Call for Papers
Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei: Sport unter Diktaturen (1938-1989)
Termin: 9.-11. April 2010
Sport als individualisierter Wettkampf vor einem Massenpublikum und unter zunehmender medialer Beobachtung wurde zu einem Element der modernen Leistungsgesellschaft des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt – auch bedingt durch nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte soziale Errungenschaften wie dem Acht-Stunden-Tag – eine rasant zunehmende Zahl aktiver Sportler. Dieser ‚moderne‘ Sport konkurrierte damit seit der Jahrhundertwende von 1900 zunehmend mit dem Turnen, das im 19. Jahrhundert als kollektive Form der Körperbildung konstitutiv Nationsbildungsprozesse unterstützte. Das Verhältnis zwischen beiden Bewegungen und ihre jeweilige Bedeutung im Kontext einer multiethnischen Vergesellschaftung des Staates bzw. im Rahmen von auf gesellschaftliche Totalität ausgerichteten ideologischen Systemen sind bislang noch nicht hinreichend untersucht.
Die Historische Kommission für die böhmischen Länder e.V. befasst sich daher in den Jahren 2009/10 in einer Doppeltagung mit dem Thema „Sport und Gesellschaft“ am Beispiel der böhmischen Länder bzw. der Tschechoslowakei. Dabei wurden in einem ersten Themenkreis im Jahr 2009 der Aspekt „Sport in einer
multiethnischen Gesellschaft (bis 1938/39)“ behandelt (vgl. den Tagungsbericht: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2674>), im Jahr 2010 geht es nun um „Sport unter Diktaturen (1938-1989)“. Der Begriff des ‚Sports‘ wird dabei möglichst breit gefasst, so dass neben dem Turnen „englische“ Mannschafts- und Einzelsportarten ebenso wie „Leibesübungen“, Breiten- oder Leistungssport, aktiv betriebener oder Zuschauersport einbezogen werden kann. Der regionale Bezug auf die böhmischen Länder und die Slowakei bzw. auf die Tschechoslowakei wird fallweise durch komparative Betrachtungen zu Nachbarregionen erweitert.
In der multiethnischen Gesellschaft der Ersten Tschechoslowakischen Republik hatte man trotz diversen Spannungen einen Modus vivendi gefunden, der die Koexistenz und teilweise auch Kooperation der verschiedenen nach ethnischen Kriterien formierten Sportverbände ermöglichte. Mit den Ereignissen der Jahre 1938/39 änderte sich dies massiv, auch wenn der organisierte Sport im ‚Protektorat‘ als Freizeit- und Zuschauervergnügen im Konzept der Machthaber Normalität vorstellen sollte. Beim Neuaufbau der wieder errichteten Republik nach 1945 wurde der Sport als wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens proklamiert, umso mehr als nach dem dreijährigen Intermezzo der Dritten Republik die Kommunisten an die Macht gelangten. Sie führten auch im Sport einen grundlegenden Umbau durch, der einerseits Strukturen und Organisationen (wie den Sokol und den katholischen Turnverband Orel oder ‚bürgerliche‘ Fußballvereine) gleichschaltete bzw. zerschlug, anderseits Traditionen (wie die des Sokol ) aufzugreifen behauptete. In den folgenden vierzig Jahren diente der Sport sowohl als Bestandteil der staatssozialistischen Selbstdarstellung (Friedensfahrt, internationale Eishockey-Tourniere) als auch als Fluchtperspektive aus einem oft als eintönig wahrgenommenen Alltag.
Mögliche Themenkreise der Tagung sind: Die Umstrukturierung der bestehenden Sportverbände und Organisationen in den Diktaturen des Nationalsozialismus und Kommunismus; die Nutzbarmachung des Sports und der Sportler durch die totalitären Systeme zu Propagandazwecken im In- und Ausland; die Demonstration von Stärke und Leistungsfähigkeit der herrschenden Systeme bei groß angelegten Veranstaltungen (Olympische Spiele, Spartakiaden etc.); die Widerstandstätigkeit von Sportlern und Sportorganisationen gegen die herrschenden totalitären Systeme; die Rolle des Sports als Ablenkung und Massenvergnügen in Krisen- und Kriegszeiten; das Verhältnis übernationaler Sportverbände und ihrer nationalen Gliederungen (etwa der Nationalen Olympischen Komitees) zu den herrschenden totalitären Systemen; die Frage von Professionalismus und (Staats-) Amateurismus; die Bedeutung des Breitensports und von Sportlern als Idolen unter den Diktaturen; Sport als Mittel der Erziehung und Beeinflussung der Jugend; Sport und Kunst (einschließlich der Architektur) bzw. Publizistik.
Das Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei (sowohl unter der NS-Herrschaft in den ‚Anschlussgebieten‘ des Jahres 1938 und im ‚Protektorat‘ wie auch unter dem Kommunismus) soll im Mittelpunkt der Tagung stehen. Vorträge und Überlegungen zur Rolle des Sports in benachbarten Gebieten (neben dem Dritten Reich und den Ostblockstaaten unter Umständen auch der österreichische Ständestaat und das faschistische Italien) sind aber willkommen.
Potenzielle Referierende und Interessierte wenden sich bitte bis 15. Januar 2010 an den Organisator der Tagungen, Dr. Stefan Zwicker (SFzwicker@gmx.de), oder an den Obmann der Historischen Kommission für die böhmischen Länder, Dr. Robert Luft (robert.luft@gmx.de). Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch
Eine Veröffentlichung der Beiträge beider Konferenzen und evtl. weiterer Aufsätze zur Thematik in der Reihe der Historischen Kommission ist geplant. Die Tagung steht in einem Zusammenhang mit sporthistorischen Forschungsvorhaben der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
München und Bonn, im November 2009