Generationengerechtigkeit?
Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500-1850
Die Konferenz dient der interdisziplinären Verständigung innerhalb und unter den Fächern Geschichte, Rechtsgeschichte, Volkskunde/Europäische Ethnologie, Soziologie und Philosophie. Motiviert ist die Tagung durch das wachsende Interesse an rechtlichen Praktiken, als einer Ausprägung des ‚practice turn’ innerhalb der Sozialwissenschaften. Die Initiatoren erwarten, dass von dieser Konferenz Impulse für innovative Forschungsvorhaben zum Norm-Praxis-Verhältnis in den beteiligten Disziplinen ausgehen werden.
Problemstellung
In den meisten Gesellschaften besteht die Notwendigkeit, den Transfer von materiellen Gütern von einer Person auf andere zu organisieren. Die Frage gewinnt vor allem während der großen lebensgeschichtlichen Passagen zwingende Bedeutung – Eintritt in das Erwachsenenleben und damit möglicherweise verbundene ökonomische Unabhängigkeit, Eheschließung, Versorgung im Falle von alters- oder krankheitsbedingter Erwerbslosigkeit, schließlich der Tod. Diese Einschnitte sind zumeist verbunden mit dem Transfer von Vermögensbestandteilen zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern. Wie diese Transfers im Einzelnen vonstatten gehen, ist abhängig von kulturell und historisch höchst variablen Vorstellungen über angemessene Beziehungen zwischen Jung und Alt sowie zwischen Mann und Frau. Die Rekonstruktion von Vermögenstransfers und ihrer Rechtfertigungen lassen insbesondere Rückschlüsse zu über die variierenden Vorstellungen von Billigkeit und Gerechtigkeit sowie über deren Geltung. Die Arbeitsgemeinschaft nimmt diesen Zusammenhang zwischen rechtlichen und ethischen Normen und der intergenerationellen Transferspraxis für die drei Jahrhunderte vor Beginn der Moderne in den Blick.
Interdisziplinarität
Angesichts der engen Verschränkung zwischen Normativität und Praxis ist eine Kooperation zwischen Rechtshistorikern, Ethnologen, historisch argumentierenden Sozialwissenschaftlern sowie kulturanthropologisch informierten Historikern geboten. Vorreiter solcher Forschungsvorhaben sind im angelsächsischen Bereich, im Mittelmeerraum und in Frankreich zu finden, während die deutschsprachige Forschung derzeit einen Nachholbedarf aufweist. Die Konferenz dient deshalb auch der Weiterentwicklung von Fragestellungen und Methoden auf der Grundlage interdisziplinärer Vergleiche mit den Ergebnissen der Forschung in den europäischen Nachbarländern.
Im Begriff ‚Generationengerechtigkeit’ sind Probleme angelegt, die sich nicht allein durch die Analyse des positiven Rechts und der sozialen Praxis der Beteiligten klären lassen. Sowohl bei der Formulierung von rechtlichen Normen, als auch bei Auseinandersetzungen um ihren praktischen Gebrauch bezogen sich die Zeitgenossen der frühen Neuzeit auf ethische Prinzipien, die sie der Bibel, den antiken Philosophien und den aktuellen Ethiken entnahmen. Höchste Bedeutung kam dabei dem biblischen Gebot der Elternliebe zu, das sich in erster Linie nicht an Kinder wandte, sondern an Erwachsene, die ihren Eltern mit Respekt begegnen und gehorchen sollten. Deshalb werden zu der Konferenz Kenner der Theologie- und Philosophiegeschichte eingeladen.
Historische Situierung der Thematik
Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen solchen Gesellschaften, in denen Altersversorgung und intergenerationeller Ressourcentransfer unmittelbar miteinander verküpft sind, und Gesellschaften mit bürokratischen Systemen der Daseinsvorsorge, die große Teile der Bevölkerung in ein mittelbares gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis setzen. Das universalhistorisch und auch heute für den Großteil der Weltbevölkerung übliche System beruht auf Transaktionen zeitlich versetzter Reziprozität zwischen Personen, die in der Regel in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen. Die Frage, wer als verwandt und damit als versorgungspflichtig und erbberechtigt gilt, ist kulturübergreifend Gegenstand normativer Bestimmungen und rechtlicher Verfahren. In komplexen Gesellschaften werden diese Regelungen häufig ergänzt um institutionelle Lösungen (erweiterte Familie und Adoption, Waisenhaus und Hospital), die aus demographischen Unwägbarkeiten resultierende familiäre Probleme abzufedern helfen. Auch diese Institutionen bedürfen rechtlicher Normen und Verfahren.
