Von den europäischen Adelslandschaften sind jene in Mittel- und Osteuropa im Zeitalter der Extreme (E. J. Hobsbawm) sicher mit am tiefgreifendsten transformiert worden. Anders als Süddeutschland oder die westlichen Kerngebiete des Habsburgerreichs, anders als Schweden, England oder die Niederlande, galten sie spätestens mit der Flucht und Vertreibung vieler alter Eliten als eine adelsgeschichtliche tabula rasa. Adelsforschung, so der lange Zeit implizit vorherrschende Gedanke, habe spätestens in der Vertreibung oder Flucht der traditionellen Eliten 1945 ein Ende gefunden.
Mit der Öffnung der historischen Adelsforschung für neue Themengebiete und Zugänge, seien sie sozialgeschichtlich oder kulturwissenschaftlich-anthropologisch, wird es nun möglich, auch die Beziehung zwischen dem Raum und einer sich primär durch einen Raumbezug definierenden Elite unter dem radikalen Wandel des 20. Jahrhunderts neu zu verstehen. Das Thema des schlesischen Adels ist dabei wie kaum ein anderes geeignet, in einem deutsch-polnischen Bezugsfeld die sozialen und kulturellen Umschichtungen der Moderne sichtbar werden zu lassen.
Da die Geschichte des schlesischen Adels im 20. Jahrhundert bislang noch kaum erforscht wurde, ist die Tagung vor allem als Workshop angelegt, der sowohl eine Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung leisten, als auch Desiderate und zukünftige Forschungsfelder benennen soll. Dabei wird die enge Zusammenarbeit mit Nachbardisziplinen wie der Literaturwissenschaft, Volkskunde und Kunstgeschichte gesucht.
Der Workshop soll einerseits die Verbindung der Adelsgeschichte mit den sozial-, politik-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen in der Moderne herstellen und andererseits nach spezifischen Dimensionen von Adeligkeit wie Standesbewusstsein, Selbststilisierung , Distinktionsformen oder Gedächtnis fragen. Willkommen sind dabei nicht nur Beiträge zu Schlesien im engeren Sinn, sondern auch Vergleichsperspektiven zu den anderen Adelslandschaften Mittel- und Osteuropas.
Angedacht sind derzeit fünf Themenfelder.
Erstens soll nach der Krisenerfahrung und politischen Radikalisierung des schlesischen Adels zwischen dem Ende des Kaiserreichs und dem Nationalsozialismus gefragt werden. Zusätzlich zum strukturellen Wandel, von dem Adelige allgemein betroffen waren, kam hier in Schlesien beispielsweise, mit der Aufteilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen noch eine besondere nationale Komponente hinzu, da aus einem Teil des vormals deutschen Adels nun polnische Bürger wurden oder sich ihr Besitz auf zwei Nationalstaaten verteilte.
Zweitens ist die Frage nach der Rolle des Adels in den Diktaturen für Schlesien bislang nur ungenügend erforscht. Anpassung und Widerstand des schlesischen Adels im Nationalsozialismus sind mit Ausnahme des Kreisauer Kreises noch kaum thematisiert worden. Dazu sollten die von der Forschung für die übrigen Teile Deutschlands herausgearbeiteten Befunde mit der besonderen Situation Schlesiens als eines national nicht eindeutigen und religiös heterogenen Raumes in Verbindung gesetzt werden. Neben dem Verhältnis des Adels zum Nationalsozialismus soll auch die Situation der wenigen nach 1945 in der radikal „entadelten“ kommunistischen Gesellschaft verbliebenen Adeligen thematisiert werden.
Adeliges Wirtschaften bildet einen jungen Schwerpunkt der neuen Adelsforschung. Während die Rolle des Adels in der Industrie für viele andere Territorien erst jetzt untersucht wird, kann Schlesien auf eine relativ lange Forschungstradition zur Gruppe der so genannten „schlesischen Magnaten“ zurückblicken. Wünschenswert ist hier eine dreifache Ausweitung der Perspektive, zum einen weg von der bislang primär untersuchten Früh- und Hochindustrialisierung ins 20. Jahrhundert, zum anderen weg vom kleinen Kreis der Magnatenfamilien hin zu einer Geschichte auch anderer adeliger Familien und ihrer Unternehmen und schließlich noch hin zum Einschluss der Agrarindustrie mit der für Schlesien so bedeutenden Forstwirtschaft.
Ebenfalls kaum untersucht sind Rolle und Verhalten des Adels in der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts. Dazu gehört vor allem der Wandel der Sozialformation selbst, etwa der Umgang mit zunehmender Individualisierung, der veränderten Rolle der Frau und der sich wandelnden Einstellung zur Familie, Zukunftserwartungen, aber auch Prozesse der inneradeligen Differenzierung. Besonderen Gewinn verspricht hier die Aufweichung von festen epochalen Zuordnungen, die durch die klassischen politik- und sozialgeschichtlichen Zäsuren von 1918 und 1945 geprägt sind.
Mit den Schlagworten „Adel ohne Land – Land ohne Adel“ sei schließlich eine fünfte Dimension umrissen, die sich gleichermaßen mit der Rolle des geflohenen bzw. vertriebenen Adels in der Bundesrepublik, der mehr als seine westlichen Standesgenossen vor allem als „Erinnerungsgruppe“ existierte, seinen Beziehungen zur alten Heimat und dem Umgang mit dem adeligen Erbe Schlesiens in der Volksrepublik Polen befassen soll. Denkbar ist hier beispielsweise eine Analyse der Rolle des Adels im kommunistischen Diskurs (etwa im Kontext des Mythos der wiedergewonnenen Gebiete) sowie des Umgangs mit Schlössern, Parks und Archiven des schlesischen Adels, wobei die symbolische Umdeutung dieser vom Adel geprägten Orte als Erinnerungspolitik analysiert werden kann.
Die Veranstalter sind auch offen für Beiträge, die sich keinem der genannten Bereiche zuordnen lassen.
Tagungssprachen sind Deutsch oder Englisch.
Interessierte Forscherinnen und Forscher werden gebeten, bis zum 8. November 2009 per E-Mail Abstracts von bis zu maximal zwei Seiten an simon.donig@uni-passau.de oder thomas.wuensch@uni-passau.de zu senden.