Ab? Denkbare Themen wären revolutionäre Zäsuren wie etwa ,1789‘, ,1848‘, ,1918‘, ,1968‘ oder ,1989‘, aber auch der ,stille‘ Wandel partizipativer Praktiken – etwa im Rahmen von Verwaltungshandeln, gerichtlichen Grundsatzurteilen, politischer Bildungsarbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement.
Die Tagung findet vom 5. bis 7. November 2025 am Institut für Zeitgeschichte in München statt. Tagungssprachen sind Deutsch und Französisch. Die Reise- und Übernachtungskosten der Vortragenden werden (unter Vorbehalt einer noch ausstehenden Bewilligung beantragter Mittel) vom DFHK übernommen. Es ist geplant, die Beiträge anschließend in der Schriftenreihe des DFHK (Franz Steiner Verlag) zu veröffentlichen.
Interessent:innen werden gebeten, den Titel ihres Vortrags, ein Abstract (maximal 500 Wörter) sowie ihren Lebenslauf (eine Seite) in deutscher, französischer oder englischer Sprache bis zum 15.12.2024 in einer Datei per E-Mail an folgende zwei Adressen zu schicken: johannes.grossmann@lmu.de sowie nathalie.le-bouedec@u-bourgogne.fr. Wir freuen uns besonders über Vorschläge von Promovierenden und Postdocs.