Der Übergang der östlichen Hälfte Europas von der „geschlossenen“ zur „offenen“ Gesellschaft vollzieht sich in den einzelnen Staaten der Region jeweils mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit unterschiedlichem Erfolg. Diese Differenzen sind nicht zuletzt historisch und kulturell bedingt. So ist es erforderlich, bei der Analyse der osteuropäischen Gegenwart nach dem Bruch von 1989/91 auch Kontinuitäten und längerfristige Entwicklungstendenzen zu erfassen. Dieser Thematik waren mehrere vom Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (ZIMOS) organisierte Tagungen, Ringvorlesungen und Fortbildungskurse gewidmet, die sowohl von der wissenschaftlichen als auch von der breiteren Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wurden.
Das nächste Fortbildungsseminar aus der Reihe „Osteuropa verstehen“ wird vom 19. bis 22. Oktober 2006 in Eichstätt stattfinden. Sein Titel lautet „Rußland an der Schwelle des 21. Jahrhunderts – Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven“.
Warum erweist sich die Umstellung Rußlands von der Plan- auf die Marktwirtschaft als ein wesentlich komplizierteres Vorhaben als bei seinen ehemaligen ostmitteleuropäischen Satelliten (Polen, Ungarn, Tschechische Republik)? Hat dies vielleicht damit zu tun, daß die staatliche Bevormundung, welche die wirtschaftliche Eigeninitiative der Gesellschaft zu ersticken suchte, in Rußland bereits 1917 begonnen hatte und in Ostmitteleuropa erst dreißig Jahre später (als diese Staaten zum Bestandteil des Ostblocks wurden)? Oder hat diese Entwicklung noch tiefere Wurzeln und läßt sich dadurch erklären, daß der Staat in Rußland bereits seit dem Beginn der Neuzeit ein eindeutiges Übergewicht über die Gesellschaft besaß? Oder haben die Unterschiede zwischen Rußland und Ostmitteleuropa auch religiöse Wurzeln und sind darauf zurückzuführen, daß Rußland im Mittelalter von Byzanz das sogenannte „cäsaropapistische System“ übernahm, in dem die Kirche der weltlichen Macht untergeordnet war? Die Kirche, die im Westen ein ebenbürtiger Kontrahent bzw. Partner der weltlichen Macht war und die dem gesellschaftlichen Pluralismus eine Art religiöse Weihe verlieh, konnte sich im Osten von der staatlichen Bevormundung kaum befreien.
Dies sind nur einige der Fragen, die im geplanten Kurs erörtert werden sollen.
Die Zielgruppe des Kurses sind in erster Linie Personen, die beruflich intensiv mit den Staaten Osteuropas in Berührung kommen. Er bietet darüber hinaus auch anderen interessierten Berufsgruppen und Personen die Möglichkeit, sich in kurzer Zeit Kompetenzen zum Thema anzueignen.
Im Rahmen des Kurses werden acht Spezialisten aus Deutschland und Rußland in kompakter Form relevante Teilbereiche zur russischen Geschichte und Gegenwart umfassend erläutern.
(Leonid Luks)
Referenten
Prof. Dr. Werner GUMPEL: Universität München; Fachmann
für Wirtschaft & Wirtschaftsentwicklung in Südost und
Osteuropa
Andrej GURKOW: Journalist der Deutschen Welle (DW) &
Buchautor / Köln; Kenner der russischen Medienlandschaft
Prof. Dr. Peter KRUPNIKOW: Universität der Bundeswehr,
Neubiberg; neuzeitliche Geschichte Osteuropas,
insbes. Baltikum und GUS
Prof. Dr. Leonid LUKS: Osteuropahistoriker, insbes. Geschichte
Rußlands & Polens; Stellv. Direktor des
ZIMOS / Universität Eichstätt
Alexander RAHR: Politologe und Publizist; Leiter der Körber-
Arbeitsstelle Rußl. / GUS am FI der DGAP / Berlin
Dr. Alexei RYBAKOV: Literaturwissenschaftler, Historiker
und Schriftsteller; wiss. Assistent des ZIMOS /
Universität Eichstätt
Prof. Dr. Gerhard SIMON: Osteuropahistoriker, Seminar
für Osteuropäische Geschichte der Universität zu
Köln
Prof. Dr. Otto LUCHTERHANDT: Rechtshistoriker, Seminar
für Ostrechtsforschung Universität Hamburg