Call for Papers
Tagung: Medizin und Gesellschaft in Westdeutschland, ca. 1945-1970
Zeit und Ort: 9. bis 11. Juli 2008, Bonn
Vortragsvorschläge bitte bis 31. Januar 2008!
Seit einigen Jahren lässt sich in den Geschichts- und Kulturwissenschaften ein verstärktes Interesse an den 1950er und 1960er Jahren in Westdeutschland beobachten. Die bisherigen Diskussionen und Ergebnisse zeigen einen Zeitraum, der einerseits von der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Nachwirkungen des Krieges geprägt war, andererseits von schnellen Wandlungsprozessen, die den politischen, ökonomischen und kulturellen Neubeginn überraschend schnell stabilisierten. Hier setzt die geplante Tagung an: Sie zielt auf eine thematische und methodische Verbreiterung der zeitgeschichtlichen Erforschung der Medizin und fokussiert hierbei auf jenen Zeitraum, der für Westdeutschland den endgültigen Übergang von einer Zusammenbruchs- zu einer Modernisierungsgesellschaft brachte.
Welcher Zusammenhang bestand zwischen diesen Wandlungsprozessen und der Wahrnehmung, Deutung und Konzeptualisierung von Gesundheit und Krankheit? Welche gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Kontexte prägten medizinisches Wissen und Handeln in der Nachkriegszeit? Und wie wirkten umgekehrt medizinische Erkenntnisse und Deutungsangebote auf die wissenschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der frühen Bundesrepublik, wie auf die Lebenswelten der Menschen im „Wirtschaftswunder“ ein? Zur Erprobung und Diskussion dieser Fragestellungen bieten sich insbesondere wissenschafts- und kulturgeschichtliche Zugänge an, die Medizin und Gesellschaft nicht als jeweils autonome Kategorien, sondern als dynamische und reziproke Felder begreifen, die von wechselseitiger Einflussnahme geprägt waren.
Themen
Wir freuen uns auf Vortragsvorschläge, die sich auf eines der folgenden Themen beziehen:
1) Konstellationen und Formen medizinischer Wissensgenerierung
Woher kommt und wie konstituiert sich „medizinisches Wissen“ in den 1950er Jahren? Wie ging das Aufgreifen, Weiterentwickeln, Umformen und Negieren jener Wissensbestände vor sich, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sowie im Nationalsozialismus bereitgestellt und in die Praxis umgesetzt worden waren? Die personellen „Kontinuitäten“ in der deutschen Universitätsmedizin nach 1945 sind mittlerweile breit dokumentiert, ebenso der zumeist von Entlastungsinteressen geleitete Umgang von Institutionen und Individuen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Genauer zu prüfen wären noch die spezifischen Konstellationen und Formen medizinischer Wissensgenerierung in der Nachkriegszeit, vor allem im Zusammenhang mit der Demokratisierung und Westintegration von Wissenschaft und Politik („Westernisierung“ der bundesrepublikanischen Medizin durch Forschungsaufenthalte und Förderprogramme, Einfluss des Kalten Krieges, antikommunistische Wissenschaftspolitik).
2) Kreative Milieus der Nachkriegsmedizin: Neue konzeptionelle/disziplinäre Ansätze
In der Rückschau erscheinen die 1950er Jahre als eine intensive Phase der (erneuten) Suche nach Selbstbestimmung und Neuausrichtung der universitären Medizin. Hierbei spielten insbesondere anthropologische, philosophische und soziologische Wissensbestände eine bedeutende Rolle. Auf welchen Wissensgrundlagen standen die medizinanthropologischen und -theoretischen Initiativen der Nachkriegszeit? An welchen Orten und innerhalb welcher kreativen Milieus entwickelten sich diese („Hotspot Heidelberg“)? Wer waren die tragenden Akteure und in welche Kontexte waren sie eingebunden? In einem engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Wandlungsprozessen sind auch jene Spezialdisziplinen zu sehen, die sich in der Nachkriegszeit neu – oder erneut – herausgebildet haben. Dazu zählen etwa „Psychosomatische Medizin“, Arbeits- und Sozialmedizin, Rehabilitationsmedizin sowie Gerontologie und Geriatrie, die in ihrer Auswirkung auf das Selbstverständnis und die Selbstdeutung der deutschen Nachkriegsgesellschaft untersucht werden können.
