Galizien. Peripherie der Moderne - Moderne der Peripherie

Galizien. Peripherie der Moderne - Moderne der Peripherie

Veranstalter
Doktoratskolleg "Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe", Universität Wien
Veranstaltungsort
Aula am Campus der Universität Wien, Spitalgasse 2, Hof 1.11, 1090 Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
09.11.2011 - 11.11.2011
Von
Doktoratskolleg "Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe"

Seit in den 1980er Jahren das Zeitalter der Postmoderne eingeläutet wurde, wird zunehmend der Blick frei auf das Zeitalter der Moderne in seiner Besonderheit und Begrenztheit. Rückblickend wird erkennbar, dass gerade jene Zeiten Hochzeiten des Diskurses um die Moderne waren, in denen die Moderne selbst fragwürdig wurde.

Die Konferenz möchte sich dem Zeitalter der Moderne nicht von ihren vermeintlichen Hochburgen, den urbanen Zentren Westeuropas aus annähern, sondern von der „galizischen Peripherie“.

Galizien wurde seit seiner Annexion 1772 stets als „Problemprovinz“, als rückständigstes Gebiet der Donaumonarchie wahrgenommen und diente als Experimentierfeld für die von Fortschrittsoptimismus getragenen josephinischen Reformen des späten 18. Jahrhunderts. Zum anderen finden im 19. Jahrhundert im peripheren Galizien gerade die Bewegungen von Nationalisierung und Industrialisierung, welche gemeinhin als kennzeichnend für die Epoche der Moderne gelten, ihre besondere Ausprägung, die von der Pluralität der sozialen, religiösen und ethnischen Lebenswelten dieser Region gekennzeichnet ist.

Die Debatten um die Moderne waren geprägt von einem Gestus der kritischen Distanzierung; Moderne schließt stets auch die reflexive Kritik dieser Moderne ein. Insofern halten wir diesen Blick von der Peripherie – aber auch die Nachzeichnung des Blickes vom Zentrum auf die Peripherie – für erkenntnisreich. Mit der Moderne entwickelt sich auch jenes Geschichtsverständnis, das den linearen Fortschritt zu ihrem Grundmodell macht, und es in Folge erlaubt, verschiedene geopolitische Räume entlang dieser Linie, also gemessen an ihrem Abstand zum modernen Zentrum zu positionieren. Das ehemalige „Königreich Galizien und Lodomerien“ als östlichste Provinz des Habsburgerreiches in seiner Grenzlage zum Russischen Reich kann in diesem Zusammenhang als paradigmatisch für die Verfasstheit der Peripherie stehen.

Als interdisziplinäres Kolleg nähern wir uns dem Komplex Galizien/Moderne aus unterschiedlichen Richtungen an. So werden die Region Galizien und die Wechselbeziehungen zwischen Provinz und Herrschaftszentrum aus politikgeschichtlicher Perspektive beleuchtet, wobei hier die Nationalisierungsprozesse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Darüber hinaus zeigen literaturgeschichtliche Analysen die unterschiedlichen Bewertungen der Region auf – die Spanne erstreckt sich von der aufklärerischen Kritik an der abergläubischen Bevölkerung „Halbasiens“ (Franzos) bis hin zu Galizien als Ausgangspunkt für Modernekritik, die den ‚vitalen, slawischen Osten‘ (Sacher-Masoch) einem ‚ermüdeten Westen‘ gegenüberstellt. Aus wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel wird der Diskurs um die Dichotomie modern/rückständig innerhalb der Historikerzunft Galiziens untersucht. L'viv/Lemberg als moderne Metropole steht im Mittelpunkt von stadt- und mediengeschichtlichen Untersuchungen. Die Innovationen der ästhetischen Moderne finden ihren Ausdruck sowohl in der urbanen Architektur Lembergs als auch auf den Bühnen Westgaliziens. Die schulischen wie militärische Einrichtungen werden zum einen als wesentliche Gegenstände von Reformen zum anderen auch in ihrer Funktion als moderne Disziplinierungseinrichtungen analysiert. Abschließend widmen wir uns dem gegenwärtigen ‚Erbe‘ der multiethnischen Region Galizien sowie der Frage, inwiefern dieses als ein Ansatzpunkt für eine kritische Hinterfragung hartnäckiger moderner Narrative dienen kann. Durch diese unterschiedlichen Zugänge möchten wir einen vielfältigen Eindruck der vielfältigen Region Galizien herstellen, in dem das abstrakte Schlagwort der widersprüchlichen Moderne an Fassbarkeit gewinnt.