Das staatlich garantierte bürokratische System der Altersvorsorge löst den unmittelbaren Zusammenhang zwischen intergenerationellem Ressourcentransfer und Versorgungspflichten nur teilweise. Wenn heute von ‚Generationengerechtigkeit’ die Rede ist, verschwimmen die durch bürokratische Organisationen verwalteten Zuwendungen mit den Mitteln und Diensten, die auf personaler Grundlage erfolgen. Das hat insofern systemische Gründe, als das Angewiesensein auf Hilfe aufgrund mangelnder oder nicht vorhandener Autonomie eine der Grundtatsachen menschlicher Existenz bildet, als Säuglinge und Kleinkinder am Beginn des Lebens, phasenweise als akut Kranke, dauerhaft bei Invalidität und häufig im Greisenalter. Großorganisationen wären damit überfordert, all diese Leistungen zu erbringen, so dass sie weiterhin überwiegend den weiblichen Familienangehörigen aufgebürdet werden. Diese ‚Liebesdienste’ finden keineswegs zwangsläufig Berücksichtigung bei der Ermittlung von Erbschaftsanteilen. Wird – wie derzeit zu beobachten – der Versuch unternommen, Leistungen und Zumutungen, persönliche Zuwendungen und materielle Profite nicht nur innerfamiliär, sondern gesellschaftlich zu ‚verrechnen’, so gerät man leicht in die Aporien kollektiver und generationeller Zurechnungen individuellen Verhaltens.
Zumindest in dieser Hinsicht gestalteten sich die Verhältnisse in der ins Auge gefassten frühneuzeitlichen Epoche weniger komplex. Allerdings waren die Versorgung der Kinder, ihre Ausbildung und Ausstattung anläßlich der Gründung eines neuen Haushaltes und die Versorgung von alten Menschen und Invaliden nicht ins Belieben der Beteiligten gestellt, sondern unterlagen Institutionalisierungen und Normierungen. Verschiedene normative Vorstellungen bestanden nebeneinander und konkurrierten miteinander um Geltung: religiös-kirchliche Gebote, sittliche Normen der Lebenswelt, genossenschaftliche Traditionen (Adelsverband, Bruderschaft, Zunft, Kommune etc.), herrschaftliche Regelungen (Hofesverbände, grund- und leibherrschaftlicher Usus), familiärer Brauch. Die geschriebenen Rechte bildeten nur einen normativen Zusammenhang unter mehreren, allerdings einen besonders privilegierten, aufgrund der Möglichkeit, einmal gefundene Regelungen vertraglich zu fixieren und deren Durchsetzung an Instanzen außerhalb der sozialen Systeme abzutreten. Es steht zu diskutieren, ob diese ‚Funktionsentlastung’ von Familie, Nachbarschaft und Freundesverband durch Recht und Gerichte auch emotional entlastend und dadurch für diese sozialen Systeme stabilisierend wirkte.
Im Verlauf des Erbens und Vererbens, von Prozessen, die sich häufig nicht punktuell vollziehen, sondern über einen längeren Zeitraum erstrecken, wird nicht allein Besitz von den Angehörigen einer Generation auf die nächste übertragen, zugleich werden die Gefühle der Beteiligten aufs höchste angespannt. Die in der Überlieferung aufscheinenden Konflikte lassen erkennen, dass der Erbgang Gelegenheit bot zur Begleichung alter Rechnungen: Mancher erwartete Ausgleich für in der Vergangenheit erlittene Zurücksetzung. Für kindlichen Gehorsam, Dienstbereitschaft und Pflege im Alter bedurfte es materieller und symbolischer Kompensation. Zu achten ist deshalb nicht allein auf den pekuniären Wert der übertragenen Dinge, sondern auch auf die Bedeutungen, die mit bestimmten Gegenständen und mit dem rituellen Vollzug der Übertragung verbunden waren. Um sich den immateriellen Bedeutungen des Erbvorgangs nähern zu können, bedarf die Privatrechtsüberlieferung der Kontextualisierung.
