Mit der Tagung „Religion und Wirtschaftsethik. Konfessionelle Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert“ will das Teilprojekt G des Sonderforschungsbereiches 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der Rezeption, Inszenierung und Instrumentalisierung des Religiösen im 19. und 20. Jahrhundert nachgehen, wobei der Einfluss von Religion und Religiosität auf die wirtschaftsethischen Vorstellungen wie auch das ökonomische Handeln von Individuen und Gruppen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dabei soll dieser Einfluss einerseits auf die darin enthaltenen Gemeinsinnsvorstellungen hin befragt, andererseits sollen spezifische konfessionskulturelle Prägungen herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt bildet dabei das frühe 19. Jahrhundert, in dem Wirtschaft und Gesellschaft erheblich in Bewegung gerieten: Die Industrialisierung veränderte, wenn auch nicht sprunghaft wie eine Revolution, langfristig die Erwerbs- und Bevölkerungsstrukturen. Und sie führte zu sozialen Verwerfungen, auf die etwa im mitteldeutschen Raum oder im Ruhrgebiet frühzeitig wirtschaftliche Antworten gesucht wurden: Christliche Unternehmens- und Wirtschaftskonzepte oder das bürgerliche, nicht minder religiös imprägnierte Genossenschaftswesen können als Phänomene benannt werden, die das 19. Jahrhundert überdauerten und bis in die Gegenwart wirken. Nahezu im Gleichtakt mit den Reaktionen im wirtschaftlichen Bereich begann auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Verantwortung und nicht zuletzt Steuerung der sozialen Folgen der Industrialisierung, die mit der Diakonie oder der Caritas konfessionell angebundene Institutionen ausbildete, die in Waisenhäusern, Spitälern oder Rettungshäusern erzieherisch auf die Gesellschaft wirken sollten. Gleichzeitig ist bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum keineswegs von konfessionell homogenen Landschaften auszugehen. Vielmehr deutet sich mit Pietismus und Erweckungsbewegung bereits in der Spätaufklärung ein neues Verhältnis zur Spiritualität an, das an der Wende zum 20. Jahrhundert ‚jenseits der Kirchen‘ ein überaus diverses Feld religiöser und philosophischer Transzendenz- wie auch Gemeinsinnskonzepte anbot.
Ausgehend von diesem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext soll die Tagung des Teilprojektes G im Sonderforschungsbereiches 804 den geistesgeschichtlichen Grundlagen, den aus ihnen begründeten bzw. begründbaren ökonomischen Praxen wie auch den langfristigen Wirkungen des Verhältnisses von Religion und Wirtschaftsethik nachgehen, wobei sich drei inhaltliche Schwerpunkte ausbilden:
1) Sozialer Protestantismus und katholischer Gemeinsinn im wirtschaftlichen Handeln
Die aktuell vorliegenden, vornehmlich aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte stammenden Befunde legen die Vermutung nahe, dass im 19. Jahrhundert die Kohärenz von Religion und unternehmerischem bzw. genossenschaftlichem Handeln in protestantischen Regionen stärker ausgeprägt war. Gleichzeitig fehlt es aber auch nicht an katholischen Beispielen im deutschsprachigen Raum. Wie allerdings gestaltete sich das Verhältnis von Unternehmensführung und religiöser Vorstellungswelt? Wurde letztere zur Strukturierung von Betriebsabläufen genutzt bzw. floss sie in innerbetriebliche Identifikationsmuster ein? Wie erfolgte die Kommunikation in die Betriebe und mit welchem Erfolg? Welchen Stellenwert hatte dabei die Gemeinsinnskonzeptionen in Unternehmen und Genossenschaften?
2) Religion und Gesellschaft – protestantische und katholische Nächstenliebe
Gleich der Wirtschaft entwickelten sich auch im sozialen Bereich lokale und überregionale Initiativen, deren Ideengeber zumeist Geistliche waren. Neben der in der Diktion des Bürgertums stehenden ‚Hebung‘ der im Zuge der Industrialisierung ‚Gefallenen‘ lassen sich bei diesen Einrichtungen aber ebenso religiöse Bildung und Vermittlung wie auch ökonomische Vorstellungen von Teilhabe an und Beitrag für die Gesellschaft ausmachen. Doch welche Gemeinsinnsvorstellungen waren mit diesen Organisationen und Institutionen verbunden, wo waren Grenzen der Gemeinschaft abgesteckt? Von welchen wirtschaftlichen, wirtschaftsethischen und wirtschaftspolitischen Prämissen gingen die Protagonisten dabei aus?
3) Jenseits der Kirchen: Kulturtransfers und neue religiöse Bewegungen
Weder im 19. noch im 20. Jahrhundert war der Zusammenhang von religiöser Prägung und wirtschaftlichem Handel ein Phänomen nur der christlichen Konfessionen, auch war er nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Schließlich erfuhren spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade freireligiöse Gruppen, aber auch dezidiert nicht-christlich, naturreligiös und philosophisch orientierte Bewegungen (Buddhismus, Monismus, Anthroposophie) erheblichen Zuspruch. Wie allerdings, so ist auch hier zu fragen, war deren Gemeinsinn determiniert und welche wirtschaftlichen Dimensionen wohnten ihnen inne? Entflohen diese ‚neuen‘ Ansätze in ein spirituelles Refugium oder operierten sie mit den realsozialen bzw. -wirtschaftlichen Verhältnissen? Prägten sich hier, gleich den Ansätzen der christlichen Unternehmer und Genossenschafter des frühen 19. Jahrhunderts, eigene ökonomische Praxen und eigene Gemeinsinnsvorstellungen aus?
Die Tagung findet am 4. und 5. Oktober 2012 in Dresden statt, Interessentinnen und Interessenten schicken bitte bis zum 15. Dezember 2011 einen Abstrakt (max. 500 Wörter) und einen kurzen Lebenslauf an Swen.Steinberg@tu-dresden.de