Eine Veranstaltung des vom FWF geförderten Doktoratskollegs „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“, mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.

Programm

Mittwoch, 9.11.

15.00 - 16.30
Begrüßung: Alois Woldan

Einleitungsvortrag: Moritz Csáky: Moderne und ihre Peripherien

16.30 – 18.30 Panel I „Geokulturelle Verortungen von Modernität – in Historiographie, Literatur und Kriegsberichterstattung
Moderation: Andreas Kappeler

Burkhard Wöller: Modernisierung = Europäisierung? „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ als diskursive Strategien galizischer Historiker

Stephanie Weismann: Leopold von Sacher‐Masochs „Poesie des Ostens“ – ein Bedürfnis der Moderne

Elisabeth Haid: Galizien: Östliche Peripherie oder Bollwerk des Westens? Darstellungen von Rückständigkeit und Modernität im Ersten Weltkrieg

Kommentar: Anna Veronika Wendland (Jena)

19.00 Buchpräsentation: Börries Kuzmany: „Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert“

Im Anschluss: Wein und Brötchen

Donnerstag, 10. 11.

9.30 – 11.00 Panel II „Modernität und Traditionalismus. Wechselnde literarische Grenzziehungen“
Moderation: Marianne Windsperger

Katharina Krcal: Bajazzo. Randgestalt zwischen jüdischer Moderne und traditioneller Orthodoxie

Lyubomyr Borakovskyy: Konservativ vs. modern: Die Darstellung interreligiöser Konflikte in der Literatur Galiziens

Kommentar: Annette Werberger (Tübingen)

11.00 – 11.30 Kaffeepause

11.30 – 13.00 Panel III „Neue Chancen durch Militär und Schule“
Moderation: Burkhard Wöller

Serhiy Choliy (Kyjiv): The Modernization of the Armed Forces – A Chance for the Galician Population? The Personal Development of the Recruits, 1868-1914

Serhij Lukanjuk (Černivci): Schule und Kirche . Säulen zur Identitätseinhaltung der Galiziendeutschen in der k. u. k. Monarchie

Kommentar: Thomas Wünsch (Passau)

13.00 – 15.00 Mittagessen

15.00 – 17.00 Panel IV „Metropole: Gesellschaft, Architektur und Theater im Wandel“
Moderation: Börries Kuzmany

Lesya Ivasyuk: Die Stadt und die Revolution. Darstellungen Lembergs im Rahmen der polnischen Revolution 1846 in Leopold von Sacher-Masochs „Polnische Revolutionen. Erinnerungen aus Galizien“. Eine historisch-literarische Fallstudie

Nadja Weck: Jugendstil: Bahnhof als Bühne. Die Eröffnung des neuen Lemberger Bahnhofs im Jahr 1904

Anna Hohmann: Helena Modjeska – eine Schauspielerin im Zeichen der Moderne

Kommentar: Alfred Sproede (Münster)

19.30 Abendveranstaltung: „Der Pojaz oder Lessings Nathan buchstabieren“ Rezitationsabend mit Musik: Oskar Ansull mit dem Klarinettisten Theo Jörgensmann

Freitag, 11. 11.

9.30 – 12.00 Panel V „Moderne politische Konzepte“
Moderation: Harald Binder (L´viv)

Juliette Désveaux (Paris): Die polnischen politischen Akteure in der Habsburgermonarchie – moderne Konservative?

Anna Kračkovs’ka: Imagining Jewry: Peasant and Intellectual Discourse on Eastern Galician Jews in the Late 19th – Early 20th Century.

Börries Kuzmany: Der Galizische Ausgleich als Beispiel moderner Nationalitätenpolitik

Kommentar: Pieter Judson (Swarthmore College, USA)

12.00 – 13.30 Mittagessen

13.30 – 15.00 Panel VI „POST-Galicia: Das Erbe der Moderne in identitätsstiftenden Projekten und literarischen Darstellungen“
Moderation: Katharina Krčal

Anna Susak (Warschau/Lviv): Galicia in New Millennium: Debates on (Post)Modern Identity Projects in Poland and Ukraine

Marianne Windsperger: Das jiddische Galizien: Literarische Auseinandersetzungen mit Schtetl und Migration in den Werken von Dara Horn und Rebecca Goldstein

Kommentar: Jurko Prochasko (L´viv)

15.00 Abschlussdiskussion

Kontakt

Ljiljana Radonic

Doktoratskolleg Galizien, Spitalgasse 2, Hof 1.11., 1090 Wien
+43/1/4277-41120

ljiljana.radonic@univie.ac.at

http://dk-galizien.univie.ac.at