3) Sinnstiftung und Stabilisierung: Therapeutische Kulturen
In der Medizingeschichtsschreibung gelten die 1950er und 1960er Jahre häufig als eine Phase intensiver naturwissenschaftlicher Forschung und neuer therapeutischer Errungenschaften. Historisch-anthropologische und kulturgeschichtliche Herangehensweisen können dieses Bild erweitern: Die Katastrophe des Krieges sowie die daraus resultierende emotionale und psychische Labilität erzeugten in der Nachkriegszeit Sinndefizite und Bedürfnisse der Heilssuche, die sich zwischen medizinischen, religiösen und magischen Vorstellungen konstituierten. Die therapeutischen Kulturen der 1950er und frühen 1960er Jahre zeigen solcherart eine überraschende Vielfalt und changieren von religiös motivierter Sinn- und Heilssuche (Bruno Gröning) bis hin zu „biologischen“ Therapien (Zellulartherapie von Paul Niehans), die von starkem öffentlichem Interesse begleitet waren. In diesem Zusammenhang wäre auch an mediale Konstruktionen „therapeutischer Landschaften“ zu denken (etwa im Heimatfilm), die sich u.a. ebenfalls im Hinblick auf die mentale Stabilisierung der Nachkriegsgesellschaft deuten lassen.
4) Medizin und „modernes Leben“: Zivilisationskritik im „Wirtschaftswunder“
Um das Jahr 1950 zeichneten sich neue gesellschaftliche Herausforderungen und gesundheitliche Risiken ab. Arbeitsmedizin und Psychiatrie sahen sich in der Verantwortung, die rasante wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung zu begleiten sowie auf deren potentielle Gefahren hinzuweisen. Neue Begriffe/Konzepte wie „Managerkrankheit“ und „Stress“ versuchten die neuartige soziale Realität der 1950er Jahre abzubilden. Diese Konzepte waren einerseits noch im Forschungskontext der Weimarer Republik verwurzelt und ermöglichten gleichzeitig einen Anschluss an internationale Diskussionen. In den Blick geraten solcherart erneute Diskurse um „moderne Krankheiten“, die mit einer übermäßigen Abnutzung des Körpers in der enthusiastischen Phase des Wiederaufbaus, mit einer ungebremsten „Amerikanisierung“ des Lebens, mit Massengesellschaft, Motorisierung und Arbeitsüberlastung in Verbindung gebracht wurden. Wie verhalten sich diese Diskurse im Vergleich zu den Debatten um die „wachsende Nervosität“ im Deutschen Kaiserreich sowie um die „Zivilisationsschäden“ im Nationalsozialismus? Welche Kontinuitäten, aber auch welche neuen für die 1950er Jahre charakteristischen Besonderheiten werden sichtbar?
5) Medienkultureller Wandel und Gesundheitstechniken des Selbst
Die 1950er Jahre und die 1960er Jahre bringen hinsichtlich der Medialisierung und Popularisierung der Medizin einen erneuten Schub; dieser kann wiederum auf seinen Bezug zu Weimarer und nationalsozialistischen Vorläufern sowie zu zeitspezifischen medialen Neuerungen (Film, Fernsehen) analysiert werden. Weiterhin ist zu fragen, auf welche Art und Weise medizinisches Wissen Eingang in populäre Zeitschriften wie Hör zu!, Brigitte, BRAVO etc. fand. Welche Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit, Körper und Geschlecht wurden medial repräsentiert – und beeinflussten solcherart die Art und Weise, wie Menschen in der Nachkriegszeit sich und ihren Körper wahrnahmen und deuteten? In diesem Zusammenhang bietet sich die Analyse und Diskussion von gesundheitlichen Selbsttechnologien an. Gemeint ist damit die durch Magazine und Ratgeberliteratur angeleitete Verlagerung der Verantwortung für Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit auf das individuelle Subjekt. Mit diesem Forschungsansatz könnte das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Dynamiken, medizinischer Wissensproduktion, medialen Vermittlungsstrategien und individuellen Bedürfnissen bzw. Handlungen deutlich gemacht werden, etwa am Beispiel Automedikation, Sexualaufklärung oder „Wellness“ (ein Neologismus der 1950er Jahre).
