Höchste Gerichtsbarkeit und Kriegszeiten
Mitten im Dreißigjährigen Krieg belegte der fürstbischöflich-bambergische Kastner Holzungs-, Allmende und andere Nutzungsrechte verschiedener Dörfer, die dem Reichsritter Hans Erhard von Giech gehörten, mit einem Arrest. Außerdem pfändete er von den Untertanen zwei Kühe mit der Begründung sie seien ihrer Steuerpflicht gegenüber dem Bischof nicht nachgekommen. Daraufhin klagte Giech als Gutsherr der Dörfer 1626 gegen den Bischof vor dem Reichskammergericht. Er wertete das Vorgehen des bambergischen Kastners als einen Versuch des Hochstifts Bamberg, sich Kontributions- und Heerfolgepflicht über seine Untertanen anzumaßen. Der Bischof sah dies Sache jedoch anders: Er bestritt die von Giech unterstellte Absicht und machte geltend, dass seine Untertanen sich wegen zahlreicher Truppendurchzüge bei ihm beschwert und verlangt hätten, dass auch die Untertanen der Reichsritterschaft diese Lasten zu tragen hätten. Schließlich seien sie auch an den gemeindlichen Nutzungen beteiligt. Daraufhin habe der Bischof die benachbarten ritterschaftlichen Familien um eine freiwillige Beisteuer seiner Untertanen gebeten. Allerdings seien nur die Familien Schaumberg und Künßberg dieser Aufforderung nachgekommen. Die Familie Giech habe sich geweigert. Giech bestritt jedoch vor Gericht, um Beihilfe gebeten worden zu sein.
Kriege zählten und zählen zu den dramatischsten Ereignissen in der Geschichte. Sie setzten Kräfte frei, die geeignet sind, die gegenwärtigen und künftigen Lebenswelten vollkommen neu zu ordnen. Der Prozess vor dem Reichskammergericht zeigt dies anschaulich, denn es handelt sich um den Versuch, die steuerlichen Abhängigkeiten neu zu definieren. Die Untertanen sahen die Lasten ungleichmäßig verteilt und beschwerten sich deswegen. Auch die Herrschaftsrechte zwischen Reichsritter und Bischof standen zur Disposition. Wer hatte welche Verfügungsrechte? Außerdem zeigt der Prozess, dass der Krieg und seine Folgen zu zahlreichen Konflikten führte, die die Menschen eben nicht mit Gewalt, sondern auf friedlichem Wege mit Hilfe der Höchsten Reichsgerichte (Reichskammergericht und Reichshofrat) lösen wollten.
Auch andere Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen schlagen sich in den Prozessakten nieder. So stritten nicht nur Reichsstände und Untertanen um ihre Rechte, sondern auch Privatparteien, die z. B. die Folgen von Münz- und anderen Geldverschlechterungen sowie Zahlungsunfähigkeit als Kriegsfolge tragen mussten.
Auf der nächsten Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, das sich an Nachwuchsforscher wendet, soll auf verschiedenen Ebenen analysiert werden, wie sich der Krieg und seine Folgen in Prozessen vor den Höchsten Reichsgerichten niedergeschlagen haben. Der Untersuchungszeitraum soll die Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des Alten Reiches umfassen. Leitfragen sollen dabei sein: Wie versuchten die Menschen der Frühen Neuzeit, dem Phänomen Krieg mit Hilfe der Justiz zu begegnen? Versuchten sie sich etwa der Justiz zu bedienen, um sich gegen den Krieg und seine Folgen zu wehren oder diese mit Hilfe der Gerichte zu kompensieren? Wenn dies der Fall war, in welchen Situationen versprachen sie sich dabei den größten Erfolg? Erhofften sie etwa, ihren persönlichen Frieden durch Recht zu erhalten?
Die Untersuchungen hierzu können auf drei verschiedenen Ebenen erfolgen:
Dies kann z. B. in Form der Behandlung einzelner Prozesse geschehen. Anhand ausgewählter Verfahren lassen sich womöglich Aussagen aus der Quellengattung der Prozessakten zur historischen Erforschung gesellschaftlicher Prozesse im Alten Reich in Kriegszeiten gewinnen: Welche Folgen hatten Münzverschlechterungen? Wie ging die Bevölkerung mit Einquartierungen um? Wie erlebten Adelige, Bauern und Bürger den Krieg? Lassen sich Kriegsfolgen direkt an den Prozessakten festmachen? Können die Prozessakten auch dazu dienen, etwas über das Verhältnis des Heiligen Römischen Reiches zu anderen Staaten Europas auszusagen? Gab es beispielsweise Prozesse gegen Frankreich wegen der Veränderungen, die unter dem Druck Napoleons kurz vor dem Ende des Alten Reiches geschahen?
Aber auch an die statistische Ebene ist zu denken: Wie veränderte sich die Anzahl der Prozesse in verschiedenen Territorien während eines Krieges oder gab es einfach keine Prozesse mehr? Wechselten die Streitgegenstände? Wer profitierte und wer verlor? Wie sah es mit den Prozessarten aus? Gab es in Kriegszeiten mehr Appellationen oder wuchs die Zahl der Mandate?
Auch ein Blick auf die Einrichtungen der beiden höchsten Gerichte lohnt sich: Welche Aussagen über die institutionelle Geschichte der Höchsten Gerichte im Alten Reich lassen sich durch die Auswertung von Prozessen zu kriegerischen Auseinandersetzungen überhaupt gewinnen? Wie wirkte sich der Krieg auch auf die Institutionen und ihre Geschichte aus? Welchen rechtlichen Status hatten sie in Kriegszeiten? Kamen dabei den Höchsten Gerichten vielleicht unterschiedliche Rollen zu? Galten sie als neutral? Änderte sich in Kriegszeiten vielleicht die Zusammensetzung ihres Personals? Wie stand es mit den Akten und Archiven? Wie organisierte das Gericht seine Tätigkeit in Zeiten der Bedrohung?
Unabhängig von dem aktuellen Tagungsthema versteht sich die Veranstaltung auch als Forum für Nachwuchswissenschaftler, die ihre Magisterarbeit, Dissertation oder ihr Habilitationsvorhaben mit thematischem Schwerpunkt zu der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich der Fachöffentlichkeit vorstellen wollen, ihre Forschungspläne diskutieren oder Anregungen empfangen möchten. Dafür ist auf der Netzwerktagung auch eine eigene Sektion vorgesehen, so dass die vorgestellten Projekte thematisch nicht unbedingt mit dem Tagungsthema übereinstimmen müssen. Daher besteht auch keine Pflicht zur Publikation der in dieser Sektion geleisteten Beiträge.