Die Hagiografie steht im Ruf, aufgrund ihres häufig legendarischen Charakters und von Topoi geprägten Erzählens nur bedingt als historische Quelle verlässlich zu sein, wobei diese Einschätzungen vor allem auf die Haupthandlung rekurrieren. Eingebettet sind Heiligenviten und Mirakelberichte jedoch nicht selten in mehr oder weniger ausführliche Schilderungen von alltäglichem Geschehen und Umweltbedingungen, die durchaus Aussagekraft über die Lebenswelt ihrer Autor:innen und Rezipient:innen besitzen. Der Workshop widmet sich diesen Rahmenhandlungen von hagiografischen Texten und fragt nach ihrem Erkenntniswert für die Erforschung der vormodernen Alltags- und Umweltgeschichte.
Wiederholt hat die mediävistische Forschung auf den Informationsgehalt hingewiesen, den die szenische Einbettung hagiografischer Texte, und unter diesen besonders jene der Mirakelberichte, für die oft nur schwer greifbare Alltags- und Vorstellungswelt des Mittelalters besitzt. Hervorgehoben wird dabei, dass die Autor:innen heiligmäßiges Wirken und wundersames Geschehen (im Sinne eines unerklärlichen, das Erwartbare übersteigenden Ereignisses) wohl kaum in einem Darstellungskontext platziert hätten, der auf ihr Publikum gänzlich fiktional wirkte. Vielmehr hätten sie die Protagonist:innen ihrer Texte in einer Kulisse agieren lassen, die dem zeitgenössischen Publikum plausibel, d. h. der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt nahekommend, erschien und mithin die Glaubwürdigkeit der Berichte bekräftigte. Dies sei besonders für Heilige mit nur wenigen oder gar unikalen Kultorten sowie für hagiografische Texte mit überwiegend lokaler bis regionaler Zielgruppe anzunehmen, weil ortskundige Rezipient:innen die dort geschilderten Umstände und Gepflogenheiten einer direkten Überprüfung in der eigenen Lebensrealität hätten unterziehen können: Existierten die erwähnten Personen, Institutionen oder Orte wirklich? Stimmten die beschriebenen Lebensumstände mit den eigenen überein? Traten die wundersam behobenen Probleme, Sorgen und Gebrechen auch im eigenen Umfeld auf? Die positive Beantwortung vergleichbarer Fragen dürfte die Authentizität von Viten und Mirakeln dabei nicht nur unterstrichen, sondern auch die potenzielle persönliche Relevanz einer Hinwendung zu den entsprechenden Heiligen und ihren Verehrungsstätten unterstrichen haben.
Der Dokumentation von Wundern und ihren Zeug:innen kam sowohl in Kanonisationsverfahren als auch bei der Legitimierung und Propagierung von Kultorten tragende Bedeutung zu. Blieben in entsprechenden Auflistungen zwar viele der wundersam Geheilten anonym, sind dahingehende Informationen in manchen Texten bisweilen so detailreich, dass sich Identitäten und Lokalitäten in anderen Quellenarten, z. B. aus administrativem oder historiografischem Entstehungskontext, identifizieren lassen, wodurch gleichsam die Verankerung des Mirakels in der historischen Lebenswelt fassbar wird.
Davon ausgehend, dass zumindest Autor:innen von hagiografischen Texten mit starkem Lokalbezug und ausführlicher Rahmenhandlung durchaus Wert auf eine plausible, d. h. in der Lebens- und Erfahrungswelt ihres Publikums verankerte, Berichterstattung legten (die vielleicht nicht immer wiedergab, was wirklich war, aber doch das schilderte, was aus zeitgenössischer Sicht als möglich galt), erscheint es gewinnbringend, entsprechende Manuskripte und Drucke eingehender auf ihre Aussagekraft als alltags- und umwelthistorische Quellen hin zu überprüfen.
Für eine entsprechende Auseinandersetzung kommen für den hier fokussierten Interessensschwerpunkt des vormodernen Alltags- und Umweltgeschehens z. B. folgende Themengebiete infrage:
- Personen und soziale Situationen (z. B. reale Identitäten, Gruppenzugehörigkeiten., gesellschaftlicher Status, Geschlecht, Lebensalter, Lebensbedingungen, Gefühle)
- Handlungs- und Arbeitsweisen (z. B. in Handwerk, Bildungseinrichtungen, Landwirtschaft, Religionsausübung, Zeitvertreib)
- Wirtschaftsleben (z. B. Handelspraktiken, Preise und Wertigkeiten, Waren, Krisen)
- Medizin- und Körperwissen (z. B. Symptome, Heilmittel, Unfallrisiken)
- Ernährung (z. B. Nahrungsmittel, Zubereitung, Verfügbarkeit/Mangel, Qualitäten)
- Gegenstände, ihre Beschaffenheit und Verwendung (z. B. Werkzeuge, Haushaltsgegenstände, Bekleidung)
- Umwelt (z. B. Verfügbarkeit und Nutzung von Ressourcen, Flora und Fauna, Tierhaltung)
- Geografie, Topografie, Infrastruktur, Architektur (z. B. Aussagen über Landschaft, Stadtbild, Straßen, Gebäude)
- Mobilität (z. B. Ausgangs- und Zielorte, Routen, Wallfahrten, Fortbewegungsmittel)
- Katastrophenerfahrung und -bewältigung
Von Interesse sind sowohl Auswertungen, die sich allein auf hagiografische Texte beziehen, als auch Studien, die Verbindungen zu seriellen, diplomatischen, historiografischen Quellen etc. aufzeigen. Der Workshop ist sowohl offen gegenüber interdisziplinären Ansätzen (Archäologie, Kunstgeschichte, Sprach- und Literaturwissenschaften, etc.) als auch gegenüber Vorschlägen zu den benachbarten Epochen des Mittelalters. Vortragssprachen sind Deutsch und Englisch.
Bitte senden Sie Ihren Vorschlag für einen 20-25-minütigen Vortrag (<500 Wörter) und ein kurzes CV bis zum 25. Februar 2025 an han.schaefer@fau.de.
Die Reisekosten (DB, 2. Klasse) und eine Übernachtung der Vortragenden können übernommen werden.