Es versteht sich für uns von selbst, dass ein Großteil unseres Wissens über das Altertum nicht nur auf archäologischen, sondern auch auf schriftlichen Quellen beruht. Die zuständigen Einzelwissenschaften haben deshalb mindestens eine starke philologische Komponente oder sind – was man heute im Zuge der kulturwissenschaftlichen Forschung wieder zu überwinden sucht – ganz auf die Erschließung von Texten konzentriert (Assyriologie, klassische Philologie). Dabei gilt in allen Wissenschaften das Hauptinteresse den Inhalten, dann auch den Erzeugungsprozessen von Textsorten aller Art und ihrer Funktion und Weitergabe im jeweiligen kulturellen Zusammenhang. Wie die Produzenten und Konsumenten mit Texten auf beweglichen Textträgern (d. h. nicht auf (Fels)Wänden, Stelen, Gebrauchsgegenständen) umgegangen sind und wie sie Literatur – im weitesten Sinne verstanden – auf Tontafeln und -scherben, Steinsplittern, Papyrus, Holz, Leder, Pergament gesammelt, aufbewahrt, verwaltet und erschlossen haben, ist vergleichsweise wenig beachtet worden. Da es sich um Schrifttum unterschiedlichster Gegenstände (wirtschaftlich, administrativ, religiös, literarisch, wissenschaft-lich, politisch usw.) und Funktionen (kultisch, dokumentarisch, edukativ, propagandistisch usw.) handelt, da die unterschiedlichsten Institutionen und Personen damit befasst waren (Staat, Palast, Tempel, Kirche, Kloster, Schule, Privatpersonen), steht das Thema „Bibliotheken im Altertum“ im Fokus mannigfacher Fragestellungen. Umgekehrt nähert man sich ihm auf verschiedenen Wegen, außer auf dem bibliotheksgeschichtlichen z. B. über Wirtschafts-, Verwaltungs-, Religions-, Theologie-, Architektur- und Literaturgeschichte sowie Archäologie. Man kann gar nicht umhin, das Bibliothekswesen in seiner gesellschaftlichen Einbindung zu behandeln.
Die Tagung wird das Schwergewicht auf den antiken Mittelmeerraum setzen und die ebenfalls ergiebigen Regionen Süd- und Ostasien mit ihren andersartigen Traditionen ausklammern, aber auch dann kann sie nicht flächendeckend und mit der erforderlichen Tiefe alles Material und alle Probleme erfassen. Statt dessen ist vorgesehen, sieben Bereiche der vorderorientalischen und europäischen Antike exemplarisch vorzustellen: Zweistromland, pharaonisches Ägypten, Alt-Israel, Griechenland, Rom, Byzanz, koptisch-gnostisches bzw. koptisch-christliches Ägypten, frühislamische Zivilisationen. Damit wird ein Zeitraum vom 4. Jahrtausend v. Chr. bis mindestens zum Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. erfasst. Entsprechend den unterschiedlichen geschichtlichen Bedingungen und den sehr verschiedenen Quellen- und Überlieferungsbefunden und Forschungslagen wird das Thema in vielen Facetten behandelt werden. Angesichts der interdisziplinären Zusammensetzung des Referenten- und Teilnehmerkreises werden die Referenten einen Überblick über das Bibliothekswesen in ihrem jeweiligen Fachbereich geben; einige von ihnen werden außerdem den Blick auf einen Spezialaspekt ihres eigenen Forschungsgebiets lenken.
Ein zweiter Schwerpunkt wird der mittelalterlichen Buch- und Bibliotheksgeschichte bis zur Renaissance und der Rezeption antiker Literatur im europäischen Mittelalter gelten. So werden die Tagungsvorträge sowohl für Bibliothekshistoriker als auch für Altertumswissenschaftler und Mediävisten aller Sparten, aber auch für die je eigenen Fachvertreter Neues enthalten, zumal das Thema Bibliothek, obwohl es zentrale Fragen des kulturellen Selbstverständnisses in allen behandelten Ländern berührt, zumindest in den altertumswissenschaftlichen Disziplinen bisher nicht zum Allgemeingut gehört.
Eine interdisziplinäre Zusammenkunft (samt folgender Buchveröffentlichung) in der vorgesehenen Zusammensetzung hat es im deutschsprachigen Raum bisher nicht gegeben. Die beteiligten Fachleu-te wird der intensive Austausch über gemeinsame oder unterschiedliche Aspekte des Themas berei-chern. Nicht minder werden sie von dem Kontakt mit den Bibliothekswissenschaftlern und Bibliotheka-ren profitieren, denen ihrerseits neuartige Perspektiven auf die historische Tiefendimension ihres Ge-genstandsbereichs eröffnet werden. Angesichts der bisher ungeahnten Chancen und Gefährdungen, denen die moderne Mediengesellschaft ausgesetzt ist, soll die Bedeutung der Tradition als Funda-ment und Korrektiv ins Bewusstsein gerückt werden.