Beitrag der wissenschaftlichen Disziplinen
Die Praktiken des Erbens und Vererbens und die damit verbundenen Vorstellungen über Billigkeit und Gerechtigkeit bilden seit jeher wichtige Gegenstände der Kulturanthropologie. Mit der Rechtsethnologie hat sich eine Subdisziplin ausdifferenziert, die unter dem Leitbegriff ‚Rechtspluralismus’ das Augenmerk darauf lenkt, dass sowohl die Sanktionierung von abweichendem Verhalten als auch die Regelung von property rights nicht ausschließlich durch staatliche Institutionen nach Maßgabe eines einheitlichen Rechts erfolgt, sondern dass vielfach andere Institutionen, wie Gemeindeversammlungen, Ältestenräte, Nachbarschaften, Korporationen, Clans oder Familienräte ergänzend oder konkurrierend Recht sprechen. Die Ethnologie hat seit vielen Jahren ihr Untersuchungsfeld erweitert und ihren an den ‚primitiven’ Zivilisationen geschulten Blick auch den ‚komplexeren’ Gesellschaften zugewandt. Hier trifft sie auf andere Disziplinen, die sich den gleichen Sachverhalten mit ihren spezifischen Fragen und Methoden nähern.
Weil in den neuzeitlichen Gesellschaften Europas und Nordamerikas der Transfer von Vermögen anlässlich von Eheschließung, altersbedingtem Rückzug aus dem Erwerbsleben und Tod rechtlichen Normen und Verfahren unterliegt, hat sich die Privatrechtsgeschichte intensiv mit diesem Problemzusammenhang befasst. ‚Rechtspluralismus’ ist für die Geschichte des Rechts in der frühen Neuzeit konstitutiv, schon aufgrund der Koexistenz von ‚rezipiertem’ römischen Privatrecht und anderen rechtlichen Normbeständen, wie denen des städtischen Statuarrechts, des Lehnrechts, der bäuerlichen Gewohnheiten und des grundherrschaftlichen Partikularrechts. Die regionalen Unterschiede in der Mixtur dieser Normbestände legt für die Konferenz eine heuristische Orientierung an den Rechtskreisen innerhalb des Alten Reiches nahe. Dabei soll die Orientierung am Norm-Praxis-Zusammenhang der – in der Vorstellung von klar umgrenzten Rechtskreisen angelegten – Reifizierung vorbeugen und das Augenmerk auf die Aneignungsweisen schriftlicher und oraler Rechtstraditionen vor dem Hintergrund eines regionalen oder örtlichen Gebrauchs lenken.
Da es sich bei der Übertragung von Vermögen zwischen den Generationen um Vorgänge handelt, die für die Entstehung, die konkreten Formen und den langfristigen Wandel ökonomischer und sozialer Chancen von allergrößter Bedeutung sind, haben sich auch Sozial- und Wirtschaftshistoriker mit diesen Gegenstand intensiv befasst. Sie können auf Vorarbeiten zurück greifen, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich verschiedene historische Schulen mit der Thematik auseinandergesetzt. Für die Gesellschaften vor der Moderne war insbesondere der Transfer von Grundbesitz von elementarer Bedeutung, weshalb privatrechtliche Quellenbestände eine wichtige Rolle in der agrargeschichtlichen Forschung spielen. Die Fragen nach egalitären oder ungleichen Erbrechten, nach ihrer regionalen Verbreitung und nach deren unterschiedlicher Handhabung in der Transferpraxis sind zentrale agrargeschichtliche Forschungsgegenstände. Dabei sind die regionalen Unterschiede von der deutschen Historiographie traditionell typologisch konzeptualisiert worden, als Ausdruck unterschiedlicher ‚Agrarverfassungen’. Praxeologisch vorgehende Mikrostudien aus dem Umfeld der Historischen Anthropologie haben Zweifel an der Valenz dieser Typologien genährt. Hier besteht ein dringender Bedarf nach einer klärenden Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft, die im Rahmen dieser Konferenz in Auseinandersetzung mit den Nachbarwissenschaften geführt werden soll.
Die Tagung soll beitragen zur:
Klärung des Norm-Praxis-Zusammenhangs bei der Übergabe von Besitz innerhalb und zwischen Familien,
- vor dem Hintergrund rechtlicher und ethischer Normen,
- unter Berücksichtigung des historischen Wandels im Kernzeitraum vom 17. bis zum 18. Jahrhundert (mit Seitenblicken ins 16. und 19. Jahrhundert),
- angesichts verschiedener Rechtstraditionen in Stadt und Land,
- in Anbetracht ständischer Differenzierungen,
- aufgrund der Analyse von Testamenten, Schenkungsurkunden, Legaten, Kaufverträgen, Inventaren, Altenteilerregelungen und Interimsabsprachen,
- wobei die geschlechtsspezifische Differenz als Grundtatbestand immer mitzubedenken ist.