6) Körper und Krankheitserleben: Patienten- und erfahrungsgeschichtliche Perspektiven
Die 1950er Jahre fordern nicht zuletzt zu einer Erforschung von konkreten lebensweltlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Gesundheit und Krankheit heraus. Was heißt es, eine Patienten- und Erfahrungsgeschichte der Nachkriegszeit zu schreiben? Wie nahmen Menschen in einem Zeitraum, der gleichermaßen von Kriegsfolgen und Neuaufbruch gekennzeichnet war, sich und ihren Körper wahr? Wie beschrieben, erzählten und deuteten Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, Männer, Frauen, jugendliche oder alte Menschen ihre Leidenserfahrungen und Krankheiten? Zu denken wäre hier etwa an die durch Krieg und Diktatur hervorgerufenen Verlust- und Schreckenserlebnisse, an den Zusammenhang von Krankheitserfahrung und (Selbst)Viktimisierung, aber auch an jene Krankheitserfahrungen, die, mit der „neuen Zeit“ in Verbindung gebracht, geschlechtsspezifisch gedeutet wurden. Patientengeschichtliche Perspektiven könnten weiterhin im Zusammenhang mit Gesundheitsinitiativen „von unten“ (wie etwa Patientenpetitionen und Selbsthilfegruppen) thematisiert werden.
Ziel
Die Geschichte medizinischer Kulturen in der Bundesrepublik Deutschland ist bislang noch nicht geschrieben, aber bereits die Übersicht über die hier skizzierten Themen zeigt, wie stark medizinische Deutungsmuster und Praktiken in die westdeutsche Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre hineinwirkten – und wie umgekehrt in diesem Zeitraum politische, ökonomische und soziale Wandlungsprozesse die Medizin beeinflussten. Die Tagung eröffnet die Möglichkeit, diesen wechselseitigen Prozessen nachzugehen und solcherart neue Sichtweisen auf die Geschichte der Medizin und der jungen Bundesrepublik Deutschland zu eröffnen und zu erproben. Darüber hinaus lassen sich auch die gemeinsamen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen von Medizingeschichte und Zeitgeschichte präzisieren: Die Tagung möchte zum einen deutlich machen, dass die Medizingeschichte durch die Beschäftigung mit zeithistorischen Forschungsergebnissen an Tiefenschärfe und Anschlussfähigkeit gewinnen kann; zum anderen kann für die Zeitgeschichte sichtbar werden, wie stark die Medizin die Geschichte der Bundesrepublik mit geprägt hat – etwa dadurch, dass sie sich als Arena der „Westernisierung“ beziehungsweise der Auseinandersetzung mit der Moderne (in zustimmender oder abwehrender Weise) zeigte. Von den Ergebnissen der Tagung erwarten wir nicht zuletzt neue Erkenntnisse in Bezug auf die aktuell in der historischen Forschung intensiv diskutierte Frage, welche Zäsuren und Konjunkturen in der Geschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland beizubehalten – und welche stärker zu problematisieren sind.
Die Tagung richtet sich an Wissenschaftler/innen aus dem In- und Ausland, die sich in ihren aktuellen Projekten mit einem der oben skizzierten Themenbereiche beschäftigen. Als Tagungssprache ist Deutsch vorgesehen. Vorträge in Englisch sind willkommen. Ausgewählte Vorträge der Tagung sollen unter Berücksichtigung der Diskussionsergebnisse in einem Sammelband publiziert werden. Geplant ist, in einem weiteren Schritt die Perspektive auf Ostdeutschland zu erweitern und mit einem vergleichenden Forschungsansatz zu verbinden.
CALL FOR PAPERS
Interessierte Referentinnen und Referenten bitten wir, bis 31. Januar 2008 ihren Vortragsvorschlag (max. eine Seite; Beiträge auf der Tagung: 20 Minuten) zusammen mit einem kurzen Lebenslauf an folgende E-Mail-Adresse zu senden:
hans-georg.hofer@ukb.uni-bonn.de. Der Vortragsvorschlag sollte Name, Position, E-Mail-Adresse, Vortragstitel sowie einen kurzen Überblick über Problemstellung und Argumentationsgang des geplanten Vortrags enthalten. Als Tagungstermin ist 9. bis 11. Juli 2008 vorgesehen, als Tagungsort Bonn. Die Finanzierung der Tagung (Reisekosten, Unterbringung) wird beantragt.