Angesichts der Zunahme EU-kritischer Bewegungen, Krieg sowie antidemokratischer Tendenzen auf dem europäischen Kontinent erlangen konkurrierende Konzepte, Geschichten und Narrative von Europa im 21. Jahrhundert große Bedeutung. Dasselbe gilt für einen Dialog über widersprüchliche und geteilte historische Narrative, der erforderlich ist, wenn sich die sprichwörtliche Einigung in Vielfalt und die damit verbundenen demokratischen Werte auf dem europäischen Kontinent entfalten sollen. Diese Tagung geht von der Annahme aus, dass – soziale, politische, geschlechtsbezogene, ethnische oder religiöse – Vielfalt zwar oft als Ursache von Problemen dargestellt wird, jedoch für Europa in der Gegenwart und Zukunft auch ein Mittel sein kann, um der Erosion von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt entgegenzuwirken. Die Auseinandersetzung mit sozial marginalisierten Positionen, subalternen Sichtweisen und historischen Peripherien hält demnach wichtige Impulse für eine kritische Reflexion und Neubetrachtung Europas bereit, weil sie etablierte Darstellungen um die Perspektiven »anderer Europas« und »anderer Europäerinnen und Europäer« ergänzt (z. B. El-Tayeb 2011; Fornäs 2017; Gasser 2021; Otele 2020; Polland et al. 2020).
Diese Tagung bringt internationale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen zusammen, um Europa und seine Geschichte aus marginalisierten, peripheren und subalternen Perspektiven zu untersuchen. Sie fragt, inwieweit sich Konzepte, historische Darstellungen und Narrative von »Europa« verändern, wenn sie von Gruppen (neu) erzählt werden, die keinen oder wenig Zugang zu (politischer, wirtschaftlicher, sozialer) Macht haben bzw. soziale oder kulturelle Marginalisierung – z.B. aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Klasse, Geschlecht, Religion, Alter oder Sexualität – erfahren. Damit knüpft die Tagung zum einen an eine Reihe jüngerer Forschungsarbeiten an, die lineare, erfolgsorientierte oder binäre Narrative von Europa dekonstruieren und zugleich neue Perspektiven auf die Geschichte der europäischen Integration eröffnen (z. B. Patel 2018 und 2022; Soutou 2022; Leucht et al. 2020; Ruppen Coutaz und Paoli 2024). Zum anderen möchte sie diese Forschungen erweitern, indem sie Subalternität und Intersektionalität als analytisch vielversprechende Konzepte einbringt. Obwohl beide Konzepte in den Geschichts- und Kulturwissenschaften lange etabliert sind, enthalten sie für eine transnationale Geschichte Europas, die nicht aus einem einzigen Blickwinkel oder aus Top-Down-Perspektiven, sondern vielmehr in einem geografisch und sozial erweiterten Rahmen erzählt werden, nach wie vor großes Potential. Wir argumentieren, dass solche Geschichten, die etwa die Perspektiven von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, Geflüchteten, Arbeiter und Arbeiterinnen, Frauen, Jugendlichen, Nicht-Staatsbürger und -Staatsbürgerinnen, Minderheiten sowie diversen, aufgrund von Hautfarbe, Ethnizität oder sexueller Identität kategorisierten und diskriminierten Menschen berücksichtigen, einen vielversprechenden Ausgangspunkt bieten, um normative, hegemoniale oder romantisierte Visionen von Europa und seiner Vergangenheit zu dekonstruieren.
Die Tagung berücksichtigt ein breites fachliches Spektrum aus Geschichtswissenschaft, Soziologie sowie Literatur- und Kulturwissenschaft. Wir freuen uns auf Beiträge, die sich auf Europa in der Zeit zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert konzentrieren, und eines oder mehrere der folgenden Themen behandeln:
- Geschichten über Europa oder Europäisierungsprozesse aus marginalisierten, peripheren oder subalternen Perspektiven und ihr Potenzial, blinden Flecken in der Geschichtsschreibung zu begegnen und/oder Konflikte und widersprüchliche Erinnerungen zu bearbeiten,
- historisch variable Konzepte eines »anderen Europas«,
- alternative Europavorstellungen in historischer Perspektive, historische Visionen »anderer Europas« als Bezugspunkt oder »Lehre« für die Gegenwart,
- Konzepte von Europa in Bezug auf den geografischen Raum, wechselnde Konstellationen von Zentren und Peripherien, polyzentrische oder dezentrierte Ansätze,
- konzeptionelle Ansätze zur Untersuchung »anderer Europas« in Vergangenheit und Gegenwart (z.B. »von unten«, »von den Rändern«, »Dezentrierung«, »Dekolonisierung«, »Queering«, »Schwarzes Europa«) und ihre analytischen Potentiale und/oder politischen Implikationen,
- »Europa« als eine (positiv oder negativ aufgeladene) Vision oder Bezugspunkt in sozialer Kritik oder in politischen Bewegungen in Vergangenheit und Gegenwart,
- die Wirkungsweisen historischer Erzählungen über Europa in aktuellen kulturellen Kontexten und ihre politischen Inanspruchnahmen,
- die Wirkungsweisen von (antieuropäischen) Diskursen des Anti-Elitismus in populistischen, rechten oder linken Erzählungen über und Visionen für Europa in Vergangenheit und Gegenwart,
- Erzählungen über Europa in verschiedenen Genres und Medien – transgenerische und intermediale Perspektiven.
Wir freuen uns auf Vorschläge im Umfang von 500 Wörtern für Beiträge in Englisch, Französisch oder Deutsch, denen ein kurzer Lebenslauf (maximal 1 Seite) beigefügt ist. Bitte senden Sie diese bis zum 14. Februar 2025 an nmay@dhi-paris.fr.
Die Kosten für Reise und Unterkunft (in der Regel zwei Übernachtungen) werden bei erfolgreicher Einwerbung von Drittmitteln durch die Veranstalter übernommen.
Referenzen:
Fatima El-Tayeb, European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011.
Johan Fornäs (Hg.), Europe Faces Europe. Narratives from its Eastern Half, Chicago 2017.
Lucy Gasser, East and South. Mapping Other Europes, Abingdon 2021.
Brigitte Leucht u.a. (Hg.), Reinventing Europe. The History of the European Union, 1945 to the Present, London 2023.
Olivette Otele, African Europeans. An Untold History, London 2020.
Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.
Kiran Klaus Patel, Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart, München 2022.
Imke Polland u.a. (Hg.), Europas Krisen und kulturelle Ressourcen der Resilienz. Konzeptionelle Erkundungen und literarische Aushandlungen, Trier 2020.
Raphaëlle Ruppen Coutaz und Simone Paoli (Hg.), Building Europe Through Education, Building Education Through Europe Actors. Spaces and Pedagogies in a Historical Perspective, Abingdon 2024.
Georges-Henri Soutou, Europa! Les projets européens de l’Allemagne nazie et de l’Italie fasciste, Paris 2021.