Wissenschaft und Emotion – im Alltags- ebenso wie in einem klassischen Wissenschaftsverständnis stellt dies ein Gegensatzpaar dar: Wissenschaft beruhe im Kern auf einer rationalen Auseinandersetzung mit Welt; emotionale Aspekte würden hier allenfalls als zu überwindende Störfaktoren eine Rolle spielen. Im Unterschied zu dieser gängigen Meinung wird in neueren Überlegungen jedoch darauf verwiesen, „daß die konventionelleren Mechanismen der Rationalität ohne das Vermögen der Gefühle tatsächlich überhaupt nicht funktionieren könnten“ (Ronald de Sousa). Aus dieser Perspektive ließe sich die wechselseitige Beziehung von Wissenschaft und Emotionalität analysieren: Welche Rolle spielen Emotionen im Forschungsprozess? Wie werden sie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen konzeptionalisiert und damit einer rationalen Auseinandersetzung zugeführt? Wie sind die Wechselwirkungen dieser beiden Prozesse zu beschreiben und in welcher Weise wirkt sich wissenschaftliche Forschung auf den Emotionshaushalt einer Gesellschaft aus? Auf einer geschichtswissenschaftlichen Tagung zu diesem Thema soll analysiert werden, in welchen Schritten sich die bis heute gebräuchliche Gegenüberstellung von Wissenschaft und Emotionalität historisch herausgebildet hat und welchen Anteil daran wiederum die Wissenschaften trugen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass sich dieses Wechselverhältnis in der langen Jahrhundertwende um 1900 auf spezifische und bis heute nachwirkende Weise verändert hat.
Die Auseinandersetzungen in den Humanwissenschaften der Jahre 1880 bis 1930 waren durch ein kompliziertes Verhältnis zur Emotionskultur der europäischen Gesellschaften geprägt. Die zunehmende Unterminierung der bürgerlichen Geschlechterpolarität und die offenkundige Abschwächung einer entsprechend polaren Sexualordnung signalisierten für die Phase der Jahrhundertwende, dass das bürgerliche Emotionsregime, welches Gefühlsbetontheit (im weitesten Sinne) auf die Familie und das Privathaus einschränkte und im öffentlichen Umgang nur in Ausnahmefällen zuließ, an gesellschaftlicher Prägekraft verlor. Die viel zitierte Krise des bürgerlichen Subjekts kann insofern auch als Krise der Gefühlskultur beschrieben werden. An vielen Symptomen der Zeit von der Lebensphilosophie und den entsprechenden Reformbewegungen bis zur Kulturkritik kann man demgemäss die Thematisierung des Irrationalen, Mystischen, des Vitalen – im Gegensatz zu rationalisierten Alltagswelt – beobachten. Die zentrale Ausgangshypothese der Tagung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die zunehmende Entreglementierung der Emotionskultur verlangte nach wissenschaftlichen Versuchen der Bewältigung und Neujustierung; das gesteigerte wissenschaftliche Interesse an Emotionalität pluralisierte jedoch zugleich die sich ausdifferenzierende Gefühlskultur.
Die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und Richtungen sind für die Tagung von Interesse: Lebensphilosophie, Hermeneutik, Hirnforschung, Psychologie (darunter auch Massen-, Militär oder Wirtschaftspsychologie), Psychiatrie, Psychoanalyse, Kunstgeschichte, Soziologie etc. Für die Wissenschaft von Emotionen lassen sich eine Reihe von Fragen aufwerfen:
- Welche Thematisierung- und Bearbeitungsstrategien von Emotionalität lassen sich bei individuellen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen finden?
- Inwieweit lassen sich individuelle Verarbeitungs- und Reaktionsmuster mit Blick auf die zeitgenössische Emotionskultur beschreiben?
- Wie stellt sich der konzeptionalisierende Übergang in eine wissenschaftliche Bearbeitung dar?
- Inwieweit fließen diese in die wissenschaftlichen Diskussionen und Konzepte ein oder werden dort gar zu Kernaspekten?
- Entsteht ein Thematisierungskonsens jeweils in den einzelnen Disziplinen oder lassen sich disziplinübergreifend Gemeinsamkeiten finden?
Zugleich lässt sich die Blickrichtung ändern und die Rückkopplungseffekte der wissenschaftlichen Thematisierung auf den gesellschaftlichen Emotionshaushalt der Jahrhundertwende werden sichtbar. Für das Feld Emotionen durch Wissenschaften sind ebenfalls verschiedene Fragen relevant:
- Welche Rückkopplungen ergeben sich in der wissenschaftlichen Thematisierung und Bearbeitung in Bezug auf die zeitgenössische Emotionskultur?
- Entstehen neue Sprachmuster und inwieweit popularisieren sich diese?
- Bedeutet die wissenschaftliche Thematisierung von Emotionen deren Besänftigung, Verstärkung oder Erneuerung?
- Lässt sich in diesem Kontext überhaupt von Rationalisierungen des Gefühls sprechen und welche Gefühlszustände entzogen sich der Rationalisierung?
- Inwiefern verband sich die Verwissenschaftlichung der Emotionen zugleich mit einer Emotionalisierung der Wissenschaften?
Die Tagung wird vom 26. bis zum 28. Oktober 2006 in Berlin stattfinden. Sie wird vom „Arbeitskreis Geschichte + Theorie“ (AG+T) unter der Federführung von Uffa Jensen (University of Sussex) und Daniel Morat (Georg-August-Universität Göttingen) veranstaltet. Der CfP richtet sich nicht nur an Historiker, sondern auch an wissenschaftshistorisch arbeitende Vertreter der oben genannten Disziplinen. Alle Beiträge sollten die Beziehung von Wissenschaft und Emotionen sowohl theoretisch reflektieren als auch historisch einordnen. Alle Beiträge sollten zwei Wochen vor der Tagung vorliegen. Auf der Tagung selber werden jeweils 2-3 Vorträge von einem Diskussionsleiter kommentiert und dann im Plenum diskutiert. Wir würden uns über Bewerbungen, die neben einem Lebenslauf eine kurze Zusammenfassung des Themas von etwa einer Seite enthalten und an eine der unten angeführten Kontaktadressen geschickt werden sollten, bis zum 15. April 2006 freuen. Für Referenten und Referentinnen werden die Kosten der Tagungsteilnahme (Reise, Unterkunft und Verpflegung) voraussichtlich übernommen.